Zeitenspiegel Reportagen

Schachspiel mit dem Tod?

Erschienen auf focus.de zwischen 2.5. und 7.5.2020

Von Autor Bernd Hauser

Die Zahl der Toten mit Covid-19 ist in Schweden gemessen an der Bevölkerung aktuell drei Mal höher als in Deutschland. Trotzdem stehen die Schweden weiter hinter der Strategie ohne Lockdown. Jetzt gilt das Land der Weltgesundheitsorganisation sogar als vorbildlich: Eine Artikelserie über Staatsepidemiologe Anders Tegnell und den schwedischen Sonderweg in der Corona-Krise.

Der standhafte Zinnsoldat: Ebola lehrte Schwedens Staatsepidemiologe wichtige Lektion

Erschienen auf focus.de am 7.5.2020

„Es heißt, er spiele Schach mit dem Tod“, schrieb die Zeitung „Expressen“: Anders Tegnell verantwortet den Sonderweg Schwedens ohne Lockdown in der Corona-Krise. Wer ist dieser Mann? Was treibt ihn an?

Fast jeden Tag steht Anders Tegnell, 64, im verwaschenen Polo-Hemd oder einem Strickpullover vor den Kameras und erklärt, warum Schweden seinen ganz eigenen Weg in der Corona-Krise verfolgt. Mit hängenden Mundwinkeln, gerne die Hände in den Hosentaschen, beantwortet der schwedische Staatsepidemiologe alle Fragen ruhig und selbstgewiss: Ein Lockdown sei schädlich. Die dreifach höheren Todeszahlen im Vergleich zu Deutschland? Eine Momentaufnahme, kein Grund zu einer Kursänderung. Anders macht es anders: Wer ist dieser Mann?

Ein Leserbriefschreiber in der Tageszeitung „Göteborgs-Posten“ vergleicht ihn mit dem „standhaften Zinnsoldaten“ im Märchen von Hans Christian Andersen. Ein Leitartikler der Zeitung stellt ihn ironisch in die Nähe von Sven Dufva, einem Helden der Nationalromantik, der angeblich vor mehr als zweihundert Jahren eine Brücke allein gegen zahlreiche russische Angreifer hielt: „Tapfer verteidigt Tegnell uns gegen die pandemische Übermacht – und rettet uns am Ende!“ Dabei sei die Corona-Krise kein Heldenstück, warnt der Kommentator. Doch auch er zollt dem Epidemiologen Respekt: „Anders Tegnell verdient Lob für seine Ruhe, Integrität und Ausdauer.“

„Es ist eine Art Kult um ihn entstanden“, sagt Katarina Barrling, Politikwissenschaftlerin an der Universität Uppsala. „Er hat ein bescheidenes Auftreten, ist aber gleichzeitig selbstsicher. Ich würde sagen, er entspricht ziemlich genau dem Klischee eines Schweden.“ Für die Zeitung „Expressen“ ist er gar „eine Verkörperung der schwedischen Volksseele: effektiv, etwas langweilig, unglamourös, trocken humorvoll, aber niemals ohne einen Schuss nordischer Melancholie“.

Täglich pendelt er im Zug ins 175 Kilometer und eineinhalb Stunden entfernte Linköping, wo er zusammen mit seiner Frau in seinem Elternhaus lebt und im Garten Tomaten zieht. Das Paar hat drei Töchter. Zwei von ihnen sind Ärztinnen, eine arbeitete bei „Ärzte ohne Grenzen“ in Afrika. Laut der dänischen Zeitung „Politiken“ sagen die Töchter, der Vater sei „mehr Bürokrat als Arzt“, sie mokieren sich über seinen „langweiligen Kleidungsstil“. Offenbar fürchtet Anders Tegnell weniger als andere Menschen, nicht gebilligt oder akzeptiert zu werden: Auch wenn die Einladung zur Weihnachtsfeier im Büro als Dresscode festliche Kleidung vorgibt, kommt Tegnell im Strickpullover.

