Zeitenspiegel Reportagen

Die Rede zur Preisverleihung

16.05.2008

Frank A. Meyer, Ringier-Verlag, hielt die Festrede zur 10. Verleihung des Hansel-Mieth-Preises im Fellbacher Rathaus am 8. Mai 2008

Sehr verehrte Damen und Herren,

ich bin sehr gerne zu Ihnen gekommen. Und zwar aus drei Gründen:
Erstens mache ich immer alles, was Heiko Gebhardt sagt.
Zweitens habe ich viel Gutes über das Engagement gehört, das Ihren Preis auszeichnet.
Drittens – und vor allem! – zeichnen Sie heute eine Reporatge aus, mit der es folgende Bewandtnis hat: Es gingen zwei Menschen zu anderen Menschen und beschrieben und fotografierten ihr Leben, das kein Leben ist und erzählten ihr Leiden und ihr Sterben.

Diese zwei Menschen, die uns mit ihrem Text und ihren Bildern vor Augen führen, was es heißt, einem totalitären System ausgeliefert zu sein, in diesem totalitären System dem entfesselten Kapitalismus ausgeliefert zu sein – diese zwei Menschen sind Journalisten.

Sie haben getan, was wir in unserem Beruf eigentlich immer tun müssten: zu den Menschen gehen. Wenn ich sage: “Was wir eigentlich immer tun müßten”, dann meine ich damit: es ist nicht mehr selbstverständlich, dass wir Journalisten zu den Menschen gehen.

Ich weiß, das ist eine irritierende Behauptung in einer Welt, die man ohne jede UEbertreibung als Welt der Medien bezeichnen kann. Kaum etwas wird dem Begriff Globalisierung gerechter als unser weltumspannendes Netz der Medien, das keine Lücke lässt, das nicht eine einzige Sekunde außer Betrieb ist. Rund um den Globus und rund um die Uhr sind wir aktiv, wenden wir unser Handwerk an. Könnte der Äther verstopft sein, es wären unsere Wörter und Bilder, die ihn verstopfen – wie eine gewaltige Mülldeponie.

Wir weben an einem Netz, in dem sich Menschen aller Kontinente, aller Kulturen und aller Schichten verfangen von früh bis spät: Vom Moment des Erwachens, wenn sie den Laptop anwerfen, Radio und Fernsehen einschalten, zur Zeitung greifen, bis spät in die Nacht, wenn sie vor dem Fernseher einschlafen oder einen letzten Blick auf den Computer-Bildschirm werfen.

Nicht einmal im Traum ist man wirklich frei von uns.

Wir bedrängen die Menschen. Wir belästigen sie, wir sind zudringlich über jede Schamgrenze hinaus. Denn wir wollen die Menschen fesseln: als Zuschauer, als Zuhörer, als Leser. Fesselnd sollen unsere Produkte sein. Denn das ist unser Ehrgeiz im Wettbewerb des Mediengeschäfts. Bedeutet aber Fesseln nicht auch Unfreiheit der Gefesselten?

Bin ich Ihnen da zu heftig? Hantiere ich mit allzu heftigen Begriffen? Fesseln? Unfreiheit? Ich könnte ein weiteres heftiges Wort hinzufügen. Unsere Medienwelt ist total vernetzt – ist nicht dem Wort “total” das Wort “totalitär” verwandt? Trägt also die Medienwelt, in der wir ja als maßgebliche Akteure wirken, totalitäre Züge?

Ich schrecke zurück vor einer solch bösen Behauptung. Sicher aber ist: Die Medien haben Macht. Große Macht. Für unendlich viele ohnmächtige Menschen – die große Mehrheit – ist diese Macht eine unüberschaubare, undurchschaubare, unheimliche Macht.

Wir Journalistinnen und Journalisten sind die Handwerker dieser welt- und zeitumspannenden Macht. Wir und unsere Medien sind omnipräsent. Auch dieses Wort löst eine böse Assoziation aus: omnipotent, das heißt allmächtig.

Natürlich gibt es noch andere Medien-Machthaber – unheimlichere Machthaber: von Murdoch über Berlusconi bis hin zur kommunistischen Partei Chinas. Doch auch wir Journalisten haben Macht, so viel Macht, wie wir sie in der Geschichte unseres Berufsstandes noch nie hatten.

Nicht nur Handwerker der Macht sind wir, sondern auch Teilhaber der Macht. Wie fühlen wir uns dabei? Ist uns wohl als Teil der Macht? Oder wehren wir uns gegen die Vereinahmung? Fühlen wir uns als Mitherrscher oder stehen wir in kritischer Distanz, in Opposition zur Macht?

