Zeitenspiegel Reportagen

Oberüber will raus

Erschienen am 8. Juli 2021, ZEIT-DOSSIER

Von Autor Tilman Wörtz

Ein Deutscher zieht nach Paraguay, weg aus der „verdorbenen“ Bundesrepublik. Doch dann verschwindet die Tochter seiner neuen Lebensgefährtin – und er landet im Gefängnis.?Ist Reiner Oberüber schuldig?

Im Gefängnis von Villarrica, einige Autostunden von der paraguayischen Hauptstadt Asunción entfernt, zwitschern die Vögel. Sie sitzen auf der vier Meter hohen Backsteinmauer und auf den Bäumen im Innenhof, in deren Schatten Häftlinge Fußball spielen, bewacht von Wärtern mit Pumpgun im Anschlag. Bis hierher kommen Besucher, wenn sie das eiserne Gefängnistor passiert haben, zum Zellentrakt haben sie keinen Zutritt.

Ein schlanker Mann mit Pferdeschwanz schiebt weiße Plastikstühle unter einem Wellblechdach zurecht, die paar Quadratmeter müssen genügen als Besucherbereich. Er setzt sich und sagt auf Deutsch: »Manchmal zieht es mir den Magen zusammen, so hilflos und verloren fühle ich mich.«

Der Mann, seit mehr als einem Jahr in Unter- suchungshaft, heißt Reiner Oberüber und ist 56 Jahre alt. Er ist deutscher Staatsbürger und der prominenteste Häftling von Paraguay. In der Sieben-Millionen-Einwohner-Nation dürfte es wenige Menschen geben, die Oberübers Gesicht noch nicht gesehen haben. Alle Fernsehsender, alle Zeitungen haben wieder und wieder sein Bild gezeigt. Seit April 2020 wühlt der Fall Oberüber das Land auf. Die Medien berichten über jedes neue Detail der Ermittlungen, Politiker kommentieren sie, Kinderrechts-Aktivisten rufen die immer gleiche Frage in Kameras: »Wo ist Juliette?«

Juliette. Die damals siebenjährige Tochter von Reiner Oberübers paraguayischer Lebensgefährtin. Verschwunden seit dem 15. April 2020. Womöglich verschleppt, entführt, ermordet. Von Reiner Oberüber?

»Ich bin unschuldig!«, beteuert Oberüber seit über einem Jahr. Auch jetzt wieder auf seinem Plastikstuhl, als er von seinem Leben im Gefängnis erzählt. Immerhin habe er ein Bett in einer Zweierzelle und müsse nicht im Sammeltrakt schlafen, wo sich jeweils sieben Gefangene eine Zelle teilen, 400 Männer auf engstem Raum. Keine Privatsphäre. Keine Sicherheit. Oberüber sagt, er, der vermeintliche Kinderschänder, würde dort nicht lange überleben.

Seine Familie in Deutschland versucht ihn zu unterstützen. Sie hat das Auswärtige Amt in Berlin kontaktiert und die deutsche Botschaft in Asunción. Die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland, so die Hoffnung der Angehörigen, werden dem deutschen Staatsbürger Reiner Oberüber helfen.

Ausgerechnet sie. Ausgerechnet ihm. Denn Reiner Oberüber ist der Meinung, dass es einen Staat namens Bundesrepublik Deutschland gar nicht gibt.

Ehe Reiner Oberüber vor drei Jahren nach Paraguay auswanderte und dort schließlich zu einem bekannten Gefangenen wurde, war er in Deutschland ein bekannter Reichsbürger. Die Angehörigen der sogenannten Reichsbürgerbewegung sind der Meinung, dass das Deutsche Reich nie aufgehört hat zu existieren. Die Bundesrepublik Deutschland dagegen sei ein illegitimer Staat, ein Regime der Lügner und Betrüger.

Das Bundesinnenministerium beziffert die Zahl der »Reichsbürger und Selbstverwalter« in Deutschland auf 20.000. Unter ihnen sind Rechts- extreme und Antisemiten, Monarchisten und Esoteriker. Manche haben auf ihren Grundstücken einen eigenen Staat proklamiert und stellen Fantasie-Ausweise aus, selbst gebastelte Orden, eigenes Geld und eigene Kfz-Kennzeichen. Sie erklären sich selbst zu Reichskanzlern, Reichspräsidenten und Reichspostministern.

Lange galt die Szene eher als kurios denn als gefährlich. Bis, es war am 19. Oktober 2016, ein Reichsbürger im fränkischen Georgensgmünd das Feuer auf ein Spezialeinsatzkommando eröffnete, das seinen Mikrostaat nach Waffen durchsuchen wollte. Die Schüsse trafen drei Polizisten, einer starb. Auch der Sturm von Reichsbürgern auf die Treppen des Berliner Reichstags am Rande einer Corona-Demonstration im August 2020 schreckte die Öffentlichkeit auf. Im vergangenen Jahr verzeichnete das Bundeskriminalamt 772 politisch motivierte Straftaten von Reichsbürgern.

Reiner Oberüber ist nie wegen illegalen Besitzes von Pistolen und Gewehren aufgefallen. Auch ist nicht bekannt, dass er, die Reichsflagge schwenkend, bei Demonstrationen vorwegmarschiert wäre. Seine Waffe waren seine Reden und Vorträge, die er auf YouTube verbreitete

Es gibt ein Video aus dem Jahr 2014, aufgenommen in Filderstadt nahe Stuttgart bei einer Podiumsdiskussion mit dem Titel »Wege in die Freiheit«. Neben Oberüber auf der Bühne sitzt ein Mann, der sich selbst als »König von Deutschland« bezeichnet, außerdem sind da noch zwei selbst ernannte Rechtsexperten, ein Meditationslehrer und ein Spezialist für das Gartenbauprinzip der Permakultur sowie der Moderator. Alle sind sich einig, dass man sich vom »System« nicht mehr gängeln lassen dürfe, vor allem nicht, wenn es um Geld gehe. Am besten sei es, jegliche Zahlung zu verweigern. Keine Steuern, keine Gebühren, keine Strafzettel.

