Zeitenspiegel Reportagen

Ein Spaziergang mit ... Harald Welzer

Erschienen in "natur" 04/17. Fotos: Rainer Kwiotek

Von Autor Markus Wanzeck

Als Direktor der Stiftung Futurzwei setzt er sich für das „Projekt einer zukunftsfähigen, enkeltauglichen Gesellschaft“ ein. Ein bewegendes Gespräch über ekelerregende Autos, den Reiz des Analogen – und Nachhaltigkeitsgymnastik.

Zwei Abendauftritte, in Nürnberg und einer fränkischen Kleinstadt. Dazwischen Muße für einen entspannten Spaziergang, kommt selten genug vor. Viel unterwegs, wenig Zeit: zwei der Widersprüchlichkeiten im Leben des public intellectual Harald Welzer, der manische Mobilität und die Vernichtung des Nichtstuns als Fehlentwicklungen der globalisierten, digitalisierten Moderne geißelt.

Ganz konsequent war er am Vorabend. „Welches Land wollen wir sein?“ war die Frage der Veranstaltung. Hunderte im Saal, Dutzende draußen – kein Einlass mehr, wegen Überfüllung. Doch die Menschen, viele eigens aus dem Umland angereist, harren in den Türen aus. Als im Podiumsgespräch die Formulierung „geht nicht“ fällt, ein rotes Tuch für Welzer, richtet er das Wort an die draußen Harrenden: Apropos, ob sie nicht ein bisschen näherkommen wollten? „Geht das? Ich übernehme die Verantwortung.“ Überrumpelte Türsteher. Plötzlich gibt es auch Stehplätze. Geht doch.

Am nächsten Mittag, unser Spaziergang beginnt am Frauentorgraben, einer mehrspurigen Ringstraße um die Nürnberger Altstadt. Beton, Lärm, Abgasschwaden.

natur: Kürzlich, beim Deutschen Nachhaltigkeitspreis, wurde Nürnberg zur „nachhaltigsten Großstadt Deutschlands“ gekürt.

Welzer: Hmm. Das wird wahrscheinlich einen Grund haben. Man sieht ihn nicht zwingend. Heutzutage ist ja alles „nachhaltig“. Das ist die gute Nachricht. Aber vor allem als folgenlose Leerformel – ist das die schlechte?

Das würde ich so nicht sagen. Es passiert schon eine ganze Menge. Die Energiewende beispielsweise, die ist ja eine gewaltige Geschichte …

… die aber weniger gewaltig erscheint, wenn man nicht nur den Strom-, sondern den gesamten Energieverbrauch in den Blick nimmt.

Das wäre auch direkt mein nächster Punkt gewesen: Es passiert eine ganze Menge, aber gleichzeitig passiert eine größere Menge in die falsche Richtung. Fast alles, was wir in Sachen Nachhaltigkeit erreichen, wird überkompensiert. Das beste Beispiel sind diese idiotischen Autos. Deren Antriebstechnologie wird immer effizienter. Zugleich werden sie immer größer, schwerer, vollgepackter mit hirnrissigen Komfortangeboten. Und verbrauchen am Ende mehr.

Welzer blickt hinüber zum Ampelrückstau, in dem auch einige SUVs stecken.

Schauen Sie mal: Paradebeispiele! Alle nacheinander, von diesem ekelerregenden BMW X5 bis hin zu diesem Porsche Cayenne – total gestört! Und in jeder dieser Kisten sitzt eine Person. Und weiß gar nicht, warum.

Warum kommt niemand auf die Idee, solche verschwenderischen Stadtgeländewagen zu verbieten? Die Grünen zum Beispiel?

Die sind mir ein Rätsel. Die Grünen … (nun spricht er mit schwäbischem Einschlag) … stehen fest hinter dem Automobilstandort Deutschland.

Winfried Kretschmann?

Cem Özdemir. Hat er tatsächlich so in einem Interview gesagt.

Die Veggie-Day-Lektion: Die Grünen haben gelernt, dass nicht der die Wählerstimmen bekommt, der das Wählerleben unbequemer macht …

… und verlieren so ihren Markenkern, werden politisch obdachlos.

Der Klimawandel erscheint nun mal als abstraktes, fernes Phänomen. Ist der gesellschaftliche Leidensdruck nicht groß genug?