Vor ein paar Tagen bringt eine TV-Reporterin Tegnell aus der Fassung. Sie konfrontiert ihn damit, dass sich ein Mann Tegnells Konterfei in den Arm tätowieren ließ. Tegnell lacht. In seinem Gesicht ist Unglauben zu lesen, auch Verlegenheit. Schnell fängt er sich wieder: „Dafür muss er die Verantwortung selbst übernehmen. Aber die entstandene Hysterie liegt irgendwo zwischen bizarr und komisch.“

Zwar gibt es auch harsche Kritik an Tegnell. Zahlreiche Fachleute schrieben offene Briefe und Debattenbeiträge in Zeitungen, verlangten „Hammer und Tanz“-Ansätze wie in Deutschland oder Dänemark. Aber insgesamt findet Tegnells Weg weiter überwältigende Unterstützung in der Bevölkerung. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Sifo sagen nur 15 Prozent der Befragten, die Regierung hätte striktere Maßnahmen in der Corona-Bekämpfung ergreifen müssen. 10 Prozent nehmen die entgegengesetzte Position ein: Es werde zu viel für die öffentliche Gesundheit auf Kosten der Wirtschaft getan. Aber fast zwei Drittel der Befragten, nämlich 63 Prozent, finden die Maßnahmen genau richtig.

Wahrscheinlich kann man die Verehrung für einen Staatsdiener und die relativ große Einmütigkeit über den Weg der Corona-Bekämpfung nur verstehen, wenn man weiß, wie sehr die Schweden traditionell dem Staat und den Experten in den Fachbehörden vertrauen. Aber sicherlich liegt die Zustimmung auch an Tegnell selbst. Er betont, dass er die Strategie nicht allein bestimme, sondern in einem Kollegium mit einem guten Dutzend weiteren Verantwortlichen. Und seine offensichtliche Selbstsicherheit wirkt beruhigend.

Viele hat wohl Tegnells Erzählung aus Afrika überzeugt. Im Jahr 1995 flog er mit zwei weiteren jungen Kollegen nach Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo, um beim dortigen Ausbruch von Ebola zu helfen, erzählte er dem „Expressen“. Als erstes ließen die schwedischen Ärzte 200 Fahrräder aus Stockholm einfliegen, damit die einheimischen Medizinstudenten über die Dörfer fahren und über die Seuche aufklären konnten. Doch dann verbreitete sich Ebola nach einer Operation in einem Krankenhaus. Darauf verbot die zairische Regierung Operationen. Viele Menschen, so Tegnell, hätten damals unnötig den Tod gefunden. Sie starben nicht an Ebola, sondern an anderen Leiden. Eine OP hätte ihr Leben retten können. Anscheinend haben die Erfahrungen mit Ebola in Zaire den Staatsepidemiologen geprägt, auch für seine Handhabung der Corona-Krise: Es gehe darum, verschiedene medizinische und gesellschaftliche Risiken gegeneinander abzuwägen.

Schon einmal stand Tegnell mit dieser Haltung im Scheinwerferlicht – und in der Kritik. 2009 drohte sich die Schweinegrippe in Schweden zu verbreiten. Tegnell war damals einer der Experten, die dazu rieten, eine Massenimpfung der schwedischen Bevölkerung durchzuführen. Etwa 500 Kinder und Jugendliche erkrankten danach an Narkolepsie, ein Leiden, das sie ihr Leben lang begleiten wird. Damals sei diese Nebenwirkung der Impfung nicht bekannt gewesen, verteidigt sich Tegnell. Niemand wisse, was ohne Massenimpfung passiert wäre, aber sicherlich hätte es 100 bis 200 Todesopfer gegeben, argumentiert Tegnell für die Richtigkeit der Aktion.

Nach den jüngsten Zahlen sind in Schweden bisher 2854 Menschen durch das Corona-Virus gestorben. Pro Million Einwohner sind das 280 Tote. In Deutschland sind es momentan 84 Corona-Todesopfer pro Million Einwohner. Die Kurve in Schweden geht aktuell nach unten, von rund 100 Todesopfern pro Tag Mitte April auf rund 60 Todesopfer Ende April (für die Tage im Mai liegen noch keine abschließenden Zahlen vor). Am Dienstag führte Tegnell auf dem Stockholmer Bahnhof am Laptopschirm ein Interview mit Trevor Noah von der in den USA viel beachteten „Daily Show“. Die vielen Toten seien für seine Behörde eine Überraschung gewesen, gab Tegnell zu: „Wir sind sehr besorgt über die Zahl der Todesopfer. Wir haben sie nicht in Kauf genommen.“ Niemand in Schweden habe zunächst damit gerechnet, dass das Virus derart in den Senioren- und Pflegeheimen wüten könnte und betagte Menschen „so extrem anfällig“ sein würden.

