Zeitenspiegel Reportagen

"Ich kann dem Tod meiner Tochter keinen Sinn geben"

Erschienen in "stern", 1/2010

Von Autorin Ingrid Eißele

Am Morgen des 11. März 2009 verabschiedete sich Viktorija wie üblich von ihren Eltern und machte sich auf zur Albertville-Realschule in Winnenden, Klasse 10 d, “ein schnelles Tschüss, bis später, wie so oft”; nachmittags sollte Viktorija im Musikunterricht auf dem Klavier die “Mondscheinsonate” vorspielen. Wenig später war sie tot, erschossen von Tim K. Am 3. Dezember wäre Viktorija 17 Jahre alt geworden. Ein Gespräch mit ihrem Vater, dem Psychiater Jurij Minasenko, über das Leben nach dem plötzlichen Verlust des einzigen Kindes, über die Familie des Täters und die künftige Gefahr von Amokläufen.

Jurij Minasenko, seine Frau Lena und ihre gemeinsame Tochter Viktorija siedelten Ende 1994 aus der Ukraine nach Deutschland über. Sie wollten der Tochter, damals nicht mal zwei Jahre alt, ein besseres Leben ermöglichen. Minasenko hatte als Psychiater, seine Frau als Krankenschwester im Krankenhaus in Lugansk gearbeitet. Sie stiegen ins Flugzeug und kamen mit zwei Koffern, vielen Wünschen und Träumen in Deutschland an. “Unsere Tochter war klein, wir waren jung, und wir hatten das Gefühl: Wir können nichts verlieren. Wir wussten wenig von der anderen Kultur und der Mentalität. Wir haben das gemacht, um unserer Tochter eine Perspektive zu eröffnen.” Vater und Mutter lernten mühsam Deutsch. Die Tochter dagegen passte sich schnell an, beherrschte bald die deutsche Sprache, fand Freunde. Jurij arbeitete wieder in seinem alten Beruf als Arzt, seine Frau als Pharmareferentin, und Viktorija, geliebtes, einziges Kind, wuchs zu einer selbstbewussten jungen Frau heran. Sie wollte nach der Schule vielleicht in den diplomatischen Dienst, sie sprach vier Sprachen und brachte sich selbst die kyrillische Schrift bei, sie war musikalisch begabt. An jenem Morgen des 11. März 2009 verabschiedete sie sich wie üblich von den Eltern und machte sich auf zur Albertville-Realschule in Winnenden, Klasse 10 d, “ein schnelles Tschüss, bis später, wie so oft”; nachmittags sollte Viktorija im Musikunterricht auf dem Klavier die “Mondscheinsonate” vorspielen. Als seine Tochter aus dem Haus war, schaltete Jurij Minasenko den Computer an. Seine Frau Lena saß im Bus auf dem Weg zum Bahnhof von Winnenden. Sie musste zu einem Termin nach Stuttgart. Es war kurz vor zehn. Lena Minasenko wunderte sich über die vielen Polizeifahrzeuge und Krankenwagen. Zu diesem Zeitpunkt war Viktorija bereits tot, erschossen von Tim K. Am 3. Dezember wäre Viktorija 17 Jahre alt geworden. Auf ihrer Beerdigung wurde die “Mondscheinsonate” gespielt. Monate nach dem Amoklauf sitzt Jurij Minasenko im Büro seines Anwalts Jens Rabe in Waiblingen. Vor ihm auf dem Tisch liegen Fotos in einer Klarsichthülle. Sie zeigen Viktorija - hübsches Gesicht, schulterlanges braunes Haar, mal ernst, mal lachend oder feixend - an der Seite seiner Frau Lena. Minasenko hat lange geschwiegen, er war krank vor Trauer und Schmerz. Aber irgendwann fing er doch an, Fragen zu stellen. Er wollte wissen, “wie unsere Tochter gestorben ist”. Er wollte wissen, wie und warum aus dem Schüler Tim K. ein Mörder geworden ist. Er wollte wissen, warum Tims Eltern trotz der Hinweise der Ärzte nichts unternahmen. Minasenko studierte die Ermittlungsakten und die psychiatrischen Gutachten über Tim K. - so wie er früher die Akten seiner Patienten studierte. Jurij Minasenko ist ein Mann, der qua Beruf gewohnt ist, der Ratio zu vertrauen. Und er ist ein trauernder Vater, ein Mann, dessen Gefühle zuweilen stärker sind als die Ratio.

Herr Minasenko, es sind neun Monate seit der Bluttat von Winnenden vergangen. Hat Ihnen die Zeit ein wenig geholfen?