Was Oberüber von den übrigen Männern auf dem Podium unterscheidet, ist sein Auftreten. Während der Moderator weder Schuhe noch Strümpfe anhat, trägt Oberüber Blazer. Während andere sich in den Windungen ihrer eigenen Sätze verfangen, muss sich Oberüber nur selten mit einem »äh« über mentale Pausen hinweghelfen, selbst wenn er Paragrafen aus preußischen Gesetzbüchern zitiert, um zu belegen, dass wir nach wie vor im Kaiserreich leben. Schon diese Fähigkeit zur präzisen Sprache verhalf ihm innerhalb der Reichsbürgerbewegung zu einer herausgehobenen Stellung . »Mir hat man unzählige Ministerposten angeboten«, rühmt sich Reiner Oberüber auf seinem Plastikstuhl im Gefängnishof in Paraguay. Posten in Fantasiestaaten: Freistaat Preußen, Republik Freies Deutschland, Neudeutschland. »Ich hab alles durch! Aber heute bin ich weiter«, sagt er. Oberüber weiß, dass der Begriff »Reichsbürger« bei vielen Menschen nicht unbedingt positiv besetzt ist. Dass manche bei dem Wort denken: Der ist nicht ganz dicht. »Ich will nicht in eine Schub- lade gesteckt werden«, sagt Oberüber. Er nennt sich selbst lieber einen »Wahrheitssucher«.

Reichsbürger, Wahrheitssucher, Auswanderer, Häftling. Wie Reiner Oberüber das wurde, was er heute ist, weiß wohl niemand besser als Martina Schäfer.

Sie ist wie er 56, ging mit ihm zur Schule, später wurde sie seine Lebensgefährtin. Noch immer wohnt sie in dem gemeinsam errichteten Holzhaus in Karlsruhe, mehr als 10.000 Kilometer von seiner Gefängniszelle entfernt. Drinnen hängt gleich an der Eingangstür die Schwarz-Weiß-Fotografie einer Frau mit halblangen Haaren und vollen Lippen: Maria de los Santos Paz, Reiner Oberübers Großmutter. Eine resolute Frau und sein persönliches Vorbild. Sie war eine Indigene aus Panama, die es auf die Universität schaffte. Ihre Tochter, Oberübers Mutter, wuchs in Spanien auf, kam in jungen Jahren nach Düsseldorf und heiratete einen Deutschen. Dort wurde Oberüber zweisprachig groß.

Martina Schäfer erinnert sich an Reiner Ober- über als diskussionsfreudigen Mitschüler, der sich von den Lehrern keine Meinung vorschreiben ließ. Nach dem Abitur verlor sie ihn zunächst aus den Augen. Oberüber studierte Betriebswirtschaft und kaufte gleich danach, in den letzten Monaten der DDR, zum günstigen Ostmark-Preis eine Firma in Dresden. Er habe immer sein eigener Chef sein wollen, sagt Schäfer. »Den kannst du auf eine Kreuzung stellen, und er macht was draus.«

Oberüber verwandelt die Firma damals in eine erfolgreiche Werbeagentur, zu seinen Kunden gehören die Dresdner Philharmonie, die Commerzbank und mehrere Ministerien des Freistaats Sachsen. Er entwirft Anzeigenkampagnen und spricht Radiospots im Tonstudio ein. Bald hat die Agentur zwölf Mitarbeiter und einen Umsatz von zweieinhalb Millionen Euro im Jahr. Oberüber kauft sich eine Harley und einen Porsche.

Reiner Oberüber hätte noch sehr viel mehr Geld verdienen können – heute hat die Agentur 40 Mitarbeiter. 2002 aber will er neue Wege gehen. Er macht sich als Unternehmensberater selbstständig . Bei der Anmeldung zu einem Halbmarathon in Berlin entdeckt Martina Schäfer Ende 2011 Oberübers Namen auf der Teilnehmerliste und verabredet sich mit ihrem alten Schulkameraden. Oberüber berät gerade eine Spedition in Karlsruhe, wo er in- zwischen lebt. Martina Schäfer ist unzufrieden in ihrem damaligen Job, Oberüber verschafft ihr eine Stelle in der Personalabteilung der Spedition. Sie zieht nach Karlsruhe. Abends gehen die beiden aus. »Mir hat seine charmante und aufmerksame Art gefallen«, sagt sie, als sie die Geschichte erzählt. Sie werden ein Paar und bauen zusammen das Haus, in dem Martina Schäfer noch heute wohnt.

Von der Terrasse aus blickt sie den Hang hinunter in ihren Kräuter- und Gemüsegarten. Hier wollte sie mit Reiner Oberüber Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten und Zucchini anbauen, die beiden wollten Selbstversorger werden. Sie reisten zu den Maya-Pyramiden nach Mexiko und feierten eine »spirituelle Hochzeit« in Palenque. »Für mich war das eine neue und aufregende Welt«, sagt Martina Schäfer.

In jenen Jahren war Reiner Oberübers Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland eher unauffällig. Nach allem, was man weiß, ist er in Deutschland nicht vorbestraft. Aus Gesprächen mit Martina Schäfer und anderen Bekannten aus dieser Zeit ergibt sich das Bild eines Mannes, der Steuern und Abgaben als zu hoch empfand und sich von Vorschriften und Verordnungen gegängelt fühlte, wie so mancher andere Deutsche. Mit dem Unterschied, dass Reiner Oberüber offenbar schon immer dem Verdacht zuneigte, in der Welt sei vieles nicht so, wie es scheint. Und er, Ober- über, sei im Gegensatz zu den meisten anderen scharfsinnig genug, zu erkennen, wie die Dinge wirklich liegen. Aus diesem Verdacht sollte bald eine Obsession werden.

Beim Gespräch im Gefängnis von Villarrica erinnert sich Oberüber noch genau an den entscheidenden Moment: In einer Kneipe in Berlin habe ein Freund behauptet, die Bundesrepublik sei gar kein Staat – sondern eine GmbH. Oberüber sagt, er habe gedacht: »Der spinnt.« Dann aber las er ein von dem Freund empfohlenes Buch: Das Deutschland Protokoll, ein Klassiker der Reichsbürger- Szene. Der Autor behauptet darin, Deutschland sei kein souveräner Staat und das Gerede von freien Wahlen und freien Medien nur eine Fiktion, mit der die Leute getäuscht würden, damit sich eine globale Elite immer weiter bereichern könne.

