Zeitenspiegel Reportagen

Verleihung des Hansel-Mieth-Preises 2019

07.05.2019

Die diesjährige Hansel-Mieth-Preisverleihung stand im Zeichen des Gedenkens an Kim Wall, Preisträgerin aus dem Jahr 2016, die ihre Leidenschaft als Reporterin mit ihrem Leben bezahlte.

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Die schwedische Journalistin Kim Wall fand ihre Geschichten auf der ganzen Welt. Sie schrieb über Folterkammern in Uganda. Über Voodoo-Rituale in Haiti. Für ihre Recherche zu den Nachwirkungen der US-Atomtests auf den Marshall-Inseln erhielt sie, zusammen mit Jan Hendrik Hinzel und Coleen Jose, im Jahr 2016 den Hansel-Mieth-Preis digital. Sie solle vorsichtig sein, kein Risiko eingehen, warnten ihre Eltern immer wieder, wenn sie zu ihren Reisen aufbrach. Die Reporterin war erst 30 Jahre alt, als sie bei einer Recherche in einem U-Boot nahe ihrer Heimat in Dänemark auf grausame Weise getötet wurde.

Ingrid und Joachim Wall sind anlässlich der Hansel-Mieth-Preisverleihung von Trelleborg in Schweden nach Fellbach gereist. „Wir wollen, dass unsere Tochter nicht als Opfer in Erinnerung bleibt, sondern als der besondere Mensch und die Ausnahmejournalistin, die sie war“, sagten sie im Gespräch mit Moderator Jochen Stöckle, der durch den Abend führte. „Sie wollte die Probleme und Gedanken der kleinen Leute zur Sprache bringen. In jeder ihrer Arbeiten zeigt sich Kims Überzeugung, dass Journalistinnen raus in die Welt ziehen sollten.“ Zum Gedenken an Kim Walls Schaffen als Reporterin gründete ihre Familie den „Kim Wall Memorial Fund“. Die Stiftung soll Journalistinnen aus aller Welt, die sich brisanten Recherchen widmen, mit Stipendien fördern. Was ihnen am Herzen liegt: „Sie sollen sich eine Versicherung leisten können und gute Übersetzer. Sie sollen keine unnötigen Gefahren eingehen müssen.“

Ingrid und Joachim Wall wollen, dass ihre Tochter, als Reporterin, als Mensch, nicht in Vergessenheit gerät. „Solange jemand über sie spricht, ist sie bei uns.“

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Rund 150 Gäste erlebten im Fellbacher Rathaus das bewegende Bühnengespräch und die Verleihung des 21. Hansel-Mieth-Preises, der an den Fotografen Fotograf Federico Rios und den Reporter Jan Christoph Wiechmann für ihre Reportage „Plötzlich Frieden“ (Geo) ging. Sie handelt vom Ende der kolumbianischen Rebellentruppe FARC. Zum fünften Mal wurde der Hansel-Mieth-Preises digital verliehen. Ausgezeichnet wurden in diesem Jahr der Reporter Marius Münstermann und der Fotograf Christian Werner für ihre Reportage „Jagd auf die Holzmafia“ (Spiegel digital) über illegale Holzfäller in den Urwäldern von Kambodscha und die unrühmliche Rolle der EU.

Auszug aus der Laudatio von Michael Schmieder, Mitglied der Jury des Hansel-Mieth-Preises und Gründer des Schweizer Demenz-Wohnheims „Sonnweid“:

„Wohl nicht ohne Hintergedanken haben mich Mitglieder von Zeitenspiegel angefragt, ob ich an der diesjährigen Verleihung des Hansel-Mieth-Preises die Laudatio halten würde.

In der ganzen Diskussion um Wahrhaftigkeit und Wahrheit im Journalismus ist der „Leser“ nicht ganz unbedeutend. Und als Vertreter der Leser in der Jury bedanke ich mich, die Preisträger ehren zu dürfen.