Der ist gar nicht vorhanden. Nur so sind diese völlig sinnlosen Konsum- und Freizeitangebote zu erklären. Die Leute sind ja so deppert, zum Shopping nach New York zu fliegen. Oder diese sogenannten Kreuzschifffahrten! Da quetschen sich 6000 Leute in fahrbare Plattenbauten, damit sie am Ende sagen können, sie waren in Honolulu. Dabei waren sie ja gar nicht wirklich in Honolulu.

Immerhin haben sie Beweisfotos, die sie online posten können.

Wer soll sich denn diese ganzen Bilder angucken? Der totale Overflow! Schon Dia-Abende waren ja eine Zumutung, vielleicht erinnern Sie sich. Man saß da eine Stunde, dachte: Wann wird das ein Ende haben? Dabei war das nur ein Promille der Bildmenge, die heute pausenlos produziert wird.

Während Ihnen die Grünen zu realo-pragmatisch geworden sind, werfen Sie der Ökoszene insgesamt etwas fast Gegenteiliges vor, nämlich deren „Katastrophenrhetorik“. Wie geht das zusammen?

Das ist ein psychologischer Punkt. Diese Katastrophenrhetorik, die ökologische Aufgeregtheit – die hatten eine wichtige Funktion, als die Umweltbewegung in den 70er Jahren aufgekommen ist. Es ging um Politisierung, um Mobilisierung. „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome war 1972 eine bewusstseinsstiftende Veröffentlichung. Und die Autoren hatten in vielen Punkten recht.

Aber?

Das Rechthaben hilft nichts, wenn sich dafür in der Lebenswelt der Menschen kein Korrelat, keine Erfahrung findet. Stichwort Leidensdruck. Seit 45 Jahren hören die Leute, dass die Welt am Abgrund steht – aber sie ist komischerweise immer noch da.

Der Abgrund ist nähergekommen.

Merkt man aber nicht unmittelbar, weil es nicht ruckartig geschieht. Und weil eine Dauerbeschallung mit negativer Kommunikation eben keine positive Handlungsmotivation erzeugt. Es gibt ja Regalmeter mit Apokalypse-Büchern, über das Wasser, die Wüsten, den Regenwald. Am Ende steht immer das Kapitel „Wir müssen jetzt …“. Da könnte überall stehen: „Wir müssen uns jetzt hinsetzen und Kaffee trinken.“ Man ist besorgt. Aber man hat keine Ahnung, was man tun soll. Völlig sinnlos.

Vor fünf Jahren haben Sie die Stiftung Futurzwei gegründet – mit dem Anspruch, die Menschen durch „Geschichten des Gelingens“ zu aktivieren. Wie das?

Die große gesellschaftliche Erzählung ist ja: Die Probleme sind zu komplex, man kann nichts machen, bringt ja eh nix. Diesem Ohnmachtsgefühl stellen wir Geschichten über Menschen entgegen, die ihre Handlungsspielräume nutzen und weiter ausbauen.

Futurzwei antwortet auf abstrakte Großprobleme mit konkreten Kleinlösungen?

Mit Erfolgsgeschichten einer ökosozialen Wende, die andere Menschen inspirieren, ihnen zeigen: Da geht was. Man muss nur wollen. Denn es geht immer was. Und manchmal ganz einfach – hat man ja gestern Abend gesehen. Entscheidend ist auch, dass wir einen anderen Sound pflegen. Eben nicht diese psychologisch fragwürdige Negativkommunikation. Wir legen Wert auf konstruktiven Journalismus, auf gutes Storytelling. Psychologie spielt in Ihrem Ansatz generell eine wichtige Rolle. So plädieren Sie etwa für ein nachhaltigeres Leben durch „Gewohnheitsgymnastik“.

Unser Handeln ist oft nicht von Einsicht, sondern von Gewohnheiten bestimmt. Also muss man versuchen, diese Gewohnheiten schrittweise umzustellen. Durch Training. Durch Wiederholung. Wie bei einer Gymnastikübung, die man mit der Zeit verinnerlicht.

Welche Gymnastikübungen haben Sie im Repertoire?

Ich habe den Konsum runtergefahren, kaufe so gut wie keine Klamotten oder Möbel mehr. Stattdessen lasse ich reparieren oder aufarbeiten. Nützt natürlich alles wenig, wenn ich meine Mobilitätsbilanz anschaue. Wie sieht die aus?