Wo stehen wir?

Opposition war einst unsere Rolle, unser Berufsethos, unser Berufsstolz: Nicht teilzuhaben an der Macht, der Macht entgegengesetzt zu sein, sie zu kontrollieren, zu begrenzen und ihr entgegenzutreten – frei zu sein von ihr.

Frei zu sein!

Wenn ich mich heute in Deutschland umsehe, dann habe ich den Eindruck, dass sich da allerhand verändert hat: Ich sehe, zum Beispiel, Medien-Preisverleihungen sonder Zahl, bei denen man im Smoking und im Abendkleid erscheint, über den Roten Teppich schreitet, im Scheinwerferlicht steht. Inszenierungen gesellschaftlicher Macht. Mit Medien-Stars, mit Journalisten-Stars.

Auch sehe ich, zum Beispiel, Talkshows sonder Zahl, von Moderatoren-Stars moderiert, mit Journalisten-Stars als Gästen in tiefen Ledersesseln. Ein Netzwerk medialer Macht, gegründet auf Kumpanei und gegenseitiger Protektion.

Ferner sehe ich zum Beispiel, Moderatoren-Stars wie Kerner und Beckmann und Jauch, die sich für Werbung einkaufen lassen, von einer Fluggesellschaft, von einer Versicherung, von einem Telekommunikations-Konzern.

Schließlich sehe ich, zum Beispiel, wie diese Stars der Medienszene den Journalismus als Geschäft betreiben, mit Produktionsfirma, Management und Millionen-Umsätzen.

Ja, wir gehören jetzt dazu. Bei gesellschaftlichen “Events” sonder Zahl, über die dann wieder glanzvoll berichtet wird, sind unsere Chefredakteure umschwärmte Prominente. Ebenso unsere Chefreporter und Chefkorrespondenten und Chefansager.

Die Medienchefs pflegen vertrauten Umgang mit den Chefs von Politik und Wirtschaft. Sie sind zu Gast in den Sondermaschinen der Minister, der Kanzlerin, der Wirtschaftsführer. Und sie berichten stolz darüber, überbieten einander an Anekdoten, an denen die anderen Chefs sie jovial teilhaben lassen.

Das ist “embedded journalism”, mitten im Frieden, mitten in der Demokratie, meine Damen und Herren! Sind wir dabei, die Seite zu wechseln? Haben wir sie schon gewechselt?!

Kürzlich las ich im “Spiegel” über eine soziale Forderung des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers folgenden Satz: “Er will die Union zum Kachelofen machen, an dem sich die Menschen im kühlen Wind der Globalisierung wärmen können”.

Kann man herablassender schreiben über Menschen, die unter ihrer sozialen und gesellschaftlichen Deklassierung leiden? Man kann. Die “Süddeutsche Zeitung” setzte über einen Artikel zum gleichen Thema den Titel: “Politik für Erna aus Gladbeck”.

Gehört “Erna aus Gladbeck” überhaupt noch in unsere Welt? Oder ist die Medienwelt mit ihrem gleißenden Scheinwerferlicht der wirklichen Welt mit ihren Sozialbauwohnungen völlig entrückt?

Sabine Christiansens Nachfolgerin Anne Will hatte den Einfall, ihre Talkshow am Sonntagabend bürgernäher zu gestalten: Mit einem Menschen aus dem Volk, der nun allerdings nicht in der Diskussionsrunde Platz nehmen durfte, sondern abseits auf einem Sofa zu hocken hatte.

“Erna aus Gladbeck” am Katzentisch. Der Mensch aus dem Volk als possierlicher Affe, dem man dafür, dass er sich vorführen lässt, Zucker gibt.

Ist das eine Metapher für die postmoderne Medienwelt? Wir, die Journalisten, wohlig drinnen in den Runden, die das Geschehen bestimmen? Die einfachen Menschen fröstelnd draußen in der fremdbestimmten Wirklichkeit?

Die Begriffe “drinnen” und “draußen” sind uns geläufig: “Die Menschen draußen im Lande” so lautet – mit kaum verhohlener Selbstüberhöhung – eine geläufige Wendung. Auch “oben” und “unten” gehört wieder zum alltäglichen Wortschatz. Das klingt dann so: “Der Aufschwung ist unten angekommen”.

Sind wir eigentlich noch bei den Menschen? Oder gilt Wallraffs Buchtitel “Ihr da oben – wir da unten” inzwischen auch für uns? “Wir da oben, ihr da unten”?

