Zeitenspiegel Reportagen

Exkurs: Zivilcourage und Medien

24.11.2008

Schließen Einsatz für den Nächsten und Journalismus einander aus, laufen sie nur nebeneinander – oder keines von beidem?
Am 23. November hielt der Journalist Josef-Otto Freudenreich im “Gottesdienst um 7” in der Waiblinger Michaeliskirche eine Rede/Predigt dazu, im Anschluss wurde die Zeitenspiegel-Ausstellung “Peace Counts” gezeigt. Freudenreichs Beitrag im Wortlaut:

Liebe Frau Eisrich, liebe Gemeinde,

als ehemaliger stellvertretender Oberministrant bedanke ich mich
herzlich für die Einladung, die mir Gelegenheit gibt, über etwas zu
sprechen, was ich selbst erst lernen musste, was uns nicht in die
Wiege gelegt wurde, was wir aber alle brauchen, wenn wir im
aufrechten Gang durchs Leben gehen wollen: über Zivilcourage. Sie werden es kaum glauben: es gibt dazu sogar schon Volkshochschulkurse.

Ich könnte jetzt als Soziologe, der ich von Hause aus bin, darüber
sprechen und darüber nachsinnen, welche Bedeutung Zivilcourage, also civis und Mut, für die Gesellschaft hat, und was es für sie bedeutet, wenn es sie nicht gibt. Ich müsste dann viel über Solidarität, Entsolidarisierung und Anonymisierung reden.

Ich möchte aber einen anderen, praktischeren, alltagsbezogenen und mir näher liegenden Weg einschlagen: den journalistischen. Das heißt ganz einfach: genau hinschauen, viele Fragen stellen, auch unbequeme, dokumentieren, was ist, auch wenn es nicht dem Zeitgeist entspricht.
Das ist meine Profession, ich könnte auch sagen: meine Passion, weil der Beruf des Journalisten eigentlich der schönste der Welt ist.

Wir kennen alle die Alltagssituationen. In der Straßenbahn, auf der Straße, im öffentlichen Raum eben. Ein Mensch wird bedroht, ein schwarzer womöglich. Er wird verprügelt, niedergeschlagen, getreten.
Was tun wir? Helfen wir? Schauen wir weg und gehen eilig weiter?
Lähmt uns die Angst, in etwas hineingezogen zu werden, was wir nicht wollen?

Wenn sie viel unterwegs sind, werden sie sich diese Fragen häufig
stellen müssen, weil die Gewalt zugenommen hat. Aber ist es nur die Faust im Auge des Anderen? Ist es nicht auch das Mobben im Büro, das willkürliche Entlassen im Betrieb, die Gewalt zu Hause, die ein entschiedenes Nein verlangt? Gehört dazu nicht auch die jüngste Aussage eines leitenden Wasserkraftwerkers, der Martin Bonhoeffer einen “Vaterlandsverräter” genannt hat? Wir wissen: Gewalt kann auch mit Worten ausgeübt werden.

“Nichts erfordert mehr Mut und Charakter, als sich im offenen
Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein”. Das ist von Kurt Tucholsky.

Zivilcourage heißt auch Nein sagen, zu dem, was uns alltäglich
erscheint, normal, gewöhnlich, was einfach so geschieht. Eine
demokratische Gesellschaft braucht dieses Nein. Sie braucht die
Intoleranz gegenüber der Verletzung ihrer Grundwerte, zu denen wir Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zählen. Man kann es auch anders ausdrücken: Zivilcourage ist eine genuin demokratische Verhaltensweise, mit der jeder einzelne, ohne Amt und öffentlichen Auftrag gegen Lüge und Unrecht eintreten kann. Zivilcourage bedeutet aber auch, dass wir unseren eigenen Ängsten Ausdruck verleihen.

Was aber tun wir? Kann es nicht sein, dass wir häufig versucht sind, uns zu drücken? Dass wir taktieren, lavieren, kalkulieren, was uns
nützt und was uns schadet. Bloß kein klares Wort, sondern sich lieber verstecken hinter Politiker- oder Diplomatensprech oder hinter dem Begriff “schwäbisch-liberal”, der oft nur noch Attitude oder Feigheit ist. Bloß den Konflikt scheuen, Ross und Reiter nicht nennen, stattdessen Nebelkerzen werfen, hinter deren Rauch man sich schnell unsichtbar machen kann. Vielleicht sind wir eine mutlose Gesellschaft geworden, die sich nichts traut und alles für möglich hält. Anything goes und das möglichst easy.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich rede hier nicht von denen, die mit breiter Brust, überbordendem Selbstbewusstsein, um nicht zu sagen,mit selbstzweifelfreier Selbstgerechtigkeit durchs Leben gehen. Davon gibt es genügend. Jene zum Beispiel, die uns immer sagen, wir müssten den Gürtel enger schnallen und die selbst Hosenträger brauchen. Ich rede von den Zweifelnden, die noch ein Gespür dafür haben, wie eine
zivilisierte Gesellschaft sein müsste. In der Kirche würde man
wahrscheinlich sagen: brüderlich.