Schon vorher war Oberüber zu der Überzeugung gelangt, es gebe unsichtbare Mächte, die das Bewusstsein jedes einzelnen Menschen beeinflussen. Energiefelder, Kraftorte, an denen unsere Ahnen Spuren hinterließen, die uns bis heute prägen. Oberüber hatte sogar angefangen, sich als »spirituellen Manager« zu bezeichnen.

Jetzt las er Das Deutschland Protokoll und war fasziniert. Konnte es sein, dass nicht nur unser Bewusstsein, sondern auch unser politisches System von verborgenen Kräften gesteuert wird? Dass dieser Staat mit seinen Institutionen und Regelwerken eine einzige große Lüge ist? Und dass er, Reiner Oberüber, diese Lüge durchschaut?

Die Wahrheit, die Oberüber Buchseite für Buchseite zu entdecken glaubte, sah so aus: Die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. war nicht rechtskräftig. Somit sind alle nachfolgenden Gesetze und internationalen Verträge ungültig: die Verfassung von Weimar, der Friede von Versailles, das Grundgesetz. Wir alle sind Staatenlose im eigenen Land, und die Bundesrepublik ist nur eine Verwaltung, die uns von den Alliierten und der globalen Hochfinanz aufgezwungen wurde.

Oberüber las weiter, in Büchern, im Internet, und stieß, tatsächlich, auf Beweise für seine Theorien. Denn das waren doch Beweise, oder? Der fehlende Vorname bei Hans-Dietrich Genschers Unterschrift unter der Ratifizierungsurkunde des Zwei-plus-Vier- Vertrags, und im Siegel dazu ein Bundesadler mit sieben Schwingen – waren es nicht sonst nur sechs gewesen? Das sagte doch alles!

Der 1990 zwischen BRD und DDR auf der einen und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs auf der anderen Seite geschlossene Zwei-plus-Vier-Vertrag machte den Weg zu einem souveränen und vereinten deutschen Nationalstaat frei. »Ein netter Schwindel!«, ruft Reiner Ober- über mit hochgezogenen Brauen und triumphierendem Lächeln in einem der vielen Videos, die es im Internet von ihm gibt. Es sind Auftritte bei Kanälen wie NuoViso oder Bewusst.tv, virtuellen Treffpunkten der Reichsbürger-Szene, in der Oberüber damals schnell an Beliebtheit gewinnt.

Laut Handbuch Reichsbürger, einem Lektüre- tipp des Bundesinnenministeriums, sind Reichsbürger »oft beruflich und sozial gescheitert«. Oberüber ist anders: erfolgreich, eloquent, um Logik bemüht. So fällt er auf, hebt sich ab. Bald reist er für Vorträge quer durchs Land, nach Bochum, Delmenhorst und Holzkirchen, nimmt 180 Euro Teilnahmegebühr pro Person.

Währenddessen jätet Martina Schäfer alleine im Garten Unkraut und pflanzt Tomaten. »Ich war sauer«, sagt sie. In ihrem Haus in Karlsruhe herrscht heute meist Stille. Als Oberüber noch hier wohnte, empfing er regelmäßig Gäste. Neue Bekannte, Freunde im Geiste. »Alle heizten sich gegenseitig an, ständig hatte noch jemand eine Idee,

wo wir überall belogen und verarscht werden«, erinnert sich Martina Schäfer. »Reiner wollte mich auf seiner Seite haben.« Gemeinsam hörten sie die Audioserie Offenbarung 23, in der es darum geht, was tatsächlich am 11. September 2001 in New York passierte und wie Lady Di in Wahrheit umkam. Überall Verschwörungen, Lügen, geheime Mächte, unterhaltsam aufbereitet. Immer häufiger, sagt Martina Schäfer, sprach Oberüber vom Auswandern. Paraguay sei am besten geeignet: das Klima toll, die Aufenthaltserlaubnis einfach zu erhalten, dazu die niedrigen Steuern – nur zehn Prozent. »Ich habe diese Sehnsucht nicht verstanden. Wir hatten hier doch alles.«

Sie blieb in Deutschland, er ging allein.

Schon seit über hundert Jahren ist Paraguay ein Sehnsuchtsort für deutsche Auswanderer. Friedrich Nietzsches Schwester war eine der ersten. 1887 gründete sie mit ihrem Mann Bernhard Förster die Siedlung Nueva Germania als »Zufluchtsort« für die angeblich bedrohte »arische Rasse«. Nach dem Zweiten Weltkrieg vergab der deutschstämmige Diktator Alfredo Stroessner großzügig paraguayische Papiere an geflohene Nazis, etwa den Auschwitz-Arzt Josef Mengele. Auch Mennoniten, Rinderzüchter und Abenteurer zog es nach Paraguay. Alle suchten sie Land und Freiheit.

Die Hauptstadt Asunción ist heute eine moderne Metropole mit Bürotürmen aus Glas und Stahl. Lange Ausfallstraßen führen in die Vororte, vorbei an Läden mit Werkzeugen, Möbeln, Autozubehör. Nach einer halben Stunde werden die Häuser zu Hütten. Büsche und Palmen säumen die Straßen, unterbrochen von Rinderweiden.

Im Herbst 2017 fuhr Reiner Oberüber auf diesen Straßen durchs Land und hielt nach Schildern Ausschau, die Grundstücke zum Verkauf anboten. Er wurde fündig: Monte Pacará nennen sich die 29 Hektar, die er auf einer Anhöhe nord- östlich von Asunción erwarb. Knapp ein Jahr später siedelte er über.