Der Hansel-Mieth-Preis Print geht 2019 an Jan Christoph Wiechmann und Federico Rios Escobar für die Reportage: „Plötzlich Frieden“, erschienen im Magazin Geo.

Seit ich an den Jurysitzungen teilnehme, gab es noch nie eine solche Eindeutigkeit in der Bewertung eines Beitrages. In Wort und Bild waren die Beurteilungen eindeutig. Und diese hervorragende Qualität zeichnet sich durch das Zusammenwirken von Wort und Bild aus. Das ist ganz großes Kino.

Ich liebe es, in Geschichten hineingezogen zu werden, in die Thematik, diese Faszination der Bilder, diese Nähe, aber auch Distanz des Schreibenden und des Fotografen zu den Menschen, um die es in der Geschichte geht. Diese Distanz ist gewollt, spürbar, in hohem Maße professionell. Es ist nicht möglich, Professionalität zu haben, wenn Distanz nicht gewahrt werden kann. Das ist vermutlich in allen Berufen so, die nahe am und nahe mit Menschen arbeiten. Das Leid, das Glück, die Krankheit, den Tod sehen, mitfühlen und dennoch anerkennen, dass es nicht das eigene Leid ist. Da treffen sich Journalisten und Krankenpfleger in großer Übereinstimmung.

Und dann sehe ich den Widerstreit zwischen der guten Geschichte und den realen Bedingungen, die oft herrschen. Die gute Geschichte beschreibt das Elend lesbar! Das ist der eine Aspekt. Der andere Aspekt stellt die Frage, welche Werte sich darstellen, was guter Journalismus darf, was nicht und was das Duo Wiechmann und Rios zu diesen Werten beiträgt. Genügt es mir als Leser, großes Erzähl- und Bilderkino geliefert zu bekommen? Oder gibt es noch andere Werte, die sich da in den Vordergrund schieben.

Der Leser will Authentizität, er will das Echte, Unverfälschte. Er will keine Täuschung, keine Fälschung. Ich will mich darauf verlassen können, dass Bilder und Text authentisch sind, dass sie dort entstanden sind, wo vorgegeben wird, dass sie entstanden seien.  Das Duo Wiechmann und Rios hat alles, was als Grundlage einer Reportage gilt, erfüllt. Sie reisten innerhalb von 18 Monaten drei Mal ins schwer zugängliche Gebiet westlich von Medellín. Sie nahmen Fragen mit, auf die sie Antworten wollten. Sie wollten an der Schnittstelle zwischen Krieg und Frieden herausfinden, was mit den einzelnen Personen geschieht, davor und danach. Und sie wählten drei Personen aus, deren Schicksal beschrieben wird, jedes anders und doch immer im Kontext dieses weltpolitischen Ereignisses: Frieden nach 52 Jahren zwischen der FARC und dem Staat.

Die beiden erzählen in Wort und Bild die kleinen Geschichten. An diesen lassen sich Auswirkungen aufzeigen, welche direkt den Menschen betreffen. Ihre Geschichten erheben sie aus der Menge, sie werden für uns fassbare Individuen mit all ihren eigenen Gefühlen und Spannungen. Hier schreiben die Kleinen die Geschichte, nicht die Großen. Hier werden Auswirkungen gezeigt, bis hin zu der Tatsache, dass eine Mutter im Dschungel ihr Kind nicht behalten darf. Das sind die Geschichten hinter der dort stattfindenden „Weltgeschichte“. Und doch stehen die drei Menschen mit ihren Geschichten auch exemplarisch für eine historische Entwicklung. Die Reporter nutzen die Geschichten, um Kollektives am Individuellen aufzuzeigen.

Wiechmann und Rios haben beide, jeder mit dem ihm eigenen Medium, eine sehr gute Reportage entwickelt, die alles in sich vereint, was ich als Leser von einer sehr guten Reportage erwarte: Nähe und Distanz, kritischer Blick und Empathie, Mitleid mit den Kämpferinnen und Kämpfern, ohne dabei die eigene Verantwortung der Einzelnen für ihr Tun außer Acht zu lassen. Mit großer Liebe zu diesen Menschen geben Sie uns die Möglichkeit, dieses Einzigartige in jedem Einzelnen zu erkennen.

