Zeitenspiegel Reportagen

Ein Spaziergang mit ... Gülcan Nitsch

Erschienen in "natur" 06/16. Fotos: Sascha Montag

Von Autor Markus Wanzeck

Die Biologin gründete 2006 in Berlin-Kreuzberg Yesil Çember, die erste türkischsprachige Umweltschutzinitiative in Deutschland. In den zurückliegenden zehn Jahren baute sie ein interkulturelles Netzwerk auf, das heute bundesweit aktiv ist.

Ein kalter Freitagmorgen in Berlin-Kreuzberg. Die Wiege der türkischsprachigen Umweltbewegung in Deutschland wirkt unwirtlich. Grau der Himmel. Grau die Stadtlandschaft am Kottbusser Tor. Das NKZ, ein mit Satellitenschüsseln gespickter 1000-Menschen-Wohnklotz, liegt wie eine Betonschranke über der Adalbertstraße. Davor, darunter: das Café Simitdchi. Eilige Laufkundschaft an der Theke. An den Tischen Menschen mit Zeit, manche sind reich damit gesegnet. Vor ihnen: dampfender Schwarztee und Simitler, türkische Sesamkringel. Hier sind wir mit Gülcan Nitsch verabredet. Erst ein Tee. Dann ein Spaziergang durch den Kiez, in dem alles begann.

Nitsch: Guten Morgen! Tut mir leid, dass ich etwas spät dran bin. Es war ein langer Abend gestern. Hier, schauen Sie.

Sie zieht ein Faltblatt aus ihrer Umhängetasche. „Yesil Evlilik“ steht darauf, „Grün Heiraten“.

Diese Kampagne haben wir gestern Abend offiziell gestartet, zusammen mit einem Ökostrom-Anbieter und einer nachhaltigen Bank. Es gab eine Pressekonferenz, auch der türkische Vizekonsul war da. Wir möchten, dass die Menschen an ihrer Hochzeit nicht nur sich selbst, sondern auch die Umwelt glücklich machen. natur: Hat man am Hochzeitstag nicht schon genug andere Sorgen?

Türkische Hochzeiten sind unglaubliche Konsumveranstaltungen. Allein schon die Größe! Man lädt einfach jeden ein, den man kennt. Und verschuldet sich oft dafür. Als ich 15 war, hat meine ältere Schwester geheiratet – mehr als 1000 Gäste! Da die türkische Tradition keine Wunschliste kennt, bekommt das Hochzeitspaar vieles doppelt geschenkt. Warum also nicht eine Wunschliste, um Verschwendung zu vermeiden? Warum nicht Mehrweg- statt Einweggeschirr? Warum nicht Einladungen auf Recyclingpapier? Wir wollen die Aufmerksamkeit auf die CO2-Bilanz des Heiratens lenken.

Nicht sehr romantisch.

Tja. Die Berge an Geschenken sind auch nicht romantisch. Und Schuldenberge schon gar nicht. Außerdem ist die Hochzeit ein guter Anlass, um in seinem Leben Weichen zu stellen. Wenn ein Paar zusammenzieht – das ist doch der ideale Zeitpunkt, um den Stromanbieter oder die Bank zu wechseln.

Welche Umweltschutzpotenziale sehen Sie?

Wir könnten viele tausend Tonnen CO2 einsparen. Allein beim Generalkonsulat in Berlin haben letztes Jahr 220 türkische Paare geheiratet. Deutschlandweit dürften es 2000 bis 3000 sein. Ein Bruchteil der türkischstämmigen Menschen in Deutschland.

Das stimmt. Allein in Berlin dürften um die 220 000 Türkischstämmige leben, deutschlandweit drei Millionen. Aber wir haben ja auch noch andere Kampagnen. (Sie zieht weitere Infobroschüren aus ihrer Umhängetasche.) Hier, darin geht es um ökologisches Putzen. Und das ist „Atomausstieg selber machen“. Die türkische Version. In zehn Jahren haben wir mehr als 50 000 Menschen mit unseren Kampagnen erreicht. Und wir sind ständig gewachsen. Heute engagieren sich über 100 Ehrenamtliche in zwölf deutschen Großstädten für Yesil Çember. Wir hoffen, dass uns bald 2000 Ehrenamtliche unterstützen – und wir so bis zum Jahr 2020 eine Million Menschen erreichen!

Klingt ähnlich ambitioniert wie Merkels Ziel, bis 2020 eine Million E-Autos auf die Straßen zu bekommen. Man muss sich große Ziele setzen – und sich dafür engagieren. Gerade auch wir türkischstämmigen Menschen in Deutschland. Wir leben seit 50 Jahren hier. In vierter Generation. Und wir sind in so vielen Bereichen aktiv. Doch beim Umwelt- und Klimaschutz sind wir noch ein kleines, kleines Lichtlein. Das muss sich ändern! Dann wird die türkische Community auch ein positiveres Bild in der deutschen Gesellschaft bekommen.