Die Zufahrt von der Straße zu seinem Anwesen schlängelt sich durch dichtes Gestrüpp an einem See vorbei und endet schließlich vor einem Gatter. Dahinter steht ein Häuschen mit einer Veranda aus Natursteinen. Wege sind angelegt, Zirpen und Gezwitscher hängen in der Luft. Reiner Oberüber wollte hier nicht nur selbst leben, er wollte auch Platz schaffen für andere Auswanderer. Dafür hatte er eine Firma nach paraguayischem Recht gegründet. Der Plan sah Bauplätze für mindestens 50 Häuser vor, dazu Restaurant, Supermarkt, Golfplatz und ein Naturreservat. Ein kleines Para- dies in den Subtropen, mit Infrastruktur und Service nach deutschem Standard, das war seine Idee, sein Geschäftsmodell. Im Gefängnis erinnert er sich: »Ich empfand ein enormes Freiheitsgefühl!«

Im neuen Land gab sich Oberüber einen neuen Namen. »Reiner de los Santos Paz«, nach seiner Großmutter aus Panama. Er fand auch eine neue Freundin: Lilian Zapata, heute 35 Jahre alt. Sie lebte mit ihren beiden Töchtern in einem Städtchen in der Nähe; Charlotte, heute elf, und Juliette, die, wenn sie noch lebt, heute acht Jahre alt ist. Als im März 2020 auch in Paraguay der Lockdown begann, zog Lilian mit den Kindern zu ihm hinaus. Oberüber kaufte der kleinen Juliette zwei Ziegen als Spielgefährten, Maxi und Nube. Er lebte jetzt nicht nur in einem neuen Land, er hatte auch eine neue Familie gefunden. Alles schien sich so zu entwickeln, wie er es sich erhofft hatte.

Dann kommt der 15. April 2020.

An diesem Tag, so viel ist sicher, will Oberüber einen neuen Zaun um sein Grundstück ziehen. Zwei Arbeiter sollen ihm helfen. Sie wollen früh anfangen. Auch die kleine Juliette, so sagen Reiner Oberüber und Lilian Zapata später aus, ist schon seit sechs Uhr auf den Beinen. Oberüber reicht ihr ein paar Bananen zum Frühstück. Danach geht sie nach draußen, um wie jeden Morgen mit den Ziegen zu spielen.

Seither fehlt jede Spur von ihr.

Reiner Oberüber und Lilian Zapata suchen den ganzen Tag und fast die ganze Nacht hindurch nach dem Kind, die Nachbarn und Freunde, die ihnen helfen, bestätigen das später gegenüber den Ermittlungsbehörden und der ZEIT. Am nächsten Morgen, 24 Stunden nach Juliettes Verschwinden, geht Lilian Zapata zur Polizei und meldet ihre Tochter als vermisst. Schon am Nachmittag rücken erste Fernsehteams an, Reporter stellen sich vor Oberübers Haus und berichten stundenlang.

Ein kleines, wehrloses Mädchen ist plötzlich nicht mehr da – von Tag eins ihres Verschwindens an bewegt Juliettes Schicksal das Land. Hundertschaften der Polizei durchkämmen das Gelände, Spürhunde suchen Juliette. Die zwei Arbeiter und die Nachbarn geben Interviews. Auch Oberüber und seine Freundin wenden sich in einem Video an die Öffentlichkeit, sie versprechen eine Belohnung von zehn Millionen Guaraní, umgerechnet knapp 1250 Euro, für jeden nützlichen Hinweis.

TV-Sender und Zeitungen zeigen wieder und wieder dasselbe Foto: ein hübsches Kind mit großen Augen und dunklen Locken. Juliettes Mutter Lilian Zapata hat es den Medien gegeben. Auf dem Bild ist nur bei genauem Hinsehen zu erkennen, dass Juliettes Kopf ungewöhnlich klein ist. Sie leidet an Mikrozephalie, einer Fehlbildung, die meist mit einer geistigen Behinderung einhergeht. Juliettes Denk- und Sprachfähigkeit ist eingeschränkt. Sie versteht vieles von dem, was man ihr sagt, kann aber selbst nur in Wortfetzen reden.

Drei Wochen lang scheinen die Ermittlungen nicht voranzukommen, von dem Mädchen fehlt weiter jede Spur. Am Morgen des 4. Mai 2020 wird der leitende Kommissar von seinen Aufgaben entbunden und ein Nachfolger eingesetzt. Am Nachmittag desselben Tages fährt die Polizei auf Oberübers Grundstück vor und verhaftet ihn und seine Freundin Lilian Zapata. Mehrere Fernsehteams sind offenbar vorab informiert worden, sie treffen zeitgleich mit den Beamten ein. Die Medien präsentieren Dutzende neue Fotos des Mädchens. Juliette mit ihren Ziegen, Juliette mit einem Hasen, Juliette vor einem Pool, Juliette mit Zahnlücke. Die Bilder hat die Polizei aus den Handys von Reiner Oberüber und Lilian Zapata ausgelesen. Offenbar sind sie an die Journalisten durchgestochen worden.

»Alles deutet auf die Verantwortlichkeit des Stiefvaters hin«, begründet ein Staatsanwalt die Verhaftung. »Laut Zeugenaussagen war Reiner Oberüber der Einzige, der auf dem Grundstück ein und aus ging.« Allerdings haben die Ermittler keinen Zeugen, der Oberüber am Tag des Verschwindens oder danach mit dem Mädchen gesehen hätte. Es wurde auch keine Leiche gefunden. Tatsächlich wird Oberüber auch gar nicht Kindesentführung oder Mord vorgeworfen, sondern lediglich »Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht« – er habe nicht gut genug auf Juliette auf- gepasst. Diese Pflicht besteht nach paraguayischem Gesetz für Eltern, Stiefeltern oder einen legalen Vormund. Nur ist Oberüber gar nicht der Stiefvater von Juliette, auch wenn der Staatsanwalt ihn so bezeichnet. Er ist der Lebensgefährte ihrer Mutter. Trotzdem wird er seit diesem Tag in den Zeitungen und im Fernsehen regelmäßig als padrastro bezeichnet, als Stiefvater.