Er gehe davon aus, dass das Corona-Virus „nie mehr ganz verschwinden werde“. Positiv sei, dass im Großraum Stockholm, wo fast die Hälfte der Schweden zu Hause sind, den Schätzungen seiner Behörde nach bereits 20 bis 25 Prozent der Einwohner infiziert waren, viele davon wohl, ohne dies überhaupt zu bemerken. Damit sei bereits ein erstes Immunitätslevel erreicht, um bald erste Beschränkungen aufzuheben. „Das Gesundheitssystem war nie überlastet, unsere Strategie ist erfolgreich.“

Sollten also andere Länder Schwedens Weg übernehmen? „Einige Dinge können angewendet werden, andere nicht“, meint Tegnell. So sei er „zunehmend sicher“, dass die Schulen „kein entscheidender Motor der Ausbreitung und Schließungen nicht die richtige Methode“ seien: „Die Schulen offen zu halten, ist für Kinder und ihre Gesundheit sehr wichtig.“ Andererseits sei die schwedische Situation nicht einfach übertragbar: „Die Menschen haben Vertrauen in unsere Behörde und unsere Richtlinien, sie tun, was wir sagen. Das ist anders als in vielen anderen Ländern.“

Nur theoretisch gut: Schwedens Corona-Experte hält nichts von Deutschlands Strategie

Erschienen auf „focus.de“ am 4.5.2020

In einem Zeitungsbeitrag greifen Forscher die schwedische Corona-Politik an. Das Land brauche eine „Hammer und Tanz“-Strategie, um noch mehr Tote zu vermeiden. Doch Staatsepidemiologe Tegnell kontert: So ein „Stotterbremsen“ funktioniere in der Praxis nicht.

Aus langen Wintern wissen die Schweden, wie „pumpbromsa“ geht. Das deutsche Wort dafür ist „stotterbremsen“: In die Bremse treten, sie lösen, wiederholen, in schneller Folge. Ohne Antiblockiersystem ist die Stotterbremse oft die einzige Rettung. Bei eisglatter Fahrbahn verhindert sie machtloses Rutschen in den Crash. „Pumpbromsa“, dieses Wort benutzte nun Anders Tegnell, um die schwedische Strategie gegen den „Hammer und Tanz“-Ansatz zu verteidigen: Bei Corona funktioniere die „Stotterbremse“ nicht, meint der Staatsepidemiologe.

Fünf Forscher hatten in der Zeitung „Dagens Nyheter“ die „Hammer- und Tanz“-Strategie für Schweden gefordert. Dabei werden der Bevölkerung in der „Hammer“-Phase bekanntlich große Restriktionen auferlegt, um die Neuinfektionen sehr weit zu drücken. Dann können die Einschränkungen gelockert werden und der „Tanz“ übernimmt: Umfangreiche Tests sollen etwaige regional ausbrechende Seuchenherde früh erkennen, die dann mittels erneuter harter Beschränkungen erstickt werden können. Mit dieser Strategie, so die Forscher, könne Schweden Zeit gewinnen, bis Medikamente und Impfstoffe vorliegen, und viele Todesfälle verhindern. Für Gesamtschweden sei es dafür zu spät, aber für Teile des Landes, die bislang von der Seuche weitgehend verschont sind, sollte sie eingeführt werden, so die Forderung.

„Theoretisch mag eine solche Stotterbremse gut klingen“, sagt Anders Tegnell, 64, der Nachrichtenagentur „Tidningarnas Telegrambyrå“. „In der Praxis ist sie jedoch schwierig. Beispielsweise ist es nicht möglich, alle paar Wochen Schulen zu eröffnen und wieder zu schließen.“ Man könne die Strategie nicht so lange durchhalten, bis Therapien vorlägen: „Die Folgen sind viel zu umfangreich.“ So würden manche Länder ja die Schulen inzwischen wieder öffnen – die in Schweden bis zur achten Klasse nie geschlossen waren. Nur die Oberstufe und die Universitätsstudenten werden über digitale Plattformen unterrichtet.

