Zeitenspiegel Reportagen

Ich war nicht in Acapulco

04.08.2008

UEber die Mühsal und die Lust zu schreiben: Heinrich Jaenecke, langjähriger stern-Redakteur und Freund der Agentur, hat eine Standortbestimmung des Reporterberufs vorgenommen. Hier der ursprünglich im aktuellen Henri-Nannen-Buch erschienene Text. “Der Journalismus stellt sich als das Selbstgespräch dar, welches die Zeit über sich selber führt. Er ist die tägliche Selbstkritik, das Tagebuch gleichsam, in welches sie ihre laufende Geschichte in unmittelbaren, augenblicklichen Notizen einträgt. Im Journalismus liegen daher, trotz dieser, ja eben wegen dieser schwankenden Natur, die geheimsten Nerven, die verborgensten Adern unserer Zeit sichtbar zu Tage.” Robert E. Prutz (1845).

“Der Bleistift zitterte und das Herz zitterte, als dieses Manuskript entstand, das du jetzt lesen wirst.”

So beginnt das Kriegstagebuch von Egon Erwin Kisch, das 1930 unter dem Titel “Schreib das auf, Kisch!” erschien. Es war der Bericht aus einer wahnsinnig gewordenen Welt. “Schreib das auf, Kisch!” oder “Napis to, Kischi!” riefen ihm die Soldaten zu, mit denen er im galizischen Dreck lag: die Kameraden des Prager Korps, die neben ihm verbluteten, in einem sinnlosen Krieg, der sie nichts anging, für den sie billiges Kanonenfutter waren.

“Schreib das auf!” sagte dem Sanitätssoldaten Kisch auch seine innere Stimme – die Stimme des “Rasenden Reporters”, der schreiben musste, wenn er nicht krepieren wollte. Er schrieb jeden Tag, stenographierte in kleine Notizhefte, im Graben, im Bunker, auf der blanken Erde, während die anderen schliefen oder aßen oder Karten spielten. Er hielt fest, was er sah, ohne Schnörkel, ohne Reflektion, mit kalter Genauigkeit:

“Mittwoch, den 19.August 1914. Die Armee ist geschlagen, ist auf einer regellosen, wilden, überstürzten Flucht. Wir haben die Nacht auf dem Gerümpel der Sanitätsanstalt verbracht. Auf dem umgelegten Schrank und auf dem kleinen Tisch vor ihr hantierten die Ärzte, amputierten Beine und Arme, trepanierten Schädeldecken, renkten Kieferbrüche ein, extrahierten Geschosse aus der Schläfe oder aus Eingeweiden. Immerfort brachte man neue Verwundete, nicht mehr auf Tragbahren, denn es gab keine mehr. Man trug sie auf Gewehren oder auf Ästen oder in Zeltbahnen.”

Nach dem Krieg, sagt Kisch, habe er versucht, die Texte zu glätten, “hier und da einen Satz zu verändern, manchmal ein Wort einzufügen, manchmal einen Gedanken fortzulassen. Aber immer wieder musste ich diese Korrektur beseitigen. Was mir heute falsch erscheint, war damals richtig. Und ich musste eben das Damals gelten lassen und änderte nichts mehr.”

Das Buch machte ihn berühmt, obwohl er kein blendender Stilist war wie der Leutnant Ernst Jünger von den Hannoverschen Füsilieren, der zur gleichen Zeit im flandrischen Dreck lag und ebenfalls kleine Notizbücher vollkritzelte, bei Tag und bei Nacht. Er war der Antipode des Sanitätssoldaten Kisch. Der Krieg – Krieg an sich – war für Jünger die “Weihe” des Lebens, ein ritueller Totentanz, dem er sich unterwarf wie einer Droge, das “Leben am Abgrund” ein permanenter Rausch: Im “Gefecht” erlebte er die “höchste Erregung der menschlichen Leidenschaften”, das Hinmetzeln von Hunderttausenden im Trommelfeuer der Materialschlacht verklärte er zu mythischen “Stahlgewittern”.Er war von pathologischer Furchtlosigkeit, führte “seine Männer” zum Sturm auf die englischen Linien ohne Stahlhelm, “in der Rechten den Spazierstock, in der Linken die Pistole”, wurde fünfzehn mal verwundet und schrieb Sätze wie diesen: “Die zusammengeschmolzene Kompanie wurde noch einmal durch den Tod gesiebt. Nachdem die Feuerwelle verebbt war, ging ich durch den Graben, besah den Schaden und stellte fest, dass wir noch fünfzehn Mann stark waren.” Und: ” Ein zäher Leichengeruch lagerte über der eroberten Gegend, bald mehr, bald weniger zudringlich, immer aber die Sinne erregend wie eine Botschaft aus einem unheimlichen Land” (S. 277)