Vor dem Gatter zu Reiner Oberübers Grundstück versammeln sich von nun an immer häufiger Menschen, die Plakate mitgebracht haben: »Wo ist Juliette?« Sie rufen: »Mörder! Mörder!« Unter ihnen: Juliettes Großvater Rufino Zapata, der Vater von Lilian. Er spielt schon seit Jahren keine Rolle mehr im Leben seiner Tochter, die beiden haben sich voneinander entfremdet. Dennoch spricht er jetzt in zahlreichen Interviews darüber, wie Ober- über mit Juliette umgegangen sei: Kaltherzig sei er gewesen und habe das Mädchen nicht ausstehen können. Seine inhaftierte Tochter sei von ihrem Lebensgefährten manipuliert und solle endlich verraten, was sie weiß. Gegenüber der ZEIT will sich Rufino Zapata später nicht äußern.

Lilian Zapata bleibt dabei: Juliette sei plötzlich verschwunden, und weder sie noch Reiner Oberüber wüssten, wohin oder mit wem. Auch ihr werfen die Ermittler vor, ihre Fürsorgepflicht verletzt zu haben.

Anfang November 2020, Reiner Oberüber sitzt seit einem halben Jahr im Gefängnis, ist die vom paraguayischen Gesetz vorgesehene maximale Dauer der Untersuchungshaft abgelaufen. Oberüber müsste entlassen werden, zumindest bis zum Beginn eines möglichen Gerichtsverfahrens. Statt- dessen erhebt die Staatsanwaltschaft noch einen weiteren Vorwurf. Nicht Mord, nicht Entführung. Sondern: Besitz von Kinderpornografie. Von 80.000 Bildern ist die Rede. Die Untersuchungshaft wird verlängert.

Oberübers paraguayischer Anwalt legt Beschwerde ein, einer von drei heran gezogenen Richtern gibt ihr statt. Die anderen beiden jedoch erklären sich für »nicht zuständig«. Oberüber bleibt in Haft. Die ZEIT hatte Einsicht in die Ermittlungsakten. Schaut man sich die paar Dutzend Fotos mit den angeblich kinderpornografischen Auf- nahmen an, die die Staatsanwaltschaft für die Akten ausgewählt hat, dann sieht man: Juliette stupst Reiner Oberüber am Arm, Juliette sitzt Oberüber gegenüber im Restaurant, Juliette sitzt auf Ober- übers Schoß beim Baggerfahren. Viele der Fotos stammen vom Handy der Mutter. Unter ihnen steht der immer gleiche Satz: »In den Augen eines gewöhnlichen Menschen stellt dieses Bild keine Situation dar, die besondere Vorsicht gebietet. Aber bei einer pädophilen Person kann diese Fotografie sexuelle Fantasien provozieren.« Kein einziges der Fotos zeigt ein fremdes Kind.

Auf spätere Nachfragen der ZEIT, wie die Vorwürfe wegen der 80.000 Fotos zustande kamen, antwortet die Staatsanwaltschaft nicht. Als Oberüber das nächste Mal zu einer Anhörung gebracht wird, warten vor dem Gerichtsgebäude Demonstranten, schmeißen Eier auf den Gefängnisbus und skandieren: »Pädophiler!« Im Januar 2021 erklärt die ermittelnde Staatsanwältin Maria Irene Álvarez bei einer Pressekonferenz: »Wir sind kurz davor, den Fall aufzuklären.« Das ist jetzt sechs Monate her.

Die Fenster in Maria Irene Álvarez’ Büro sind hoch, die Vorhänge verwaschen und in die Jahre gekommen. Maria Irene Álvarez, eine von vier Staatsanwälten, die für den Fall zuständig sind, empfängt hinter einem ausladenden Schreibtisch. Die Ermittlungen dauerten an, sagt sie. Sie könne nicht von Mord sprechen. Aber durch die Verletzung der Fürsorgepflicht habe Oberüber den Boden für das Verschwinden des Mädchens bereitet. »Der Einzige, der das Grundstück an jenem Tag mit einem Fahrzeug verlassen hat, war Reiner Oberüber.« Keiner der Zeugen – nicht seine beiden Arbeiter, nicht die Mutter, nicht der Nachbar – hätten ein anderes Fahrzeug auf das Grundstück fahren sehen. Man habe alle anderen Hypothesen überprüft: Juliette könne sich nicht verlaufen haben – »wegen ihrer Behinderung konnte sie keine zehn Meter gehen, ohne zu stolpern«. Eine Lösegeld-Forderung habe es nie gegeben, Erpressung könne deshalb ausgeschlossen werden. Und für Menschenhandel als Motiv habe Juliette als Opfer zwar ein passendes Alter, aber wegen ihrer Behinderung »nicht die passenden Merkmale« . Sie sagt es nicht so direkt, aber bei dem Gespräch in ihrem Büro deutet jeder Satz von Maria Irene Álvarez darauf hin, was sie eigentlich sagen will: Es kann nur Reiner Oberüber gewesen sein. Wer sonst?

Ein lauer Abend am Rand der Kleinstadt Caacupé, nicht weit von Oberübers Grundstück entfernt. Auf einem Schild am Rande einer erdigen Piste steht auf Deutsch »Taunusweg«. Wind und Regen haben tiefe Rinnen in den Weg gefräst. Stromkabel schwingen sich von Holzmast zu Holzmast. Wer hier wohnt, muss sich seinen Strom selbst legen, den eigenen Brunnen bohren, Abwasser in die Sickergrube leiten – und bekommt im Gegenzug viel Boden für wenig Geld und einen spektakulären Ausblick auf unendliches Grün.

Es sind Deutsche, die hier wohnen. Caacupé ist ein Fluchtort für deutsche Verschwörungstheoretiker, mitten in Lateinamerika. Marc S., 41, ehemaliger Schichtleiter in einem Chemiekonzern, sitzt mit Vollbart und sonnen- festem Grinsen auf der Veranda seiner Villa. Er hat seine Nachbarn eingeladen: eine Buchhalterin und einen Frankfurter Transportunternehmer in Rente mit Gattin. Keiner hier will mit vollem Namen in der Zeitung stehen. Cocktails, Limos, Eiswürfel. Man sitzt auf weißen Polstern, oberhalb des Pools.