Die Sterblichkeitsraten in benachbarten Ländern, die „Hammer und Tanz“-Taktiken anwenden, sind viel niedriger als in Schweden. Nach den jüngsten Zahlen sind in Schweden 2669 Menschen mit dem Corona-Virus gestorben. Das sind 262 Todesopfer pro Million Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland und Dänemark sind es nur je 82 pro Million Einwohner.

Für Tegnell ist dies kein Grund zum Umsteuern: „Wir sind noch lange nicht am Ende der Straße angekommen, deshalb wissen wir nicht, wie das Endergebnis aussehen wird.“ Die Sterblichkeitsraten in Schweden seien bislang so hoch, weil das Virus offenbar zu Beginn der Ausbreitung in viele Alten- und Pflegeheime eindringen konnte. In der Seniorenpflege müssten die Abläufe deshalb genau untersucht und verbessert werden.

Er verweist auf Belgien und die Niederlande, dort sei es trotz Lockdowns zu höheren Morbiditäts- und Mortalitätsraten gekommen. Die Niederlande beklagen aktuell 290 Tote pro Million Einwohner, Belgien gar 680. Außerdem wäre die Wiederöffnung der Gesellschaft schwierig: „Wir wissen nicht, was passiert, wenn die Ausbreitung erneut beginnt, nachdem die Beschränkungen gelockert worden sind.“

Für regionale Lockdowns seien die schwedischen Landesteile „viel zu sehr miteinander verbunden“. Selbst für eine Insel wie Gotland mit ihren 57.000 Bewohnern sei eine Abschottung nicht möglich: „Gotland ist vom Festland abhängig, nicht zuletzt bei der Gesundheitsversorgung. Die Menschen müssen sich hin und her bewegen können.“

Derweil gibt es erste Anzeichen für eine Entspannung der Situation. Am 1. Mai gaben die Gesundheitsbehörden bekannt, dass die Reproduktionszahl seit 21. April unter 1 liege, also steckt jeder Infizierte im Schnitt weniger als eine Person an, so dass die Seuche nach und nach verebbt – wenn der R-Wert nicht wieder ansteigt. Auch die Todesfälle sinken – von täglich über 100 an Covid-19 Gestorbenen Mitte April auf rund 60 pro Tag gegen Ende des Monats.

Insgesamt sehe er gar keinen fundamentalen Gegensatz des schwedischen Ansatzes zur „Hammer- und Tanz“-Strategie, meint Tegnell: Zwar gibt es keinen umfassenden Lockdown, aber viele Anpassungen an die Krise. Die Lokale beispielsweise sind zwar offen. Aber sie dürfen nicht an der Bar, sondern nur am Tisch servieren und sie müssen ausreichend Platz zwischen den Tischen haben. Die Behörden kontrollieren den Betrieb. Über das erste Mai-Wochenende mussten eine Anzahl Lokale schließen, weil sie sich nicht genau an die Corona-Regeln hielten. Die Presse veröffentlichte die Namen der Lokale, was geschäftsschädigend sein dürfte: Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis zu glauben, in Schweden herrsche Laissez-faire. Wenn Appelle an Vernunft und Gemeinsinn nicht wirken und Regeln verletzt werden, sind Sanktionen die Antwort.

Zum 1. Mai fielen die traditionellen Feiern aus. Ministerpräsident Stefan Löfven verbreitete seine Rede über Youtube und Facebook. Anders als gewöhnlich stand der Sozialdemokrat dabei nicht vor roten Fahnen. Nur Schwedenflaggen schmückten den Hintergrund: In der Corona-Zeit, so die Botschaft, soll es kein Partei- und Lagerdenken geben.

Löfven drohte nicht, er lobte. Die Solidarität der Menschen, ihre Fähigkeit zusammenzustehen. „Wir haben viel getan, aber wir dürfen uns nicht entspannen, wir müssen noch mehr tun.“ Der Tag werde kommen, da die Schweden ihre betagten Verwandten wieder besuchen könnten, das Leben wieder seinen gewohnten Gang gehe. „Dieser Tag ist noch nicht da. Er ist noch nicht einmal in der Nähe. Aber er wird kommen.“

„Auf langen Strecken zu Hause“, lautete der Slogan der einstigen Automarke Saab. In der Corona-Krise stellen sich die Schweden wieder auf eine lange Strecke ein.