Normalerweise fahre ich mit der Bahn – das dafür sehr viel. Ein Auto gibt’s bei uns zuhause zwar noch, aber das wird kaum noch benutzt. Lange Zeit bin ich nicht geflogen. Allerdings bin ich jetzt rückfällig geworden – zu viele Termine, zu schlechte Terminplanung. Mein CO2-Fußabdruck dürfte das Drei- oder Vierfache des Durchschnittsdeutschen ausmachen.

Eine ähnliche Beichte legt Hollywood-Star Leonardo DiCaprio in seiner Klimawandel-Doku „Before the Flood“ ab. Wirklichkeit ist widersprüchlich. Mir sind alle Leute lieb, die in der Lage sind, mit Widersprüchen konstruktiv umzugehen. Es geht nie um ganz oder gar nicht, sondern um Transformation. Da ist es ja zunächst mal nicht schlecht, mit Lebenslügen Schluss zu machen. Aber klar, dann muss die Gewohnheitsgymnastik folgen. Ich fliege nicht mehr auf andere Kontinente. Damit habe ich abgeschlossen.

Vor uns taucht ein Flohmarktstand auf. Im Angebot ist Antiquarisches: Bücher, Schallplatten.

Ah, was gibt’s denn da Schönes zu kaufen?

Obacht! Kommen etwa Shopping-Gelüste hoch?

Och, bei seltsamen Dingen schon mal. Was haben wir denn hier (er blättert durch die Plattencover)? Ideal … Trio … Wolfgang Ambros: Allan wia a Stan – Bob Dylan auf Österreichisch. Wahnsinn, hier sind echt meine Platten!

Hören Sie Ihre Musik noch analog?

Ich bin bei CDs stehengeblieben.

Auf dem halben Weg der Digitalisierung sozusagen.

Ja. Und meine Vinylplatten hab ich auch alle noch.

Ihr Buch „Die smarte Diktatur“ ist ein Pamphlet gegen die sozialen und ökologischen Negativfolgen der Digitalisierung. Warum so fortschrittsfeindlich?

Welcher Fortschritt? Ich sehe nichts Modernes, nichts Modernisierendes. Nur eine Beschleunigung. Das Digitale ist dasselbe, nur schneller. Wir fahren schneller an die Wand. Die Digitalisierung dynamisiert lediglich unsere problematische Normalwirtschaft, sprich: Wachstumswirtschaft. Sie erhöht den Warenverkehr. Multipliziert Mobilität. Erzeugt einen unglaublichen Energieaufwand. Auch das Digitale ist ja fossil.

Sie meinen den Kohlestrom für Milliarden von Computern und Smartphones? Den Sprit, den der Online-Versandhandel verfeuert?

Zum Beispiel. Auf der Benutzeroberfläche ist alles ganz hübsch und praktisch. Die Folgenseite ist vollständig unsichtbar. Diese ganze Wirtschaft basiert darauf, dass sie ihre Voraussetzungen unsichtbar macht. Material und Energie kommen in der digitalen Welt nicht vor.

Bei manchen Angeboten – E-Mail-Postfächer, Soziale Netzwerke – kommen nicht einmal Kosten vor. Genau. Alles prima, alles kostenlos. Was für eine Micky-Maus-Vorstellung von Welt! Und im Hintergrund, unsichtbar, werden die Menschen ausspioniert und ihre Daten zu Geld gemacht. In dieser Hinsicht macht mich übrigens auch unsere Bundeskanzlerin wahnsinnig, die sagt: „Datensparsamkeit ist aus dem letzten Jahrhundert.“

Wo hat Frau Merkel denn das aufgeschnappt? Unlängst war dieses Internet für sie doch noch Neuland. Es ist inzwischen ein fast parareligiöser Hype, dass alle Welt glaubt, die Zukunft sei digital, sei Big Data. Die Zukunft ist nicht digital. Unser Leben ist zu 100 Prozent analog – und wir müssen es vor diesem Hype schützen, der die Privatheit und die Demokratie gefährdet.

Sie warnen vor einer „Transparenzhölle“.

Dass die Gesellschaft und die Politik das Schwinden des Datenschutzes so schulterzuckend hinnehmen, ist mir rätselhaft. Wie auch der offenbare Reiz des Digitalen, alles an Apps zu delegieren. Keine Entscheidung mehr selbst treffen zu wollen.