Ein Wahnsinniger – aber ein guter Reporter auch er, ein Genauigkeitsfanatiker. Er erfand nichts, es stimmte alles. Bloß es fehlte die andere Seite der Wirklichkeit – die schrankenlose Brutalitat des mechanisierten Tötens, die Verhöhnung der Humanität, die Entmenschlichung des Menschen – die Apokalypse der Vernichtung. Es fehlte das, was in den Notizbüchern des Sanitätssoldaten Kisch stand.

Zwei Berichterstatter, zwei Wirklichkeiten, zwei Welten – zwei Wahrheiten? Nein. Jüngers Buch war das “erfolgreichere” (es vergiftete die Gehirne einer ganzen Generation), aber es war nicht die Wahrheit. Kischs Buch, zehn Jahre nach Jünger veröffentlicht, war die Wahrheit – sie braucht immer länger und hat es immer schwerer als der Mythos, bis sie angenommen wird.

Nur in einem glichen sie sich, die beiden Antipoden der Kriegsreportage: In der inneren Berufung zu schreiben – zu schreiben als Lebensnotwendigkeit. Als Schicksalsbestimmung. Nicht davon los zu kommen, und nicht davon loskommen wollen. Eine Sucht, eine Krankheit. Eine Gnade. Ein Dienst.

Die beiden Männer waren extreme Ausformungen eines Typus des Homo Sapiens, der sich hartnäckig der Eingliederung in die Gesellschaft entzieht und auf einem durch nichts gedeckten Recht auf Individualität beharrt; der keinem bürgerlichen Broterwerb nachgeht, sondern seinen Lebensunterhalt dadurch bestreitet, dass er zuschaut, was die anderen treiben und dann darüber hämische Geschichten schreibt.

Alle Veränderungen der Zeit sind an ihm spurlos vorübergegangen. Die Diffamierungen, die ihm seit der Erfindung des Berufs entgegenschlagen, trägt er mit Gelassenheit. Er hat sich daran gewöhnt. Er übt seine Profession heute noch in der gleichen Weise und mit der gleichen Arroganz gegen die Mächtigen aus wie zur Zeit von Meister Gutenberg, der ihm das Werkzeug in die Hand gab, mit dem er sich Gehör verschaffte.

Er ist ein Sammler. Das bedeutet “Reporter”. Er trägt Geschichten zusammen. Und er ist besessen von dem Drang, den Anderen seine Geschichten mitzuteilen, schriftlich, ob sie es mögen oder nicht – er muß schreiben.

Er schreibt über alles. Das heißt, über alles, von dem er meint, es würde auch den Anderen interessieren. Das Repertoire ist ziemlich das gleiche geblieben seit Gutenberg. Es sind, von unten nach oben: Unglücke, Feuersbrünste, Missgeburten, Verbrechen, Unheilsprophezeihungen, Erdbeben, Kriege, Thronbesteigungen und Hinrichtungen, die Sünde unter dem Talar der römischen Kirche und – letzte Sensation – die Entdeckung der Neuen Welt, wo die Menschen nackt herumliefen und das Eisen nicht kannten, wohl aber unermessliche Goldschätze gehortet hatten.

Die “Relationen”, wie die frühen Zeitungsdruckschiften genannt wurden, fanden reißenden Absatz. Sie waren aktuell, relativ billig und priesen sich der Kundschaft als “lustbarlich und kürzweilig zu lesen” an, auch wenn sie die unheimlichsten Vorfälle vermeldeten, wie anno 1568 im “Landt zu Sachsen, in der Stadt Bitterfeld, wo ein menschliche Handt mit einem Blut rhotem Schwerdt am hellen Himmel gestanden ist und Blut vom Himmel gefallen ist”.