Sie alle sind in den vergangenen drei Jahren nach Paraguay übergesiedelt und haben sich vor- her nicht gekannt. Der Name Reiner Oberüber aber war jedem von ihnen ein Begriff. Sie hatten seine Videos auf YouTube gesehen. »Das Schöne hier ist, dass wir ähnliche Auffassungen haben«, sagt Marc S., »wir hinterfragen alles.« Oder wie es der Transportunternehmer in einer WhatsApp- Nachricht an Oberüber formuliert hat: »Wir beide haben unser Heimatland verlassen, um dem verdorbenen BRD-System den Rücken zu kehren.«

Marc S. und die anderen sind sich einig, dass 2015 bedrohlich viele Muslime nach Deutschland kamen und nun die nächste Gefahr bevorsteht: die Errichtung einer »Neuen Weltordnung« durch eine korrupte Elite im Zuge der Corona-Pandemie. Als Beweis, dass Prince Charles, Bill Gates und Klaus Schwab, der Gründer des Weltwirtschaftsforums, unter einer Decke stecken, zückt die Gattin des Transportunternehmers ihr Handy mit Fotos, auf denen diese einflussreichen Menschen die gleiche Anstecknadel am Revers tragen, und ruft: »Siehst du! Siehst du!«

Die Runde auf der Terrasse am Pool ist über- zeugt davon, dass Oberüber unschuldig ist. »Viel- leicht wollte jemand Reiner weghaben und hat zu drastischen Mitteln gegriffen«, sagt der Transportunternehmer. Vielleicht, wer weiß, sogar ein anderer Deutscher, Joachim S., der ebenfalls seit einigen Jahren in Paraguay lebt? S. hat den deutschen Auswanderern die Grundstücke verkauft und sie dabei – so schildern sie es – um Tausende Euro betrogen. S. war auch mit Oberüber im Geschäft. Mitarbeiter seiner Baufirma haben dessen Haus er- richtet, und S. sollte auch an Oberübers Immobilienprojekt beteiligt sein. Inzwischen befindet sich S. in Hausarrest. Er soll seine damalige Frau geschlagen und ihre Ermordung geplant haben.

Auch Oberüber behauptet, von S. um Geld betrogen worden zu sein. Und bei den »schwarzen Geschäften« des Joachim S. mit den anderen deutschen Auswanderern habe er ebenfalls nicht mitmachen wollen. Oberüber sagt, er halte es für möglich, dass Joachim S. hinter Juliettes Verschwinden steckt – S. habe ihn, Reiner Oberüber, »aus dem Weg räumen« wollen. Auf Anfragen der ZEIT reagierte S. bis Redaktionsschluss nicht.

In Reiner Oberübers Haus sind noch die Spuren der polizeilichen Durchsuchung zu sehen. Im Wohnzimmer liegt Juliettes kleines Fahrrad hinterm Sofa. Im Büro bedeckt ein Chaos aus Zetteln, Stiften und Lautsprecherboxen die zwei Schreib- tische. Kaufverträge und Grundbucheintragungen aus den Schubladen haben die Ermittler mitgenommen. »Ein Jammer, dieser Anblick, dabei ist mein Mandant so ein ordentlicher Mensch«, sagt Max Narváez, ein stämmiger Mann mit Schnauzer und Lederhut. Narváez ist Oberübers Anwalt.

Er geht hinaus auf den Hof zu der Wasserpumpe, von der Lilian Zapata sagt, dass sie ihre Tochter dort zum letzten Mal gesehen habe. »Das war laut Aussagen der Mutter zwischen halb zehn und zehn.« Narváez hat Teile der Ermittlungsakten dabei, er zieht jetzt ein paar Fotos daraus hervor, sie stammen von der Überwachungskamera einer acht Kilometer entfernten Eisenwarenhandlung. Man sieht einen weißen Ford Ranger, der neben der Straße parkt, und Reiner Oberüber, wie er aus- steigt. Die Uhrzeit: »09:30:11«. Auf einem zweiten Foto, ein paar Sekunden später aufgenommen, steigt auch Oberübers Arbeiter Gerardo aus dem Ford Ranger.

»Erst gegen zehn Uhr kam Reiner Oberüber zurück auf sein Grundstück, immer noch in Begleitung von Gerardo. Den hatte er bereits um acht Uhr abgeholt und war ständig mit ihm unterwegs gewesen. In der Zwischenzeit war Juliette längst verschwunden.« Der Ablauf des Vormittags – in der Schilderung des Anwalts klingt er eindeutig. Die Staatsanwaltschaft dagegen zieht die Zeitangaben der Mutter in Zweifel. Hat Lilian Zapata vielleicht gar nicht Juliette noch zwischen halb zehn und zehn gesehen? Deckt sie den Entführer oder Mörder ihrer Tochter?

Der Anwalt fragt zurück: »Welches Motiv sollten Lilian Zapata und Reiner Oberüber gehabt haben?« Zwischenzeitlich redete die Staatsanwaltschaft auch von einem möglichen Unfall mit Oberübers Geländewagen, den er habe vertuschen wollen. Der Anwalt sagt, das sei unlogisch. »Die beiden Arbeiter waren doch in unmittelbarer Nähe und hätten davon etwas mitbekommen.«

Und: Juliette könne sich, anders als von der Staatsanwältin Maria Irene Álvarez behauptet, sehr wohl verlaufen haben. Sie sei nämlich in der Lage, längere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Tatsächlich spricht die Staatsanwaltschaft selbst in ihren Ermittlungsakten von einem Vor- fall, bei dem Reiner Oberüber angeblich Juliette und das Kindermädchen gezwungen habe, mehr als zwei Kilometer zu Fuß zu laufen. Zu diesem Widerspruch äußert sich die Staatsanwaltschaft gegenüber der ZEIT auch nicht, trotz zahlreicher Anfragen.

Monatelang konnte sich Max Narváez kein klares Bild von dem Fall machen, konnte nicht einschätzen, welche Beweise vorlagen oder fehlten. Denn die Staatsanwaltschaft gewährte ihm keine Einsicht in die Akten. Irgendwann kam Narváez auf die Idee, die Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Asunción einzuschalten. Laut Konsulargesetz ist die Botschaft im jeweiligen Land dazu verpflichtet, sich für die Belange dort inhaftierter deutscher Staats- angehöriger einzusetzen – wenn die das möchten. Indem sie zum Beispiel den Häftling im Gefängnis besucht und sicherstellt, dass er von einem Anwalt vertreten wird.