Was prägt dieses Bild?

Zumindest in Berlin ist es doch so: Wenn der Tiergarten mal wieder vermüllt ist, heißt es, das waren die Türken, die ein Grillfest gefeiert haben.

Ist das aus der Luft gegriffen?

Ich bin gegen Pauschalisierungen. Natürlich gibt es türkische Familien, die ihre Picknickabfälle im Park liegenlassen. Aber auch solche, die sehr vorbildlich sind. Viele türkischstämmige Berliner nehmen die Mülltrennung ernster als ihre deutschen Nachbarn. Und die türkische Community ist selbst sehr heterogen: Aleviten, Kurden und so weiter. Wer, wie ich, hier geboren ist und einen deutschen Pass hat, bei dem wird es noch komplizierter.

Nitsch erblickt eine Freundin, winkt ihr zu. Sie tritt an unseren Tisch. „Merhaba!“, grüßt sie, beginnt eine Unterhaltung auf Türkisch. Nitsch zeigt auf mich.

Nitsch: Er spricht übrigens kein Türkisch.

Freundin: Oh, kein Problem. Ich dachte, in einem türkischen Café, dass sie auch Türkisch sprechen würden.

Leider nicht.

Freundin: Na, wir sind auch der deutschen Sprache mächtig … Wie ich höre, unterhalten Sie sich gerade über Yesil Çember. Eine gute Sache! Auch der türkischstämmige Teil der Gesellschaft sieht, was mit der Umwelt passiert. Der ist nicht auf den Kopf gefallen. Aber es braucht konkrete Anleitungen und Rituale, damit die Menschen lernen, wie sie selbst zur Lösung der Probleme beitragen können.

Nitsch: Nehmen Sie zum Beispiel unsere Broschüre über das Putzen. Die haben wir hier in Kreuzberg tausendfach verteilt. Da werden ganz gezielt Handlungsanweisungen gegeben, die kulturelle Eigenheiten berücksichtigen. Türkische Frauen sind nämlich regelrechte Putzfetischistinnen. Für die deutsche Community sind diese Broschüren nicht so relevant.

Sind die Deutschen nicht so reinlich?

Jedenfalls hantieren sie nicht mit 20 verschiedenen Reinigungsmitteln. Und schon gar nicht mit diesen giftigen Sachen, die Sie hier in Kreuzberg überall in den türkischen Geschäften kaufen können. Schwefelhaltiges Zeug, das in Deutschland eigentlich gar nicht mehr erlaubt ist. Oder chlorhaltige Mittel. Damit reinigen viele sogar ihre Teegläser, damit die Ränder schön sauber werden. Ich hoffe nur, dass das hier im Café nicht gemacht wird.

Wir trinken unseren Tee aus, verabschieden uns. Als wir nach draußen treten, rieselt uns Nieselregen ins Gesicht. Wir gehen, das Kottbusser Tor im Rücken, die Adalbertstraße hinauf.

Hier fand vor zehn Jahren unsere erste Aktion statt. Wir haben türkische Passanten angesprochen, die mit Plastiktüten unterwegs waren, und ihnen Stoffbeutel geschenkt.

Kreuzberg ist also die Keimzelle der türkischsprachigen Umweltbewegung in Deutschland.

Definitiv. (Sie lacht.) Hier um die Ecke fand 2007 der erste Türkische Umwelttag statt. Eine schöne, gesellige Veranstaltung, auf der die Menschen miteinander ins Gespräch kommen, gemeinsam Tee trinken. So etwas ist ganz wichtig, wenn man türkische Menschen erreichen möchte. Das ist deutschen Umweltverbänden oft nicht so bewusst.

Haben Sie deshalb damals Ye?il Çember gegründet?

Genau, das war der Punkt: dass deutsche Umweltorganisationen so gut wie keinen Zugang zur türkischen Community haben. Was an der Sprachhürde liegt, aber eben auch an der Form, an den Umgangsformen. Also habe ich innerhalb des BUND Berlin eine türkischsprachige Gruppe gegründet. Die Kollegen waren sofort begeistert von der Idee. Aber ansonsten überwogen Skepsis und Kritik.

Weshalb das?

Als ich das Konzept auf einer Konferenz vorgestellt habe, kamen anschließend Leute zu mir und sagten: Was Sie tun, ist nichts Gutes! Sie sorgen dafür, dass eine Parallelgesellschaft entsteht! Die haben überhaupt keine Ahnung, wie sehr sich eine solche Parallelgesellschaft bereits entwickelt hat. In der türkischen Community gibt es viele, die kein Deutsch können, das ist nun einmal so. Ja, manche können nicht einmal lesen und schreiben! Was sollen Analphabeten mit einer Broschüre oder Website über Naturschutz anfangen?