Lassen Sie mich an dieser Stelle auf meinen Berufsstand, die Medien, zurückkommen. Sie haben vielleicht gemerkt, dass ich das Wort “eigentlich” eingeflochten habe, als ich sagte, der Beruf des Journalisten sei der schönste der Welt. Daraus ist der Zweifel zu hören, und dieser Zweifel hat etwas mit dem Zustand, mit dem Geist der Medien zu tun, der immer mehr verflacht.

Schauen wir wirklich genau hin, stellen wir die richtigen Fragen,
haben wir eine Meinung? Oder beten wir – Entschuldigung dafür in
diesem Raum – nur nach, was uns Politiker, Banker und Bambi-Verleiher in den Notizblock diktieren? Kann es sein, dass wir überall das Gleiche lesen, hören und sehen? Wir sind wieder so weit, dass wir uns ducken. Die wirtschaftliche Krise, die uns verantwortungslose Gierschlunde beschert haben, ertränkt den Mut, den es bräuchte, wieder im Mainstream.

Vergessen scheint, dass unsere Verfassungsväter der Presse ins
Stammbuch geschrieben haben, Wächter zu sein, Kontrolleure der Macht, Aufklärer und Orientierungshelfer. Sie sollen zur Meinungsbildung beitragen, mithelfen zu erkennen, wo etwas richtig oder falsch läuft, wo Macht mißbraucht oder zum Guten gebraucht wird. Was ist davon noch übrig?

Hans Magnus Enzensberger hat den Begriff der Bewußtseinsindustrie geprägt, mit dem er sagen wollte, dass das, was wir im Kopf haben, von den Medienfabriken erzeugt wird. Später hat er vom Nullmedium Fernsehen gesprochen, das noch weniger Gutes verspricht, aber das so weit nicht her geholt ist, wenn wir betrachten, womit wir tagtäglich drangsaliert werden.

Zivilcourage lernen wir weder von den einen noch den anderen, weil sie genau das, was sie ausmacht, nicht wollen oder zumindest nicht fördern: Gegen den Strom schwimmen, die eigene UEberzeugung unerschrocken vertreten. Was wir lesen, sehen und hören ist – von Ausnahmen abgesehen – Mainstream.

Sie erinnern sich an die neoliberale Phase. Man könnte auch mit Guido Westerwelle sagen: jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, und wenn er kein Glück hat, hat er Pech gehabt und landet in Hartz IV. Die Ackermänner, Schröders und Hundts haben uns gesagt, dass die Globalisierung große Segnungen über uns bringen wird, bei manch schmerzhaftem Einschnitt vielleicht, aber wenn sich nur jeder kräftig anstrenge, sollte es zu seinem Nachteil nicht sein. Und der Staat solle sich gefälligst heraus halten. Das regele der Markt alles selbst. So durften wir es immer hören, lesen und sehen, weil die Medien eine Papageienhafte Rolle übernommen haben.

Doch plötzlich ist alles anders. Plötzlich schlüpfen Banken und
Automobilkonzerne unter Angela Merkels Schirm. Plötzlich räsonnieren dieselben Leitartikler, die einst ihre unsoziale Marktwirtschaft zur Heilslehre verklärt haben, über das Ende des Kapitalismus. Und sie rufen nach dem Staat.

Mutig ist das nicht. Nur ein Reflex auf den Zeitgeist, der heute so
und morgen anders weht. Journalistische Zivilcourage sähe anders aus. Sie wählte den unbequemen Weg, fragte nach den Menschen, die unter die Räder des Turbokapitalismus gekommen sind, nach der Ethik des Marktes, der Moral der Manager und einer Zukunft, in der nicht jeder gegen jeden kämpfen muss. Manchmal wünschte man sich einen Martin Luther zurück, der seine Thesen an die Kirchentür von Wittenberg nagelt.