Der Reporter ist ein Moralist. Er weigert sich, die Dinge hinzunehmen, wie sie sind. Sein Leben lang ist er damit beschäftigt, gegen den Unfug, den die Menschheit veranstaltet, zu protestieren – gegen die Ungerechtigkeit der Verhältnisse, gegen die Geldgier der Reichen und die Ohnmacht der Armen, gegen die Atomkraft und gegen die Gegner der Atomkraft, gegen die Charakterlosigkeit der Politik und die miese Performance seines Fußballclubs – kurz, gegen die unverdiente Strafe, auf diesem früher so hübschen Planeten unter dieser ignoranten, analphabetischen, gewissenlosen Masse Mensch leben zu müssen. Es ist ein nie endender Kampf gegen die Realität des Lebens.

Der Reporter kann den Kampf nicht gewinnen, und er weiß es. Er kann Teilsiege erringen, und darauf darf er stolz sein, daraus zieht er sein Selbstbewusstsein, das Selbstbewußtsein des Lonely Cowboys in der Weite der Prärie. Denn er ist allein: Einer gegen den Rest der Welt.

Natürlich ist er nicht wirklich allein, hat Frau und Kind zu Hause, die ihn lieben und unablässig erklären, dass sie mehr von ihm haben möchten; er ist ein Rädchen im Verlag, in dieser auf permanente Expansion fixierten Megamaschine, wo das große Geld verdient wird, das bei ihm, dem Reporter, leider nicht ankommt. “Meine Herren”, sagte der große Erich Kuby einst bei einem Empfang der Verlagsspitze, “vergessen Sie nicht, dass Sie Ihren Champagner aus unseren Hirnschalen trinken.”

Und dann sind da die Kollegen, die Redaktion, der innere Ring, der das Alleinsein abfedert. Alle super. Alle Profis, alle ein bisschen neurotisch. Das Gewerbe ist eine Freimaurerloge, ein Geheimbund, man erkennt sich an unauffälligen Merkmalen, dem geringschätzigen, aber wissendem Tonfall, der nachlässigen Kleidung, der Vertrautheit mit dem Ritual der Pressekonferenzen, der Bevorzugung bestimmter Hotels, dem Respekt vor einander. Der Geheimbund ist der einzige Ort, an dem der Reporter sich verstanden weiß, wo er nichts erklären muss.

Das Gewerbe ist anders als alle anderen: Es verlangt dein Herzblut. Es verlangt, dass du immer Alles gibst. Du musst dich diesem Beruf, der eine Berufung ist, unterwerfen wie einer Fron. Du musst dieses leise Ziehen in der Brust spüren, wenn du dich an die Maschine setzt, die alte Olivetti damals, die dem iMac weichen musste. Du musst mit dem ersten Satz ringen, auch nach zwanzig Jahren noch. Daran hat der Computer nichts geändert. Du darfst es dir nicht leicht machen, sonst wird nichts draus. Sonst kannst du mit dem Ratschlag des alten Fritz Kortner nach Hause gehen, der einem hoffnungslosen Dilettanten auf der Bühne zurief: “Mein Lieber, Sie schwänzen einen anderen Beruf!”

Nein, du wolltest nie einen anderen Beruf haben. Du weißt nicht mehr, wer oder was dir den Anstoß gab. Vielleicht war es der dicke Bildband im Bücherschrank des Großvaters, mit dem silbernen Titel auf nachtblauem Grund: “Durchs dunkle Afrika”. Henry Morton Stanley, Starreporter des “New York Herald,” auf der Suche nach David Livingstone , dem verschollenen britischen Afrika-Forscher. Die Begegnung im Urwald nach überstandenen Abenteuern und Gefahren, ein Jahrhundertbild: Der Amerikaner, von seinen schwarzen Trägern begleitet, den Tropenhelm in der Hand, mit einer eleganten Verbeugung gegen den anderen weißen Mann: “Dr.Livingstone, I presume?”