Umso überraschter war Narváez, als Oberüber seinen Vorschlag ablehnte. Der Anwalt konnte ja nicht ahnen, dass Oberüber noch vor nicht allzu langer Zeit öffentlich erklärt hatte, er sei »kein Mitglied der BRD-Verwaltung«. Es waren dann Oberübers Schwester und sein Schwager, die sich von Deutschland aus an die Botschaft in Asunción wandten – und Reiner Oberüber davon überzeugten, sich helfen zu las- sen. Anfang November 2020 erschien der Leiter der Rechts- und Konsularabteilung bei Oberübers Anhörung vor der Haftrichterin. Kurz darauf bekam Narváez nach und nach endlich die Kopien der Akten . »Wieso schaut sich die Staatsanwaltschaft nicht auch andere Personen genauer an?«, fragt der An- walt. Da wäre nach Ansicht der deutschen Auswanderer und Verschwörungstheoretiker Joachim S., ihr zwielichtiger ehemaliger Geschäftspartner. Da wäre auch Rufino Zapata, der Großvater des Kindes, der ständig in den Medien darüber redet, wie schlecht Reiner Oberüber Juliette behandelt habe. Besucht man Juliettes Mutter in dem Gefängnis, in dem sie bis heute sitzt, sagt Lilian Zapata: »Reiner hat sich sehr gut um meine beiden Töchter gekümmert. Er ist unschuldig.« Sie berichtet, dass Charlotte, Juliettes Schwester, inzwischen beim leiblichen Vater lebt. Und dann erzählt sie, was sie bis dahin noch keinem Ermittler gesagt hat, nur vor vielen Jahren dem Vater ihrer beiden Töchter, der dies später gegenüber der ZEIT bestätigt. Sie spricht leise, aber bestimmt. »Ich bin bei meiner Großmutter aufgewachsen. Als ich acht war, hat mich mein Vater entführt. Er hat mich missbraucht und auch einem Freund ausgeliehen.«

Juliette war sieben, als sie verschwand.

Am 4. Mai 2021 erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Reiner Oberüber und Lilian Zapata. Die Anklageschrift liegt der ZEIT vor. Der Vorwurf, Oberüber habe seine Fürsorgepflicht verletzt, taucht darin nicht mehr auf, offenbar wurde den Ermittlern klar, dass sie ihn gar nicht erheben dürfen. Oberüber und seine Lebensgefährtin sind der »Aussetzung« angeklagt: Damit ist gemeint, dass jemand einen anderen in eine hilflose Lage bringt oder in einer hilflosen Lage im Stich lässt. Lilian Zapata und Reiner Oberüber haben laut Anklage am 15. April 2020 nicht »die nötige Zuwendung und Obhut« aufgebracht. So sei Juliette in eine »Situation der Unsicherheit und Gefahr« geraten, und das habe zu ihrem Verschwinden geführt. Was genau Oberüber und Zapata an jenem Tag falsch gemacht haben sollen, wird in der Anklageschrift nicht gesagt.

Inzwischen hat Lilian Zapata auch gegenüber den Ermittlern über die sexuelle Gewalt gesprochen, die ihr eigener Vater ihr angetan haben soll. Ob die Staatsanwaltschaft die Aussage zum Anlass nimmt, gegen Rufino Zapata ernsthaft zu ermitteln, bleibt unklar.

Gegen Oberüber aber wird laut Staatsanwaltschaft weiter wegen Besitz von Kinderpornografie ermittelt. Es geht allerdings nicht mehr um 80.000 Fotos – sondern nur noch um zwei: Das eine zeigt Juliette und Charlotte ohne Shirt in einem Bach. Das andere Juliette auf der Treppe zur Veranda von Oberübers Haus, die Beine leicht auseinander, mit Blick auf ihren entblößten Schritt. Laut Oberüber ein Schnappschuss, nachdem sich Juliette die Windel ausgezogen, sie aber nicht wie vereinbart in den Mülleimer geworfen hatte. Auch als Siebenjährige benutzte sie immer noch Windeln, was Oberüber und Lilian Zapata ihr abtrainieren wollten.

Mehr als ein Jahr nach dem Verschwinden des Kindes ergeben sich aus den Ermittlungsakten und der Anklageschrift keine Beweise dafür, dass Reiner Oberüber irgendetwas damit zu tun haben oder Juliette sexuelle Gewalt angetan haben könnte. Und dennoch sitzt er weiter in Haft und wartet auf seinen Prozess; vielleicht wird es noch monatelang dauern. Oberüber drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis. Man kann das mit dem von den Medien ausgeübten Druck in Verbindung bringen, einen Schuldigen zu präsentieren. Aber auch damit, dass in Paraguay rechtsstaatliche Prinzipien nur bedingt gelten.

Auf der Korruptionsrangliste von Transparency International belegt Paraguay Platz 137 von 180 Ländern, hinter Myanmar und vor Angola. In Südamerika gilt es neben Venezuela als das korrupteste Land. »Bestechung von Richtern und Staatsanwälten ist Alltag in Paraguay«, stellt der Länderreport von Transparency International fest. Auch das US-Außenministerium schreibt in einem Bericht über das paraguayische Justizsystem von »Korruption und Einfluss von außen«. Hat jemand – vielleicht Rufino Zapata, vielleicht Joachim S., vielleicht jemand ganz anderes – einen solchen Einfluss ausgeübt? Was nach einer von den Verschwörungstheorien klingt, zu denen Reiner Oberüber neigt, ist in einem Land wie Paraguay nicht völlig abwegig.