Was aber machen die Besitzer der Medien, der Presse? Ich könnte jetzt an den legendären Satz von Paul Sethe erinnern, der einmal gesagt hat,die Pressefreiheit sei die Freiheit von wenigen Menschen, ihre Meinung zu sagen. Ich tue es nicht, weil die Dinge komplizierter sind,weil es keiner von oben exekutierten Meinung mehr bedarf. Der Mainstream ist ein Produkt der Anpassung aller Beteiligter am großen Medienspiel.

Die meisten Verleger von heute sagen: Qualitätssteigerung durch
Kosteneinsparung. Sie sagen nicht, was Qualität heißt, sie sagen nur, wie bei der WAZ geschehen: 300 Arbeitsplätze müssen weg. Möglicherweisehaben sie auch gelesen, dass es auch die Süddeutsche Zeitung trifft, die Wirtschaftstitel von Gruner und Jahr, und möglicherweise haben sie in dieser Woche auch die Landesschau gesehen, in der das Stuttgarter Pressehaus das Thema war. Ich kann Ihnen versichern: Das ist erst der Anfang.

Die Verleger von heute, zumindest die Mehrzahl von ihnen, könnten auch Schraubenfabriken leiten. Es gibt keine Augsteins mehr, die ihre Zeitungen und Zeitschriften als “Sturmgeschütz der Demokratie” verstehen. (Nehmen Sie nur Stefan Aust, den ehemaligen Chefredakteur des Spiegel, der gegen uns prozessiert, weil wir es gewagt haben, einen Generalstaatsanwalt zu Wort kommen zu lassen, der Aust kritisiert hat. Aust will uns jetzt in die so genannte Verbreiterhaftung nehmen. Der letzte Stand der Dinge ist, dass er mir sogar einen Kommentar zu seiner Vorgehensweise verbieten lassen will).

Die meisten Verleger von heute wollen nur noch eines: Rendite. Und die am besten im zweistelligen Bereich. Sie übersehen dabei, dass Qualitätspresse keine Ware ist, sondern ein Kulturgut, das im Sinne einer demokratischen Bürgergesellschaft zu schützen ist. Wer heute so etwas sagt, gerät schon in den Verdacht, Zivilcourage zu haben. Dabei ist es eine pure Selbstverständlichkeit.

Lassen Sie mich im zweiten Teil Mut machen. Ich möchte Ihnen von unserer Lesereise mit dem Buch “Wir können alles – Filz, Korruption und Kumpanei im Musterländle” berichten. Sie hat uns in 25 Orte in Baden-Württemberg geführt, mit 3000 Menschen zusammen gebracht – und die Augen geöffnet. Darüber, wie dick der Hals der Menschen ist, welche Hoffnungen sie haben, welche Ängste und welchen Willen, sie zu überwinden.

Eine der ersten Lesungen war in Ravensburg in Oberschwaben. Also in einem sehr konservativen Landstrich, in dem die katholische Kirche, der katholische Adel und die katholischen Landräte noch die Deutungshoheit haben. Dort gibt es auch eine Zeitung, die sich als “unabhängige Zeitung für christliche Kultur und Politik” bezeichnet. Die Schwäbische Zeitung.

Sie hat gegen das Buch geklagt, weil darin von “Mobbing übelster
Sorte” die Rede war. Der Prozess endete mit einem Vergleich, der
nichts weiter erbrachte als den Zusatz: Die Schwäbische Zeitung
bestreitet dies vehement. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig war das Verhalten jenes Ravensburger Buchhändlers, der es gewagt hatte, uns zu einer Lesung einzuladen. Er hatte ein Plakat im Schaufenster hängen, auf dem ein Vorabdruck der Geschichte über die Schwäbische Zeitung zu lesen war.