Du wolltest die Welt sehen, und der Beruf hat sie dir gezeigt, mit ihrem Janusgesicht. Den Christo Redentor über der Bucht von Rio de Janeiro, vielleicht der schönste Platz der Erde, die segnenden Hände ausgestreckt über die Wellblechbuden der Favelas zur Linken und die Luxusappartements von Copacabana zur Rechten; das Schweigen der Salpeterwüste und das Dröhnen der Bulldozer, die die Massengräber des Pinochet-Regimes mit Erde zuschütten; der israelische Panzer auf dem Golan und das erstarrte Gesicht des SS-Sturmbannführers Adolf Eichmann im Gericht zu Jerusalem; die letzten Indios am Rio Xingú, die dir für eine Stange Marlboro ihren Kriegstanz vorführen, und die Hercules der US-Navy, die dich am Pol absetzt, 90 Grad Süd, wo Scotts Leben endete, und wo in der Stützpunktbar, zehn Meter unter dem Eis, die Mädchen vom Playboy-Kalender an die Wand gepinnt sind; der NVA-Soldat am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße, in der Nacht des 9. November 1989, dem die Tränen über das Gesicht laufen, und die lachenden Menschen, die sich fünf Schritte vor ihm in den Armen liegen; ein Sonnenuntergang bei Ahrenshoop und das Nachtgebet der Mönche im Benediktiner-Kloster von Meschede – eine Menge Zeug. Mehr als ein Mensch in seinem Leben verarbeiten kann.

Du hast die Welt gesehen, aber die Welt dreht sich. Es gibt schon lange keine weißen Flecken mehr auf der Landkarte. In Kuala Lumpur stehen die gleichen Wolkenkratzer wie in Shanghai oder Sao Paulo, und nach Lhasa kannst du mit der Bahn fahren, erste Klasse Schlafwagen, Frühstück inklusive, allerdings mit Stäbchen. Vor den Potala haben sie ein Puff hingesetzt, die Mädchen uniformiert in weißen Röckchen und orangenen Blusen. Brave new world. Huxley war ihr Prophet, Damals hat man das als Satire gelesen. Orwell hat sich nur in der Zeit geirrt: 1984 ist heute.

New York ist von gestern, Pizza gibt es überall. Die Welt ist dabei, sich in einen gigantischen Supermarkt zu verwandeln, Discount-Level natürlich. Dr. Livingstone kann gar nicht mehr verloren gehen. Man wird ihn in 24 Stunden aufspüren, wozu gibt es Satellitenüberwachung. Außerdem hat er heute ein Handy, und Stanley kommt mit dem Hubschrauber und macht ein Fernseh-Interview.

Und dann fragst du dich eines Tages, für wen hetzt du eigentlich um die Welt, für wen nimmst du diese Strapazen auf dich, setzt dich der Konfrontation mit dem Tod aus, atmest diesen mörderischen Hass – Plaza Tlatelolco, Mexiko, wo sie die Studentenbewegung zusammenschossen. Ein Blutbad. Oriana Fallaci neben dir auf dem Boden, Gesicht nach unten, den Stiefel des Fallschirmjägers im Genick. “Scheißjournalisten”, brüllt der Major, “alle an die Wand!” Freund Luis kam nicht mehr ins Hotel an dem Abend. Er war Mexikaner, Reporter für UPI. Die Fallschirmjäger brachen ihm die Knochen, bevor sie ihn erschossen.

Und dann bist du auf einer Party in Hamburg, und der Herr im Blazer sagt: “Ach Mexiko, schönes Land – wie fanden Sie Acapulco?”

Am besten, du sagst gar nichts. Sonst ist der Abend geplatzt.

Dein Blatt hat eine Millionenauflage, aber “den Leser” kennst du nicht. Deine Reportage ist wie eine Flaschenpost, die du ins Meer wirfst, du weißt nicht, wo sie ankommt, wer sie öffnet, wer sie liest. Du sitzt im Flieger nach München, und der Mann neben dir hat sich den stern geschnappt und blättert. Du hast diese Sache da geschrieben, über die gerade der Tomatensaft läuft, wirklich ein gutes Stück. “Tschuldigung” sagt mein Nachbar. Er meint nicht die bekleckerte Geschichte, sondern den Spritzer, den mein Lufthansa-Frühstück abbekommen hat. “Macht nix”, sage ich, “ist ja nichts passiert”. Er legt den stern weg und sagt zur Stewardess: “Haben Sie auch die Bunte?”