Ich habe vor bald 20 Jahren ein Fernsehgespräch mit der verstorbenen Philosophin Jeanne Hersch geführt. Sie war eine junge jüdische Studentin, als der von der Nazi-Ideologie verführte Martin Heidegger am 27. Mai 1933 seine berüchtigte Rektoratsrede hielt. Jeanne Hersch saß im Auditorium.

Ich fragte sie: “Gibt es ein Rezept, um als Denker, als Intellektueller, als Journalist nicht der Verführung durch die Macht zu erliegen? Jeanne Herschs Antwort bestand aus einem einzigen Satz: “Denken Sie immer und bei allem, was sie sagen und tun an die Menschen, die davon betroffen sind”.

Denken wir an die Betroffenen, wenn wir von “Ordnungspolitik” schwadronieren, uns also auf die Ebene des Grossen und Ganzen erheben, und von oben herab urteilen über Rentenerhöhung und Mindestlohn?

Wolfgang Bauer und Daniel Rosenthal haben die Sphäre des Grossen und Ganzen durchbrochen, wo sich so schön über die Zwänge der Globalisierung fabulieren lässt. Sie haben uns freie Sicht verschafft auf das ganz konkrete Leben, auf das ganz brutale alltägliche Elend.

Sie haben uns die Nase in den real existierenden Dreck gedrückt.
Aber dazu mussten sie raus. In die Welt. Bis nach China. So weit muss nicht jeder von uns gehen. Es muss nicht immer China sein. Die Welt kann gleich um die Ecke liegen. Sie liegt sogar meistens gleich um die Ecke.

Aber tun wir diesen kleinen großen Schritt? Gehen wir noch auf die Straße, wenn schon nicht um die Ecke? Vor allem unsere jungen Kolleginnen und Kollegen: Gehen die noch um irgendeine Ecke?

Weshalb spreche ich die junge Generation hier ganz besonders an? Weil sie die Generation der Laptop-Journalisten ist. Die Generation, die ein symbiotisch-inniges Verhältnis pflegt zu Google und Wikipedia und Yahoo. Die mit Datenbanken, Suchprogrammen, Online-Recherchen aufgewachsen ist.

Hat ihnen, hat uns die neue Technik auch eine neue Freiheit beschert, macht sie das einst mühselige Recherchieren zur leichten Verrichtung, wie die Geschirrspülmaschine das einst mühselige Geschirrspülen?

Hat der Bildschirm, der uns so sehr in seinen Bann zieht, dass wir nicht einmal mehr den Kollegen am Schreibtisch gegenüber bemerken, hat diese kalte Glasoberfläche uns frei gemacht, zu den Menschen um die Ecke zu gehen, mit Block und Bleistift in die Welt der Wirklichkeit einzutauchen?

Ich habe leider den Eindruck, dass uns die revolutionäre Technik zu Gefangenen gemacht hat. Vor allem die jungen und ganz jungen Journalistinnen und Journalisten, so beobachte ich es jeden Tag, arbeiten, als wären sie an den Laptop gefesselt. Ja, sie leben sogar in ihrer Freizeit so…

Alles und jedes ist über Google und Wikipedia und Yahoo in Sekundenschnelle auf den Bildschirm-Schreibtisch zu zaubern. Die elektronische Verfügbarkeit der Welt verführt zum Nicht-mehr-Rausgehen in diese Welt. Viele von uns haben darüber vergessen, dass der Journalisten-Beruf ein Laufberuf sein müsste. Laufberuf aber heißt: raus gehen, um die Ecke gehen, zu den Menschen gehen.

Wie entstehen heute – oft, allzu oft – journalistische Stücke über Menschen? Aus Quellen, die schon aus Quellen schöpfen, die wiederum das Resultat von Quellen sind. Wobei von Quelle zu Quelle der Informationsfluss immer trüber wird.

Auch was wir schreiben, wurde schon geschrieben, war wiederum Resultat von schon Geschriebenem. Und unsere Urteile über Menschen fällen wir – oft, allzu oft – nach dem gleichen Prinzip: Abgeleitet von einer Kaskade elektronisch archivierter Ondits und Vorurteile und Fehleinschätzungen.

Journalistisches junkfood aus dem World Wide Web ersetzt die Begegnung mit dem Menschen. Die Kaste der Journalisten lebt mehr und mehr vom “copy” und “paste”. Sie kopiert sich fortwährend selbst.