Das Smartphone, dieses Freiheitsversprechen, macht die Menschen unselbständig? Nehmen Sie nur das autonome Fahren: Wir haben doch den ganzen Scheiß mit der Pubertät nicht durchgemacht, um uns dann als Erwachsene wieder wie Kinder durch die Gegend kutschieren zu lassen! Oder um uns von einem Algorithmus morgens wecken und abends die Musik fürs Einschlafen auswählen zu lassen – als würde einen Mami ins Bett bringen. Dieses ganze Delegieren, dieses Sich-überwachen-lassen … Eine totale Infantilisierung der Gesellschaft!

Eine Babyfonisierung: Man ist nie mehr allein, ununterbrochen unter Aufsicht.

Das trifft es ziemlich gut. Nur dass das Baby von seiner Überwachung nichts weiß.

Und dass nicht die Mutter, sondern der Große Bruder am anderen Ende sitzt. Richtig.

Wir nähern uns einem Meinungsgleichgewicht. Langeweilegefahr. Dann der rettende Einfall.

Unser Fotograf ist übrigens großer Smartphone-Fan. Er sagt, Smartphones ermöglichen ein nachhaltigeres Leben.

Da hat er nicht recht.

Fotograf: Doch!

Welzer (lacht): Also, ich …

Fotograf: Nicht, dass ich die Dinger liebe. Aber sie helfen mir, anderswo zu sparen. Ich nutze beispielsweise kaum noch das Auto, weil ich mit dem Smartphone die öffentlichen Verkehrsmittel so einfach nutzen kann. Welzer: Eine Technologie als solche hat auch Vorteile, keine Frage. Und in dieser Hinsicht bietet das Smartphone tatsächlich eine sinnvolle Funktion. Das Problem ist, dass es darüber hinaus noch viel, viel mehr macht. Unbemerkt, im Hintergrund. Und auch merklich, mit den Leuten.

Fotograf: Hmm … Dadurch, dass ich nun viel mit den Öffentlichen fahre, fällt mir schon auf, dass alle ständig auf ihre Bildschirme starren. Sie haben keine Zeit mehr nachzudenken.

Welzer: Ja. Keiner macht mehr nix.

Fotograf: Dabei hab ich mich auch schon selbst ertappt. Wenn du mal fünf Minuten Zeit hast, tippst du auf diesem albernen Ding rum.

Lass doch bitte Herrn Welzer die knackigen Zitate liefern.

Welzer: Na, an dieser Stelle hat er ja ausnahmsweise mal recht. Es ist verheerend, dass freie Zeit nur noch als Belastung, als Bedrohung empfunden wird. Hier schließt sich übrigens auch der Kreis zu den Kurztrips nach New York, zu den Kreuzfahrten und all dem: Es ist die Angst vor dem Nixtun, die die Menschen zu so etwas treibt. Sie sehen einen nachdenklichen Fotografen.

Welzer: Es ist zugegebenermaßen manchmal etwas umständlicher ohne Smartphone. Aber ich möchte mir Freiheit, Spontaneität und Entscheidungsfreude bewahren. Apropos, wie wär’s denn mal mit einem Kaffee zwischendurch?

Wir landen in einem Hipster-Café. Gemütliche alte Sofas, Retro-Tapeten, vegane Karottensuppe. Junge Männer, die Vollbärte tragen. In Berlin, sagt Welzer, sei das im Übrigen langsam schon wieder durch mit den Bärten.

Kein Smartphone also. Sind Sie in Sozialen Medien aktiv?

Um Gottes Willen, nein! Das sind keine sozialen, sondern antisoziale Medien.

Antisozial? So viele friends hatten die Menschen doch noch nie!

Ja, genau. Das ist ja im Prinzip schon die Antwort.

In Ordnung, ich nehme meine Antwort zurück. Und frage stattdessen: Weshalb halten Sie Social Media für antisozial?

Naja, eine der negativen Folgen dieser Medien fällt uns ja gerade auf die Füße.

Sie meinen die Filterblasen und die fake news, die Trumps Wahl in den USA begünstigt haben?