Ich habe verloren, die Flaschenpost ist nicht angekommen. Aber dann liegt Wochen später eine Postkarte aus Melbourne in der Redaktion. Auf der Vorderseite ist ein Känguru abgebildet, und auf der Rückseite steht in etwas zittriger Schrift: “Lieber Herr J., vielen Dank für Ihren Artikel. Er hat mich an meine Kinderzeit erinnert. Ich bin 86 Jahre alt und wünsche Ihnen alles Gute” . Die Flaschenpost war angekommen.

Der Reporter hat einen Feind, gegen den er machtlos ist. Das ist die Flüchtigkeit der Zeit. Sein ganzer Beruf, sein ganzes Leben ist dem Jetzt, dem Hier und Heute gewidmet. Jede Geschichte will einmalig sein, jede Reportage ist ein Abdruck des Augenblicks, aber die Zeit verwischt den Augenblick wie der Wind die Fußspur im Sand. “Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern”, heißt der Branchenspruch dazu. Oder: “Morgen läuft eine andere Sau durchs Dorf”. Die Flüchtigkeit der Zeit ist die existentielle Falle des Berufs.

Mit geheimem Neid blickt der Reporter auf seinen Artverwandten, den Romancier. Dieser Mensch kennt die Qualen des gemeinen Zeitungsschreibers nicht. Er hat keinen Begriff von der Zeit. Weiß nichts vom Fallbeil der Deadline, hat keinen Schlussredakteur im Nacken, nur einen milden Lektor, der ihn ab Ostern behutsam darauf hinweist, dass es nun auf Weihnachten gehe und “der Termin” dann nicht mehr fern sei. Den Romancier lässt das kalt. Vormittags kann er sowieso nicht schreiben und im Mai generell nicht. Da hat er seine Frühjahrsdepression. Er legt die Beine auf den Tisch und blickt bekümmert auf die frischen Maulwurfshügel in seinem Rasen. Man kommt zu nichts, denkt er. Zwischen die Merkzettel auf der Pinwand hat er ein Zitat von Horvath gesteckt: “Die beiden Todsünden des Schriftstellers: Aus dem Fenster schauen und nicht aus dem Fenster schauen”.

Der Spruch bringt ihn immer wieder aus dem Gleichgewicht, und manchmal denkt er voll Nostalgie an die Zeitung, wo er angefangen hat: Nachmittags um vier die Geschichte reingehauen, durfte sowieso nicht länger sein als anderthalb Blatt, (war sie natürlich doch, kurzer Schlagabtausch mit dem Chef vom Dienst: “Wir machen hier nicht die Preußischen Jahrbücher” – “Ok, dann streich ich eben”), um neun war Andruck, das Blatt gleich mitgenommen und zu Hause noch mal in Ruhe das eigene Produkt gelesen – nun ja, es war nicht gerade seine Sternstunde, aber sein Name stand wenigstens da. (Er ist ein heilloser Egozentriker. Wäre er das nicht, könnte er diesen Beruf gar nicht ausüben.)

Es gab einmal das Feuilleton. Nicht das Ressort, das sich heute so nennt, sondern das echte: Das, was “unter dem Strich” in der Zeitung stand, auf Seite 2. Der Strich trennte den Nachrichten-Journalismus von der Literatur, das Notwendige vom Schönen. Es war eine saubere, klare Trennungslinie. Eine Grenzmarkierung. Das Feuilleton war immun gegen die Flüchtigkeit der Zeit. Sie konnte ihm nichts anhaben, weil es die Flüchtigkeit der Zeit selbst zu seinem Thema machte. Weil es von dieser Flüchtigkeit lebte.

Das Feuilleton war ein Club, reserviert für die besten Federn deutscher Sprache – Polgar, Kerr, Auburtin, Tucholsky, Ringelnatz, und und und. Die konnten gar nicht lang schreiben, wollten das auch gar nicht. “Federleicht” hieß ein Bändchen von Victor Auburtin, und federleicht waren die Texte, ein paar Zeilen nur, eine halbe Seite oder zwei, wenn es hoch kommt. Lustschreiber waren sie. Ihre Texte sind nicht gealtert, sind so heiter geblieben wie damals, als es noch keine Computer und kein Internet gab.