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Der Hansel-Mieth-Preis digital geht an Marius Münstermann und Christian Werner. Sie werden ausgezeichnet für ihren Beitrag „Jagd auf die Holzmafia“, der im digitalen Spiegel erschienen ist.

Es gibt Momente, da hat man irgendwie genug von der dauernden Suche nach Ausgewogenheit, bei all dem was man liest, sieht oder selbst tut. Es gibt Momente, da weiß man, dass es Engagement braucht, dass es nicht genügt, sich medienwirksam aufzuregen, Betroffenheit zu simulieren, immer alle Aspekte, auch die Argumente der anderen Seite, zu sehen und zu erwähnen. Es gibt Momente, da scheint diese Neutralität fehl am Platz. Da ist auch der Wunsch nach dieser Ausgewogenheit fehl am Platz. Und dennoch muss eine Reportage umfassend recherchiert sein, darf den Leser nicht einfach in seinem Vorurteil bestärken.

Trotz dieser Kolonne von Lastwagen, beladen mit illegal gefälltem Holz, aufgefädelt wie an einer Schnur, von fremden Mächten gezogen, widerstehen Christian Werner und Marius Münstermann dieser Einseitigkeit, dieser unprofessionellen Parteilichkeit schon zu Beginn, Aber so fremd sind diese Mächte nicht, die Autoren wissen, wer sie sind, wo sie sind und wie sie ihre Macht ausbauen. Und sie wissen auch, dass gutgemeinte Verträge der Europäischen Union dieser Holzmafia in die Hände spielen und deren illegalem Tun letztendlich zu Legalität verhelfen.

Einmal mehr ist gut gemeint nicht zwingend gut gemacht. Einmal mehr ist in dieser Reportage erkennbar, dass eine eindimensionale Betrachtung und Bewertung von Details durch die Europäische Union letztendlich den Blick auf das Ganze verhindert – und ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, dass da Absicht dahinter liegen könnte.

Es ist der Verdienst der Aktivisten, aber auch der Autoren Marius Münstermann und Christian Werner, das Werk der Holzmafia aus dem Zwielicht des Waldes ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken.

Ich kann mich nicht als „Digital Native“ bezeichnen. Dennoch interessiert mich die Digitale Reportage, welche die Printreportage erweitern kann und hier das auch tatsächlich tut. In dieser gemeinsamen Reportage von Münstermann und Werner verschwinden die Trennungen zwischen Fotografie, Film und Text. Das Stück ist aus einem Guss, man sitzt gebannt vor dem Computer, und überlässt sich dem Werk. Man ist direkt in der Geschichte drin. Ich fühlte mich dort. Die Videosequenzen wirken authentisch, die Bilder führen mich ins Geschehen. Ich begleite die beiden, die wiederum die Protagonisten begleiten, auf ihrer Suche nach umfassenden Informationen. Ich kenne die Quellen, ich bin sozusagen Teil des Teams.

Dass Christian Werner und Marius Münstermann Partei ergreifen, hat mich nicht gestört. Sie haben recherchiert und davon berichtet und dann auch ihre Meinung kundgetan. Sie manipulieren nicht, sie lassen es mir offen, wie ich etwas bewerte.

Dies unterscheidet die engagierte Reportage von der plumpen Meinungsmache. Die Reporter müssen die Materie durchdringen, bevor sie diese bewerten. Die andere Seite hören, Grautöne erkennen, Schattierungen entdecken. Oder, wie Hansel Mieth das schon lange vor dem Internet formulierte: „Es braucht für guten Journalismus die Begeisterung für das Thema, aber eben nicht nur Begeisterung, sondern auch das Handwerkzeug dazu: Begreifen und Werten der Zusammenhänge, das Verständnis für jeden gegebenen Fakt.“