Abgesandte des Blattes setzten ihn massiv unter Druck, wollten
zumindest den Mobbing-Vorwurf geschwärzt sehen, obwohl das Gericht noch gar nicht darüber verhandelt hatte. Und was tat der Buchhändler. Er ließ das Plakat hängen, wohl wissend, dass ihm der Zeitungsmonopolist das Leben schwer machen konnte. Er ist nicht eingeknickt, er hat nicht überlegt, welche Nachteile es für ihn haben könnte, wenn er es sich mit der “unabhängigen Zeitung für christliche Kultur und Politik”verderben würde. Er hat einfach Nein gesagt, weil er sich Mund und Meinung nicht verbieten lassen wollte. “Eine Zeitung muss mehr noch als jedes andere Unternehmen akzeptieren’’, so betonte er, dass ihre Geschäftspolitik diskutiert wird. Wenn die einzige Tageszeitung, die es hier gibt, schon nicht über das Buch berichtet, ist es unsere Aufgabe als Buchhändler, das zu verbreiten. Frei nach dem Motto: Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Solche couragierten Menschen haben wir in Oberschwaben viele gefunden.Mit einem Netzwerk Süd, einem Zusammenschluss grün-alternativer Oberschwaben – das gibt’s wirklich – haben wir eine Tournee durch mehrere Städte veranstaltet. Sie haben für uns Stadthallen angemietet,die Werbung gemacht und Musikgruppen organisiert. Der Erlös ist nicht in irgendwelche Taschen gewandert, sondern sollte unsere Prozesskasse
aufbessern. Will sagen: Sie haben sich eingemischt, und sie haben, wie wir auch, viel Freude daran gehabt. Auch deshalb, weil der Druck irgendwann so groß geworden ist, dass das Monopolblatt nicht umhin kam, über nachfolgende Veranstaltungen zu berichten.

Das ist viel wert in einer Region, in der man sich bisweilen an eine
Monarchie erinnert fühlt. Hier treffen sie auf Politiker wie den
ideellen Gesamtoberschwaben Wilfried Steuer, der sich durch den
katholischen Glauben ausreichend legitimiert sieht, ein Landrat für
alle zu sein. Nie werde ich den Ausflug mit ihm zu seinem eigenen
Kreuz vergessen. Dort steht: “Gläubig aufwärts, mutig vorwärts,
dankbar rückwärts”. Seine eigentliche Losung hat er, wie er sagt,
nicht ins Holz schnitzen lassen: “Heimlich seitwärts”. Das Heimliche der Hinterzimmer aufzubrechen – auch das ist Zivilcourage. In Oberschwaben wächst sie.

Wir haben sie aber auch an anderen Orten gefunden. Bürger, die sich gegen korrupte Bürgermeister wehren, Bürgermeister, die gegen übermächtige Energiekonzerne zu Felde ziehen, Bürger, die sich mit einer Regierungstreuen Justiz nicht abfinden wollen. Wir haben sie auch bei der Polizei gefunden, von der sie plötzlich Papiere erhalten,in denen Beamte über ihre Arbeit berichten. In denen sie über stark gestiegene Suizidzahlen schreiben, über Parteibuchwirtschaft, Arbeitsüberlastung und bewusste Schikanen. Allein dass sie es notieren, bedeutet eine extreme Gefährdung für sie, dass sie es an Journalisten weiter geben, würde sie das Amt kosten, wenn sie als Informanten dingfest gemacht würden. Sie gälten dann als Geheimnisverräter.

Von solchen “Whistleblowern” leben wir, lebt dieses Buch. Ohne sie blieben die meisten Seiten weiß und wir ohne die Fakten, die wir zum Schreiben brauchen. Auch hier ist mir eine Klarstellung wichtig: Wir Journalisten, die man manchmal investigativ oder Enthüller nennt, wir sind nicht die Hauptpersonen oder gar die Rächer der Entrechteten.

Wir Journalisten sind nur die Chronisten des manchmal Unerträglichen, die Helden sind diese Informanten, die sich mit ihnen nur auf Autobahnraststätten treffen, weil in ihren Amtsstuben und Firmen Big Brother zu Hause ist. Auch das ist eine Folge der immer stärker werdenden UEberwachung, bis hinein ins Private, die – wenn man nicht aufpasst – sich ins Paranoide steigern kann. Wer hinter jedem Busch einen Schlapphut sieht, hat aufgehört, der Realität eine Rationalität zuzusprechen. Zivilcourage erwächst aber aus der Klarheit des
Gedankens und der Freiheit des Gewissens.

Ich möchte zusammenfassen: Wenn wir von Zivilcourage reden, reden wir von uns. Von unserem Willen, uns einzumischen oder von unserer Unfähigkeit, vielleicht auch nur Verzagtheit, Flagge zu zeigen. Fest zu halten bleibt: Es geht um die alltägliche Meinungsfreiheit und die Akzeptanz von Widerspruch. Bis hin zur Anerkennung und Unterstützung von Menschen, die den aufrechten Gang üben und sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzen. Je mehr wir nach diesem Prinzip leben, desto
weniger Helden wird dieses Land einmal brauchen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.