Alfred Kerr, Großmeister der kleinen Form, hat seine Philosophie in einem “Gastspiel vor der Quarta” beschrieben: “Also, mein Werk, solang ich schreiben kann, besteht darin, den Trottel zu bessern. Aber das genügt nicht. Nämlich: Wenn etwas langweilig gesagt wird, pfeifen alle Leute drauf. Deshalb muß es in Schönheit gesagt werden. Aber was ist das: in Schönheit? Das ist etwas, was ich auch nicht sagen kann. Nehmt mal irgendeinen Romanschriftsteller, der kann sehr berühmt sein – aber er quatscht, umständlich und lang. Das lässt man sich heute gefallen, weil viele denken: Etwas, das Vergnügen macht, muß leichte Ware sein, das taugt nichts. Dies ist aber falsch, Jungens. Nuuur das, was Vergnügen macht (und auch wahr ist), nuuur das taugt. Nuuur das zu sagen lohnt. Nuuur das ist ein Ziel. Nämlich, wenn ein gewöhnlicher Satz zugleich ein bissl so ist wie ein Gedicht – wenn ihr das laut sagt und es hernach nicht vergessen könnt. Das ist es, Jungens, was ich in meiner Schreiberei lebenslänglich gewollt habe.”

“Die Netzhaut singt” – das ist so ein Satz, den er geschrieben hat in einer Reportage über das Ruderrennen auf der Themse, und der dem jugendlichen Leser im Kopf geblieben ist bis heute – “ein bissl so wie ein Gedicht”

Das Feuilleton ist lautlos dahingeschieden, gestorben an Blutarmut. Nach Hitler, nach Auschwitz, nach Stalingrad und Hiroshima, war “Schönheit” und “Federleichtes” obszön. Obwohl gerade sie zur Heilung des Wahnsinns hätten beitragen können,

Jetzt haben wir andere Zeiten. Wieder mal “Umbruch”, Zeitenwende”, “neue Ära”. Fernsehen und “neue Medien” sind dem gedruckten Wort auf den Fersen. Vom “Ende des Print-Zeitalters” ist die Rede, vom Untergang der Zeitung. Unsinn natürlich. “Bild” schaufelt jeden Tag über vier Millionen Exemplare an die Kioske, die SZ druckt am Wochenende 700.000 Stück, das Hamburger Abendblatt kommt am Sonnabend mit einem Umfang von 96 Seiten zum treuen Abonnenten, ZEIT, stern, Focus, Spiegel – uneinnehmbare Trutzburgen des bedruckten Papiers. Von der “Sylter Rundschau” bis zur “Passauer Neuen Presse” – Deutschand ist noch immer ein Zeitungsland. Selbst die “Rote Fahne” behauptet ihr bescheidenes Plätzchen an der Sonne im Drehständer bei der Lottoannahmestelle.

Das Fernsehen als journalistisches Medium – lassen wir Sportschau und Fußball-WM beiseite – hat den Zenith seiner Ausstrahlung hinter sich. Es ist zu einem Jahrmarkt der Eitelkeiten degeneriert, der umgekehrt proportional zur journalistischen Leistung steht. Das Wichtigste an der Tagesschau ist nicht die Nachricht, sondern die Kollegin, die die Nachricht vorliest. Da haben wir dann eine viertel Stunde Zeit, ihr Dekolleté und ihre neue Frisur zu bewundern, und wenn sie uns schließlich “noch einen schönen Abend” wünscht, wissen wir schon nicht mehr, was sie uns eigentlich mitgeteilt hat. Dies kommt daher, dass uns das Fernsehen zur absoluten Passivität verurteilt. Wir sind keine “Nutzer”, sondern wir werden genutzt, für ein optimales Quotenergebnis. Alfred Kerr wollte den “Trottel bessern”, das Fernsehen steigt herab zum Trottel (den es natürlich nicht so nennen darf), um ihn mit der geistigen Babynahrung zu füttern, die ihn in seiner Sofaecke ruhig stellt.)