Wir verlernen es dabei, fiebernd vor Spannung hinauszugehen und nachzusehen, bevor wir über etwas schreiben. Vor allem verzichten wir auf das wirkliche Glück des journalistischen Lebens: auf die Begegnung mit anderen Menschen. Ist Menschenferne unser Schicksal? Das Schicksal des postmodernen Journalismus?

Wir werden den Menschen fern, weil wir uns zu den Mächtigen zählen statt zu den Ohnmächtigen, denen wir geben könnten, woran es ihnen mangelt: Sprache und Medien.

Wir werden den Menschen fern, weil uns der Laptop-Bildschirm die Menschen aufs bequemste ersetzt. Weil die virtuelle Leichtigkeit des neuen journalistischen Seins uns der sinnlichen Begegnung mit denen enthebt, über die wir schrieben und urteilen.

Werden wir zu Laptop-Tätern?!

Was aber sollten, könnten, dürften wir sein? Wir finden die Antwort, wenn wir Menschen zuhören, die miteinander reden. Wir könnten dann, zum Beispiel, folgendes hören:

“Also Du, gestern war ich mit Lisa im Kino. Weißt Du, wen wir in der Pause getroffen haben? Die Irma mit dem Franz. Die beiden waren schon in der Schule verliebt. Aber jetzt, jetzt wissen sie nicht mehr weiter. Sie haben ein gelähmtes Mädchen. Eine fürchterliche Geschichte, richtig tragisch. Ein gewaltiger Stress, natürlich vor allem für Irma. Tag und Nacht muss sie für die Kleine da sein …”

Solch eine ergreifende Geschichte, zum Beispiel, erfahren wir, wenn wir Menschen zuhören. Oder eine fröhliche Geschichte. Jede Menge Geschichten.

Und wir lernen daraus: Menschen erzählen Geschichten, Menschen hören zu, wenn jemand Geschichten erzählt. Seit Urzeiten lieben sie es über alles: das Hören und das Weitergeben, das Erzählen und das Erinnern von Geschichten.

Die Kultur des Erzählens ist die älteste Form menschlicher Kultur. Sie hat sich bis heute erhalten.

Unsere Leser und Zuhörer und Zuschauer wollen von uns einfach Geschichten hören. Sinnliche Geschichten, ergreifende oder erheiternde Geschichten, komische Geschichten, tragische Geschichten – Hauptsache: Geschichten!!

Nur: Beherrschen wir diese uralte Kunst eigentlich noch? Können wir, wie einst am Lagerfeuer, die ganze Sippe in unseren Bann ziehen?

Wir haben gelernt, Meldungen zu redigieren. Wir wissen, wie wir Fakten aufbereiten. Wir kennen uns auch aus im Vermitteln von Informationen. Wir liefern, was die “content-Manager” von uns verlangen: “content for people”.

Kommunikation heißt heute, was vor 20, 25 Jahren noch “miteinander reden” war. Die globalisierte Klasse der Medienmacher “generiert” ihren “content” als “Neusprech” ganz nach Orwell.

Aber was haben unsere Leser, unsere Zuhörer oder Zuschauer, mit diesem “content” noch zu tun? Auch sie heißen ja neuerdings anders. Nicht mehr Leser, Zuhörer oder Zuschauer, sondern “consumer”. Mit anderen “consumern” bilden sie die “community”, die täglich den “content” konsumiert, wie das tägliche Arbeitsergebnis jetzt in Neusprech heißt.

Könnte es sein, dass der neuen schönen Medienwelt die Geschichtenerzähler abhanden gekommen sind? Und damit die Geschichten?

Könnte es sein, dass wir unsere Zeitungen und Zeitschriften in den letzten Jahrzehnten sukzessive von jeder erzählerischen Sinnlichkeit entleert haben? Sinnentleert?

Könnte es sein, dass wir den Zeitungen und Zeitschriften, den Radio- und Fersehsendungen mutwillig die Seele ausgetrieben haben, indem wir sparwütig auf Geschichtenerzähler verzichteten? Könnte es sein, dass wir die Kernkompetenz des Journalismus verludern ließen: die Sprache? Die Gabe des Erzählens?

Meine Damen und Herren: Alles ist eine Geschichte. Wenn man nur die Kunst beherrscht, rauszugehen, um die Ecke zu gehen, hinzugehen, zuzuhören, die Geschichte zu erkennen und zu erzählen!

Denn das ist unsere Kunst. Die Kunst, die heute in diesem Kreise ausgezeichnet wird.

Ich danke Ihnen.