Zum Beispiel. Ähnliches lässt sich auch in Europa beobachten. Beim Erstarken des Populismus, des Nationalismus, der Neuen Rechten spielen diese Medien eine große Rolle. Sie scheinen eine große Anziehungskraft auf Leute auszuüben, die …

… Ressentiments haben?

Leute, die gerne hassen. In der vermeintlichen Anonymität des Netzes meinen diese Leute kosten- und verantwortungslos die Sau rauslassen zu können. Das ist ein Prozess, der die Grundvoraussetzungen unserer Form von Gesellschaftlichkeit aufhebt.

Wir trinken aus, brechen auf, gehen … wohin? Richtung Hauptbahnhof. Gar nicht so einfach, in der verwinkelten Altstadt, ohne Smartphone und GPS.

Wir müssen aufpassen. Was in der Gesellschaft, in der Politik derzeit passiert, ist kein Normalbetrieb. Es gerät etwas ins Rutschen.

Der große Andrang bei der Veranstaltung gestern Abend zeigt immerhin, dass die Menschen spüren: Es läuft etwas in die falsche Richtung.

Die Frage ist aber immer, wer das spürt. Dafür ist eine gewisse Wachheit, ein grundlegendes Politikinteresse nötig. Die Mehrheit der Menschen ist schlicht und ergreifend unpolitisch.

Wir gehen die „Straße der Menschenrechte“ hinunter, entlang an acht Meter hohen Betonsäulen. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, steht auf der ersten. Ein paar Säulen weiter: „Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben (…) ausgesetzt werden.“

Halten wir Demokratie für selbstverständlich, weil wir uns zu sehr an sie gewöhnt haben?

Da ist etwas dran. Aber generell, zu fast allen Zeiten, besteht der Großteil der Gesellschaft aus Menschen, die halt irgendwie mitsurfen. Das war selbst zur Nazizeit so. Die meisten Menschen verlassen sich darauf, dass sich schon alles irgendwie zum Guten wenden werde. 1933 war die gesellschaftliche Stimmung, dass dieser durchgedrehte Hitler bald gezähmt oder wieder komplett von der Bildfläche verschwunden sein würde. Diese Hoffnung hegen auch viele bei Trump. Erleben wir wieder so einen Hitler-Moment?

Das wäre mir too much. Aber man merkt schon ein Einsickern überwunden geglaubter Themen in den allgemeinen politischen Diskurs – in den USA wie in Europa. Nehmen Sie etwa die Entscheidung des CDU-Parteitags gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.

Sie meinen, das wäre ohne die neue Rechte kein Thema gewesen?

Für die meisten Menschen ist es auch jetzt keines. Die CDU, das ist ein Haufen gesellschaftsvergessener Trantüten. Wenn ich das mal so sagen darf. Warum reden die nicht über wirkliche Probleme – wie die soziale Ungerechtigkeit? Darüber, dass gerade diejenigen, die unglaublich viel Kohle verdienen, kaum Steuern bezahlen? Darüber, dass es einer elitären Klasse total gut und immer besser geht, während die Lebenssituation für viele immer prekarisierter wird?

Den Frust, der sich – auch politisch – Bahn bricht, können Sie also nachvollziehen?

Klar. Wenn ein gewisses Niveau an Arroganz und Ignoranz überschritten ist, werden die Leute halt sauer. Wichtig ist aber, dass man dann nicht destruktiv, sondern konstruktiv reagiert. Sich engagiert, die Demokratie repariert. In dieser Hinsicht ist Nixtun tatsächlich mal keine Option.

Wir kommen an einem Mobilfunk-Shop vorbei. Es ist einfach zu einladend – wir machen ein Foto vor dem Schaufenster. Im nächsten Moment stürmt der Verkäufer heraus, blickt auf unsere überaus unsmarten Handys: „Was haben Sie denn da?!“ Er bittet in den Laden, er müsse uns etwas zeigen. Die Zukunft der Kommunikation, zumindest die Gegenwart. Sie ist hübsch, praktisch und digital.

Zur Person:

Der Soziologe Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Mitbegründer und Direktor der Stiftung Futurzwei (www.futurzwei.org), die unter anderem den Futurzwei Zukunftsalmanach herausgibt. Er ist Professor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg, daneben lehrt er an der Universität St. Gallen. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter „Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird“, „Selbst denken“ und „Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“. Am 16. März 2017 erschien „Wir sind die Mehrheit. Für eine Offene Gesellschaft“.