Die Information ist in Informationsmüll umgeschlagen, der dem Gebührenzahler vom Bildschirm entgegenquillt wie von einer überfüllten Deponie. “Jeden Tag”, so der Soziologe Peter Sloterdijk, “muß man von dem Naturrecht, Millionen Dinge nicht zu erfahren, erneut Gebrauch machen.” Dabei bleibt uns das Eigentliche verschlossen – die Realität der Welt. Sie ist in immer weitere Ferne gerückt, und wir sind in Gefahr, das elektronisch hergestellte und übermittelte Bild – diesen winzigen und willkürlichen Ausschnitt, den die TV-Kamera erfasst – für die ganze Wirklichkeit zu nehmen. Wie die Stadt Bagdad wirklich aussieht nach fünf Jahren Krieg und Besatzung, erfahren wir nicht, wohl aber, was der Kommandierende US-General zu fünf Jahren Krieg und Besatzung meint. Egon Erwin Kisch vermittelte uns über seine vollgekritzelten Notizbücher – ohne ein einziges Bild und ohne Ton – eine reale Vorstellung vom Krieg. Im Zeitalter der Elektronik werden wir mit beliebig auswechselbaren Versatzstücken bedient, deren Informationswert gegen Null tendiert – die zehn-Sekunden-Bildschnipsel von in die Luft gesprengten Autos, blutenden Menschen, knüppelnden Polizisten, maskierten Killern und jaulenden Ambulanzen verschwimmen zu einem diffusen Horror-Panorama, das den Zuschauer nicht mehr erreicht, weil es seine Aufnahmekapazität heillos überfordert. Wie könnte auch ein schwerfälliges, hoch gerüstetes Fernsehteam von drei oder vier Leuten, Begleitschutz nicht gerechnet, die Authentizität wiedergeben, die es durch sein bloßes Auftreten zerstört.

Die andere Bedrohung der guten alten Druckerpresse kommt aus dem Computer. Das Internet ist das Gegenteil des Fernsehens. Es ist nicht exhibitionistisch, sondern anonym. Das Fernsehen, auch sein journalistischer Sektor, lebt vom Personenkult seiner Stars, das Internet hat keine Stars. Es hat das Flair einer öffentlichen Bastelstube, zu der jedermann und jedefrau Zutritt hat. Seine Faszination bezieht es aus der anarchischen Untergrundaura einer pubertären Parallelwelt, die vorgibt, die reale Welt zu sein. Sprache ist kein Maßstab mehr, es geht auch ohne. “Noch ein Jahrhundert Zeitungen, und alle Worte stinken”, schrieb Nietzsche einst – er kannte das Internet nicht.

Wird es uns in fünfzig Jahren noch geben? Oder werden wir in einem geschützten Freiluftgehege “Print-Medium” spielen, von der Umwelt bestaunt wie die Amish People, die immer noch kein Auto fahren, sondern mit dem Einspänner ganz gut zurechtkommen?

Henri Nannen, der Untergangsszenarien nicht leiden konnte, hatte bei solchen Debatten immer die Geschichte von der “Times” parat, die im Jahre 1851 (oder so) einen besorgten Artikel über die ständig zunehmende Verkehrsdichte in der City publizierte: Wenn dies so weitergehe, so das Blatt, werde London am Ende des Jahrhunderts unter einer zehn Fuß dicken Schicht Pferdemist begraben sein.

Die wirkliche Bedrohung des Reporters, dieses Mammuts der technischen Evolution, kommt nicht von außen, sondern von innen, aus dem Beruf selbst. Dieser Beruf zermürbt seinen Träger. Er frisst ihn langsam auf. In jedem Reporterleben kommt unweigerlich der Punkt, wo er hinschmeißen will. Wo es nicht weitergeht. Wo die Kraft, die ihn getragen hat, plötzlich zu Ende ist. Wo das Gewerbe ihn ankotzt. Er kann das alles nicht mehr sehen und hören. Hat er nicht hundertmal über dasselbe Thema geschrieben, tausendmal dieselben Worte gebraucht? Er spürt die Abnutzung – die Abnutzung der Sprache, des Engagements, der psychischen Reserven. Wie lange schon unterdrückt er diesen inneren Widerwillen, wie lange schon lebt er ein falsches Leben?

Er spürt, wie der alte Antagonismus wieder aufbricht – LEBEN ODER SCHREIBEN. Er wusste, dass das eine das andre ausschließt, aber er hatte seine Wahl getroffen und sie nicht bereut. Bis jetzt.

Es erwischt jeden, er mag noch so erfolgreich und berühmt sein. Die Große Leere ist die letzte Herausforderung in einem Reporterleben. Manche der Besten sind ihr erlegen – Hemingway wie Tucholsky, Arthur Koestler wie Stefan Zweig, Helden der Zunft – wenn Helden denn einen Platz hätten in der Zunft. Sie konnten alles ertragen, hatten alles auf sich genommen, die Vertreibung aus dem Land ihrer Muttersprache, den Verlust des Lebensgrundes, die politische Diffamierung. Nur eines konnten sie nicht: Leben ohne zu schreiben.