WHO will von Sonderweg lernen: Plötzlich wird Schwedens Corona-Strategie zum Vorbild

Erschienen auf „focus.online“ am 02.05.2020

Die Zahl der Toten mit Covid-19 ist in Schweden gemessen an der Bevölkerung aktuell drei Mal höher als in Deutschland. Trotzdem stehen die Schweden weiter hinter der Strategie ohne Lockdown. Jetzt gilt das Land der Weltgesundheitsorganisation sogar als vorbildlich.

Der letzte Apriltag ist für junge Schweden gewöhnlich eine große Sache. In der Universitätsstadt Lund zum Beispiel versammeln sie sich gerne zu einem Frühstück mit Champagner, bevor es in den Stadtpark geht, zum Grillen und Vorglühen für den abendlichen Gesang am Freudenfeuer der Walpurgisnacht: Endlich Frühling!

Aber in diesem Jahr blieb der Stadtpark leer. Stattdessen ließ sich Bürgermeister Philip Sandberg in Arbeitskleidung dabei fotografieren, wie er Hühnerexkremente auf dem Gras verstreute. Auf Facebook kündigte er seine Aktion an: „In einem Park zu sitzen, der nach Hühnerdung stinkt, ist kein angenehmes Erlebnis.“ Dafür gibt es 731 Likes und Herzen – und nur ein einsames Wütend-Emoji. Die Kommentare darunter sind fast alle positiv. „Sehr kreativ!“, heißt es da. Und: „Genial!“

In Schweden gibt es in der Corona-Krise nach wie vor keinen Lockdown. Versammlungen bis zu fünfzig Personen sind erlaubt. Der Staat setzt auf die Einsicht seiner Bürger. Erkennen nun die Behörden, dass die Menschen sich nicht auf Dauer freiwillig einschränken?

Das Eigenverantwortungsgefühl sei in Schweden zwar höher, sagte Virologe Christian Drosten vor einigen Tagen dem ORF. „Aber jetzt sehen wir, das hat nicht gereicht. Die Sterbezahlen gehen rapide nach oben.“ Am Ende würde Schweden gezwungen sein, eine ähnliche Strategie zu fahren wie andere Länder auch und die Maßnahmen verschärfen müssen. „Nur dann mit viel höheren Todesfällen im Verhältnis zur Bevölkerung.“

Bis Ende April sind in Schweden 2586 Menschen mit einer Corona-Infektion gestorben. Auf eine Million Einwohner kommen 248 Corona-Tote. Damit liegt der aktuelle Wert um mehr als das Dreifache höher als in Dänemark (76 Todesfälle pro Million Einwohner) und Deutschland (78).

Doch den obersten Seuchenbekämpfer in Schwedens Gesundheitsbehörde ficht diese Relation nicht an. Stoisch steht Staatsepidemiologe Anders Tegnell, 64, fast täglich in einem seiner Wollpullover vor der Presse, selbstgewiss wie ein Mathelehrer beim Unterrichten des Einmaleins. Schweden sei nicht auf dem Holzweg. „Im Gegenteil beginnen nun mehrere Länder sich nach dem schwedischen Weg zu richten.“ Dänemark etwa. Das Land öffnete bereits nach Ostern die Grundschulen wieder – vor allem, um die Eltern und damit die Wirtschaft zu entlasten, wie die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen erklärte. „Die langfristige Haltbarkeit in strikten Regelwerken ist nicht so groß“, sagte Tegnell vdem dänischen Fernsehen DR. Es bräuchte Lösungen, die über lange Zeit durchhaltbar sind, um Wirtschaft und Gesellschaft nicht zu schaden.

Allerdings sei die Zahl „der Toten mit Covid-19 erheblich höher als wir hofften“, gab Tegnell zu. „Das gilt vor allem für Bewohner in Pflegeheimen.“ Zwar hätte seine Behörde darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, die Betagten zu schützen. „Aber niemand nahm an, dass die Infektion so leicht in die Heime eindringen konnte.“ Doch stellten die vielen Ansteckungen in den Heimen ein „separates Problem“ dar, dort gelte es, die Anstrengungen gegen Covid-19 zu verstärken. Die Gesamtstrategie stellten sie nicht in Frage.