Sie wollen keine Parallelgesellschaft betonieren, sondern Brücken bauen.

Die meisten Menschen wollen sich in die Gesellschaft einbringen, sich engagieren. Sie wissen nur nicht, wie. Der Umweltschutz ist dafür ideal. Er ist das Querschnittsthema überhaupt. Zum einen, weil völlig egal ist, ob jemand in Deutschland, der Türkei oder Italien wohnt. Dort, wo man lebt, sollte man auch Verantwortung dafür übernehmen, dass ein gutes gemeinsames Leben möglich ist.

Und zweitens?

Zweitens ist die Welt inzwischen so globalisiert, dass jedem von uns klar ist: Wir sind, direkt oder indirekt, auch für vieles verantwortlich, was am anderen Ende der Welt passiert. Einfach durch unser alltägliches Konsumverhalten.

Wir gehen die Oranienstraße entlang. Kneipen. Graffiti. Zur Rechten ein Hauseingang, wir gehen hindurch bis in einen Hinterhof. Eine Tür, sie ist offen, zwei Frauen begrüßen uns: „Selam!“

Da sind wir. Hier fand unser erster Umwelttag statt. Wir hatten keine Ahnung, ob so etwas auf Interesse stoßen würde. Aber dann war der Saal voll, 150 Leute oder mehr. Nach der Veranstaltung kamen einige türkische Frauen und sagten: Das müsst ihr öfter machen.

Das haben Sie getan.

Ich hätte nie gedacht, wie sich das einmal entwickeln würde. Daraus wurde der Deutsch-Türkische Umwelttag, den es inzwischen auch in Köln, Hamburg, München, Stuttgart und anderen Städten gibt. Nach diesem ersten Umwelttag in Kreuzberg wussten wir, das Konzept funktioniert – wenn man die türkische Community richtig anspricht.

Geselligkeit und Tee.

Das gehört auf jeden Fall dazu. Und es ist auch nicht verkehrt, die Menschen auf einer etwas emotionaleren Ebene anzusprechen. Nehmen Sie nur unsere Hochzeitskampagne. Das ist kitschig. Und funktioniert. Wichtig sind auch Bilder, Metaphern. Nicht nur, aber besonders auch bei jenen, die nicht so gebildet sind. Denn das ist das nächste Vorurteil, das wir über die Jahre entkräften konnten: dass das Umweltbewusstsein vom Bildungsgrad abhängt. Das ist Quatsch.

Quatsch?

Quatsch! Man muss nur wissen, wie man die Menschen so anspricht, dass sie einen verstehen, einem vertrauen. Vor einem Monat war eine unserer Ehrenamtlichen in einer Weddinger Moschee. Sie erzählte dort Frauen von den giftigen Putzmitteln. Gläubigen Frauen. Sie sagte ihnen: Wenn ihr diese Mittel verwendet, zerstört ihr die Schöpfung, vergiftet ihr eure Kinder. Von 20 Frauen haben 18 aufgehört, die Reiniger zu verwenden. Was wir tun, betrifft direkt den Alltag der Menschen.

Wir gehen weiter, zum Mariannenplatz. Dort befindet sich das Bethanien, früher Kranken-, heute Künstlerhaus. Im Juni findet hier ein Nachbarschaftsfest statt, müllfrei, koordiniert von Yesil Çember.

Würden Sie sagen, deutsche Umweltverbände sind zu verkopft?

Das wäre wieder zu pauschal gesprochen. Es gibt Positivbeispiele, gerade auch bei den Jugendorganisationen der Natur- und Umweltschutzverbände. Die wählen meist eine einfache, anschauliche Sprache ohne Zeigefingerrhetorik. Legen Wert auf gemeinsame Aktivitäten, sind menschennah. Aber viele Verbände sind zu politisch, zu abstrakt für einen Großteil der türkischstämmigen Community. Und offenbar auch für viele der Deutschen.

Wie kommen Sie darauf?

Bei manchen Verbänden sind 80 Prozent der Mitglieder Akademiker. Ich finde das schockierend. Denn das bedeutet, sie repräsentieren nicht die Gesellschaft, sondern nur eine Elite. Sie erfüllen ihre gesellschaftliche Aufgabe nicht.

Könnte das nicht doch ein Hinweis darauf sein, dass Umweltbewusstsein und Bildung zusammenhängen? Das glaube ich absolut nicht. Und wenn, dann nicht so, wie viele dies interpretieren: dass gebildete Menschen quasi automatisch umweltfreundlicher leben.

Sie zeigt auf meine Hose.