Stefan Zweig, der Grandseigneur alter Schule, in gesicherter Existenz, im Exil unter Palmen, nahm sich in Rio am Karnevalssonntag das Leben, als die Stadt vibrierte im Sambataumel. Er konnte die Trivialität des gewöhnlichen Lebens nicht mehr ertragen: Er hatte ihr nichts mehr entegenzusetzen.

Kurt Tucholsky zeichnete am Ende eine Treppe mit drei Stufen in sein “Sudelbuch”. Auf den Stufen standen die Worte SPRECHEN, SCHREIBEN, SCHWEIGEN. Arthur Koestler, Autor der “Sonnenfinsternis” und Veteran aller Schlachten des Jahrhunderts, schrieb nach dem Zweiten Weltkrieg einen Untergangsroman, dem er das Motto voranstellte: “Gottes Thron stand leer und durch die Welt ging ein kalter Zugwind wie in einer leer stehenden Wohnung vor dem Einzug der neuen Mieter.”

Es ist seither nicht gemütlicher geworden in der Wohnung, Es zieht immer noch.

Schreiben kann lebensrettend sein, aber es kann auch töten. Jorge Semprun, Spanier und Franzose zugleich, Mitglied der Resistance, war 19, als er nach Buchenwald kam, und 22, als Pattons Panzer vor das Lagertor rollten. Sein Inneres war randvoll gefüllt mit Bildern des Schreckens, der Erniedrigung und der Angst. Er begann zu schreiben, aber er spürte, dass das Schreiben seine “Seele zerfraß” und ihn umbrachte, indem es ihn “unaufhörlich in die Wüste einer tödlichen Erfahrung zurückschickte”. “Schreiben oder Leben” nannte er später das Buch, das seinen inneren Kampf schildert. Er beschloss, “das rauschende Schweigen des Lebens gegen die mörderische Sprache des Schreibens zu wählen.” Fünfzehn Jahre hielt er durch, dann siegte das Schreiben. Jorge Semprun hat der Welt erzählt, was Buchenwald war.

UEber der Stadt wölbte sich ein gläserner Abendhimmel, tintenblau. Es war ein heißer Tag gewesen in Buenos Aires. Wir saßen auf dem Balkon und genossen die frische Brise, die vom Fluss heraufwehte. Das Eis klirrte angenehm in den Gläsern. Eine lange nicht gekannte Entspannung beflügelte die kleine Gesellschaft. Der Falklandkrieg war vorüber, die Militärdiktatur gestürzt, ein zehn Jahre langer Alptraum zu Ende.

Ernesto Sábato war spät zu der Runde gestoßen. Er sah müde und erschöpft aus. Er legte sich den Poncho um die Schultern und bat die Gastgeberin um einen heißen Mate. Die Freunde blickten ihn alle mit der gleichen stummen Frage an: Ernesto, wie hälst du das aus?

Man hatte den großen Schriftsteller gebeten, den Vorsitz der Kommission zu übernehmen, die die Verbrechen der Junta untersuchen sollte. Die Freunde waren besorgt. Die Vernehmungen, die Enthüllungen über Folter und Morde, die Lügen, die Heuchelei, der Zynismus – das ist nicht dein Ding, Ernesto. Das macht dich kaputt, Wem dienst du damit? Lass das andere machen, du musst schreiben.

Sábato schwieg. Eine Weile hörte man nur das Rauschen des Verkehrs unten in den Straßenschluchten. “Wem ich damit diene?” sagte er in das Schweigen hinein. “Ich werde es euch verraten – dem Leben! Ich will, dass das Leben in diese Stadt, in dieses Land zurückkehrt – das ganz gewöhnliche ordinäre anständige Leben. Ich möchte, dass dieses Leben wieder seinen Platz einnimmt, von dem es die anderen vertrieben haben. Ich möchte etwas tun für dieses Leben – geschrieben habe ich genug.” “Na dann – auf das Leben!” sagte die Runde. “Ihr müsst mitmachen”, sagte Sábato, “allein ist es schwer.”.