Laut neuen Prognosen von Statistikern könnten auf Schweden am Ende 8000 bis 20.000 Tote mit Covid-19 zukommen. „Keine unwahrscheinlichen Zahlen“, kommentierte Tegnell. Trotzdem steht die Bevölkerung offenbar weiter zu dem Weg, wie Behörden und Regierung gesellschaftliche und wirtschaftliche Risiken der Infektionsbekämpfung mit dem Lebensschutz auszubalancieren versuchen. Die Facebook-Gruppe „Setzt Tegnell ab – JETZT!“ hat 1297 Mitglieder. Aber die Gruppe „Anders Tegnell Fan Club“ kommt auf 30.936 Mitglieder. Schwedens sozialdemokratische Partei mit Regierungschef Stefan Löfven an der Spitze stand Ende Februar bei 22 Prozent in den Umfragen, nun sind es 29 Prozent. 73 Prozent der Befragten sagen, sie hätten „sehr großes“ oder zumindest „ziemlich großes“ Vertrauen in die Gesundheitsbehörden. Und Sydsvenskan, die Regionalzeitung in Malmö, titelt an diesem 1. Mai überrascht: „Plötzlich wird Schwedens Corona-Strategie zum Vorbild.“

In Genf sagt Mike Ryan, als Direktor für Notstände und Katastrophen ganz oben in der Hierarchie der Weltgesundheitsorganisation WHO: „Wir können möglicherweise von unseren Kollegen in Schweden lernen.“ Nämlich, „wie man zu einer Gesellschaft ohne Lockdown zurückkehrt.“ Es sei ein großes Missverständnis, dass Schweden es dem Virus erlaubt habe, sich in der Gesellschaft zu verbreiten, ohne notwendige Restriktionen. „Anders als andere stützte sich Schweden sehr stark auf seine Beziehung mit seinen Bürgern.“ Das Land habe den Menschen zugetraut, dass sie bereit seien, sich selber zu regulieren und „Social Distancing“ einzuhalten.

Ausländische TV-Sender filmen für ihr staunendes Publikum mit Teleobjektiv die teils gut besetzten Terrassen in der Sonne, so dass der Eindruck von dichtem Betrieb im Café-Leben entsteht. Dabei sind viele Lokale in Schweden nur spärlich besucht. Manche haben auch freiwillig geschlossen. Über Ostern blieben 92 Prozent der Stockholmer zu Hause – obwohl sie normalerweise die Stadt in Scharen verlassen.

„Ich glaube, Schweden zeigt ein Modell für die Zukunft“, sagt WHO-Direktor Mike Ryan. „Wenn wir zu einer Gesellschaft ohne Schließungen zurückwollen, muss sie über einen potentiell langen Zeitraum hinweg die physischen und sozialen Bedingungen an das Virus anpassen.“ Also so lange, bis Therapien und Impfungen vorliegen oder auch, wie Tegnell meint, durch zahlreiche Infektionen in der Bevölkerung Immunität erreicht wird. Eine Reporterin des dänischen Fernsehens fragte Tegnell: „Nicht alle Experten sind sich einig, dass Herdenimmunität möglich ist. Sind Sie es?“ – „So sicher, wie man sein kann“, antwortete Tegnell. „Alle Länder brauchen Herdenimmunität, um die Infektion langfristig zu kontrollieren.“

So umstritten Tegnells Standpunkt in der internationalen Debatte, so sicher ist, dass es in Schweden eigentlich keine Hühnerexkremente braucht, um junge Leute vom Feiern abzuhalten. Nicht in dem Land, in dem Gemeinsinn eine Haupttugend ist. Das weiß auch Bürgermeister Sandberg. „Die Uni-Studenten und Gymnasiasten sind fantastisch“, schreibt er auf Facebook zu seiner Düng-Aktion im Lunder Stadtpark. Nicht nur, dass sie zu Hause studieren müssen. Sie hätten Partys abgesagt und bald würden sie auf die traditionellen Schulabschluss-Feiern verzichten, ein großes Opfer: „Die allermeisten machen das mit Bravour, weil sie wissen, dass sie selbst eine Rolle dabei spielen, die Infektion zu stoppen.“