Jeans, bestimmt nicht billig. So etwas trägt man in der Bildungsschicht. Ohne sich zu fragen, wie das hergestellt wird. Diese Jeans sind eine Katastrophe!

Betroffen schaue ich an mir herunter.

Auf einer Umweltkonferenz hab ich mal gezielt den Teilnehmern auf die Hosenetiketten geschaut. Ich wollte wissen, welche Marken sie tragen. Das waren alles teure Jeans. Weit davon entfernt, umweltfreundlich oder fair zu sein. Fragen Sie einmal die Mitglieder der Umweltverbände, wer von ihnen Ökostrom bezieht, Fahrrad fährt, aufs Fliegen verzichtet. Da gibt es oft einen Widerspruch zwischen dem Reden, vielleicht auch dem Denken, und dem Handeln.

Verleiten große, abstrakte Begriffe – Klimawandel, Globalisierung, Nachhaltigkeit – dazu, den Blick für das Naheliegende, Konkrete zu verlieren?

Diese Gefahr besteht. Wobei wir da auch bei Yesil Çember aufpassen müssen. Wir haben gewissermaßen den türkischen Begriff für Nachhaltigkeit eingeführt.

Wie lautet er?

Sürdürülebilirlik. Das ist sogar für Türken ein Zungenbrecher. Kannte vor zehn Jahren keiner, nicht einmal die türkischen Journalisten. Aber das Konzept dahinter ist in der türkischen Community sogar viel stärker verankert als in der deutschen, würde ich sagen. In der türkischen Tradition spielt die Familie eine viel größere Rolle. Wenn ein Kind auf die Welt kommt, fangen die Eltern an, Geld zu sparen, eine Wohnung zu kaufen. Ein eher wirtschaftliches Verständnis von Nachhaltigkeit.

Auch, aber das Wirtschaftliche kommt erst an zweiter Stelle. An erster Stelle kommt, dass ich für mein Kind verantwortlich bin. Ich muss dafür sorgen, dass es meinem Kind gut geht. Und das nutzen wir, um das Umweltbewusstsein der Menschen zu schärfen und ihnen konkrete Handlungstipps zu geben. Fairen Kaffee kaufen, zu einem Ökostromanbieter wechseln, solche Dinge. Im Fokus steht: Was kann jeder in seinem Alltag für eine bessere Welt tun? Und wir sagen immer: Es ist egal, mit welchem Aspekt ihr beginnt. Hauptsache, ihr beginnt.

Der Spaziergang hat uns ans südliche Ende der Mariannenstraße geführt. Vor uns liegt der Landwehrkanal. Wir gehen am Paul-Lincke-Ufer entlang, gegenüber steht Zelt an Zelt an Zelt. Wie eine weiße Wand.

Schauen Sie, das ist der Freitagsbasar.

Ein Basar?

Naja, offiziell heißt er, glaub ich, Maybachufer-Markt. Aber da sind so viele türkische Händler – das ist für die Menschen hier einfach der Basar. Dort haben wir schon viele Aktionen gemacht. Flyer verteilt. Passanten angesprochen. Da merkt man immer unmittelbar: Ich kann etwas Positives bewirken. Und das ist es, was mich seit zehn Jahren so begeistert. Wahrscheinlich wäre ich ohne Ye?il Çember gar nicht mehr hier.

Wie meinen Sie das?

Hätte ich Yesil Çember nicht gegründet, wäre ich wohl längst ausgewandert. In ein schönes Land, wo die Menschen kommunikativer sind als in Deutschland, ein sonnigeres Gemüt haben. Nach Australien vielleicht, wo ich als Studentin war.

Tja, die Berliner gelten, selbst für deutsche Verhältnisse, als etwas grummelig.

Och, es gibt Schlimmeres.

Die Schwaben?

Stimmt. (Sie lacht.)

Dafür sind die Rheinländer relativ umgänglich, oder?

Ja, sehr! Und die Hamburger sind auch nett … Tja. Nun fange ich auch an zu pauschalisieren. ?

Zur Person:

Gülcan Nitsch, 42, ist als Tochter türkischer Einwanderer im Berliner Stadtteil Kreuzberg geboren und aufgewachsen. Viele Jahre lang engagierte sich die Diplom-Biologin ehrenamtlich beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). 2006 gründete sie Deutschlands erste türkischsprachige Umweltgruppe Yesil Çember („Grüner Kreis“), zunächst als Arbeitskreis innerhalb des BUND Berlin. 2012 wurde daraus mithilfe eines Ashoka-Stipendiums eine gemeinnützige GmbH. 2013 erhielt Nitsch den Umweltpreis „Trophée des femmes“ der Umweltstiftung Fondation Yves Rocher. 2014 wurde ihr der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verliehen.