Berlin, Mitte Mai. Vor der Glasfassade des Auswärtigen Amts steht ein knappes Dutzend Menschen im Nieselregen. Sie halten selbst gebastelte Plakate in die Höhe: »Seit einem Jahr unschuldig eingesperrt«, »Befreit meinen Vater«, »Deutschland schweigt!«. Es sind Freunde und Angehörige von Reiner Oberüber, sein erwachsener Sohn aus erster Ehe ist dabei, sein Schwager, auch Martina Schäfer mit ihrem Hund Rudi. Oberübers Schwester hält ein Megafon in der Hand, durch das sie jetzt ruft: »Das Auswärtige Amt muss endlich ein Machtwort sprechen und vor Ort fordern, dass den wahren Tätern nachgegangen wird!« Auf ihr Kommando skandieren alle: »Freiheit für Reiner! Freiheit für Reiner!«

Dann betritt Reiner Oberübers Schwester das deutsche Außenministerium und gibt am Empfang einen Brief an Außenminister Heiko Maas ab. Darin schreibt sie, wie die Bundesrepublik Druck auf Paraguay ausüben solle: Entwicklungshilfe einfrieren, Reisewarnung an deutsche Bürger, erhöhte Präsenz der Diplomaten bei den ermittelnden Behörden in Paraguay.

Bisher hat Heiko Maas auf den Brief nicht geantwortet. So lange bleibt es bei der Auskunft, die der Familie von Mitarbeitern aus dem Ministerium gegeben wurde: Das Auswärtige Amt könne nicht direkt in das Verfahren eingreifen, Paraguay sei ein souveräner Staat. Dieser Grundsatz gilt im Prinzip für jeden der 1600 Deutschen, die derzeit im Ausland in Haft sitzen. Der ZEIT teilt das Auswärtige Amt zum Fall Oberüber mit: »Durch An- fragen beim paraguayischen Justizministerium, der Staatsanwaltschaft und der Haftanstalt hat die Botschaft deutlich gemacht, dass sie das Verfahren beobachtet.« Sie habe von ihren Möglichkeiten »in vollem Umfang Gebrauch gemacht«.

Reiner Oberüber legt noch immer Wert darauf, dass seine Familie, nicht er selbst, an die »BRD- Verwaltung« herangetreten sei. Inzwischen aber räumt er ein, dass es ihm doch ganz recht ist, wenn sich die deutsche Botschaft um ihn kümmert. Man könnte darin eine Demütigung sehen: Reichsbürger knickt ein vor dem Regime der Lügner und Betrüger. Reiner Oberüber ist allerdings ein Mensch, der sich etwas darauf einbildet, nicht einzuknicken. Er hält es längst für selbstverständlich, dass sich der Staat, der gar nicht existiert, für ihn einsetzt. Über die Bemühungen der deutschen Diplomaten sagt er: »Wenn die BRD es ernst meinen würde, würde es auch etwas bringen.«

Anfang dieser Woche versuchte der Anwalt Max Narváez, eine Haftrichterin davon zu über- zeugen, dass Oberüber schon viel zu lange in Untersuchungshaft sitzt und bis zum Gerichtsprozess freigelassen werden muss. Narváez war sich sicher: Diesmal gibt es eine echte Chance. Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe hatte er allerdings keinen Erfolg. Sollte es doch noch klappen, hätten die Diplomaten der verachteten BRD wohl durch- aus ihren Anteil daran gehabt. Februar 2021. Max Narváez steigt in einen Geländewagen. Er will mal wieder ins Gefängnis fahren, zu seinem Mandanten. Auf der Rückbank sitzt ein großer, schweigsamer Mann mit einem Magnum-Revolver in der Tasche. »Für unsere Sicherheit«, sagt Narváez. Er befürchte einen An- schlag auf sich, weil er Reiner Oberüber vertritt, sagt der Anwalt. Von den Leuten, die schuld sind an Juliettes Verschwinden.

Ein Jahr im Gefängnis. Ein Jahr, in dem sich im Internet unter Reiner Oberübers alten YouTube- Videos die Kommentarspalten gefüllt haben. Nicht mit Theorien zur Existenz der BRD. Sondern mit der immer gleichen Frage, auf Spanisch, aber in- zwischen auch auf Englisch und Deutsch: »Wo ist Juliette?« Es ist eine Lage, in der ein Mensch verzweifeln kann. Reiner Oberüber aber, als er neben seinem Anwalt unter dem Wellblechdach sitzt, wirkt eher aufgekratzt als deprimiert. »Ich will eine Pressekonferenz im Gefängnis geben«, verkündet er.

Narváez lehnt sich im Plastikstuhl zurück, verschränkt die Arme über seinem Bauch. »Die Zeit ist günstig!«, insistiert Oberüber. Er schlägt einen DIN-A4-Block auf, in den er mit präziser, nach rechts geneigter Schrift einen Text geschrieben hat. Richtet sich in seinem Plastikstuhl auf, blickt über seine Brille mit dem schmalen roten Rand, dieselbe Brille, die er in seinen YouTube- Videos manchmal beim Vorlesen preußischer Gesetzestexte trägt. »Es ist, als hätte man mir an jenem 15. April den Boden unter den Füßen weggezogen. Und der Fall in die Tiefe hat bis heute nicht auf- gehört. Niemals in meinem Leben habe ich so viel Leid und Elend, so viel Enttäuschung und Lügen sowie den absoluten Verlust meiner Freiheit erlebt.« Dann stellt Oberüber Fragen, viele Fragen, nach möglichen »Hintermännern dieses professionell organisierten Verbrechens, das von der Polizei und Staatsanwaltschaft gedeckt wird«.

Sein Anwalt sitzt einfach da und lässt ihn vorlesen. Er weiß, in solchen Momenten ist es schwierig, Ober- über in die Wirklichkeit zurückzuholen. Später, als er das Gefängnis verlassen hat, sagt Max Narváez: »Ich glaube nicht, dass der Direktor die Genehmigung für eine Pressekonferenz geben wird.«

Als er noch in Deutschland lebte, hat Reiner Oberüber in allem einen gigantischen Betrug gesehen, fühlte sich gegängelt und bevormundet. Es sieht fast so aus, als sei er auf der Suche nach der Freiheit in dem Scheinstaat angekommen, für den er die Bundesrepublik immer gehalten hat. In einem Staat, in dem das Gesetz nur auf dem Papier steht. Und die Mächtigen mit Reiner Oberüber tun, was sie wollen.