Die Zeit heilt nicht. Das ist ein Irrtum, ein falscher Sinnspruch. Früher sah mein Alltag wie Ihrer aus - mit Terminen und Aufgaben. Jetzt ist diese Struktur weg. Ich bin seit dem Amoklauf krankgeschrieben. Geblieben ist ein Leben, aus dem das Leben verschwunden ist. Viktorijas Tod war ein Totalverlust für meine Frau und mich. Der erste Reflex war: selber nicht sterben, das Grab in Ordnung halten, frische Blumen hinbringen. So haben wir uns durch diese Monate gehangelt.

Ihre Frau redet bis heute nicht öffentlich über den Tod Viktorijas.

Nein, sie möchte auch keines der Fotos veröffentlichen, auf dem sie zusammen mit unserer Tochter zu sehen ist. Diese Bilder von damals sind für sie schöne und sehr private Erinnerungen aus der guten Zeit. Jetzt ist eine andere Zeit. Wir waren ein Dreieck, Vater, Mutter, Kind, und dieses Dreieck gibt es nicht mehr. Aber die Erinnerungen gehören immer noch ihr, sie sollen nicht durch den Amoklauf zerstört werden. Meine Frau Lena hat eine andere Form gefunden, ihre Trauer auszudrücken. Sie spielt Klavier und hat für Viktorija zwei Stücke komponiert. Es ist schöne, traurige Musik. Ein Lehrer einer Nachbarschule hat seinen Schülern die Stücke vorgespielt. Sie sollten aufschreiben, welche Bilder ihnen dabei in den Sinn kommen. Sie schrieben, ohne zu wissen, was der Hintergrund war: “Jemand, der in einem ganz großen Raum allein am Flügel sitzt.” Und: “Nachdenklichkeit, Trauer, Sehnsucht.” Meine Frau kann ihre Gefühle noch nicht verbalisieren. Deshalb drückt sie die Emotionen auf andere Art aus. Sie sagt: “Musik ist für mich eine gleichwertige Sprache, Musik lügt nicht.” Meine Art zu trauern ist anders. Aber ich verstehe sie. Im ersten halben Jahr habe ich auch nichts gesagt, ich war still. Es hat sechs Monate gedauert, bis wir in der Lage waren, uns den Tatort anzuschauen.

Warum haben Sie sich das angetan?

Unsere wichtigste Frage war: Ist unsere Tochter sofort gestorben, oder wurde sie gequält?

Das wissen Sie inzwischen?

Ja. Viktorija saß in der letzten Reihe, nur ein, zwei Meter von der Tür entfernt. Er hat die Tür geöffnet und sofort angefangen zu schießen. Meine Tochter war das erste oder zweite der Opfer in der Klasse, sie hat drei Kugeln abbekommen. Eine dieser Kugeln durchschoss ihren Körper und traf eine andere Schülerin, die ebenfalls starb. Viktorija war nach wenigen Minuten tot. Erst kam der Schmerzschock, dann Bewusstlosigkeit, Blutverlust und schließlich der Tod. Man kann das rekonstruieren. Klar ist auch, in welcher Verfassung Tim K. gehandelt hat, in den Akten ist das beschrieben.

Die haben Sie analysiert?

Ja, er war sehr klar in dem, was er tat. Er hatte keine Bewusstseinsstörung, keine Halluzinationen, er hörte keine Stimmen. Er war nicht chaotisch, er war ordentlich. Er hat ja sogar sein Magazin in Seelenruhe wieder aufgeladen und weitergeschossen. Für mich war damals schon klar, dass er psychisch gestört war. Dieses aggressive Potenzial deutet auf narzisstische Wut hin. Tim K. war krank. Es war Mord oder, im Fachterminus, erweiterter Suizid. Er war vorbereitet, zu sterben und möglichst viele mitzunehmen. Was passiert ist, geht auf diese Störung zurück. Aber eine solche Persönlichkeitsstörung ist nicht wie ein plötzlicher Herzinfarkt, sondern das Resultat einer pathologischen Entwicklung, die schon in der frühen Kindheit beginnt.

Tim K. glaubte, er sei manisch-depressiv, und offenbarte sich mit dieser Selbstdiagnose seiner Mutter. Waren Sie darüber überrascht?

Nein. Das war ein Hilferuf. Er ahnte, dass etwas nicht in Ordnung war mit ihm. Er suchte nach Antworten im Internet und fand diesen Begriff. In dieser Phase war er schon gestört, aber er konnte sich noch einschätzen. Tim K. stand eigentlich näher zum Vater. Aber sein Vater ist eher ein autoritärer Typ. Deshalb vertraute er sich der Mutter an.

Die ihn dann zu einer psychotherapeutischen Behandlung ins Klinikum in Weinsberg brachte.

Stimmt, aber die Motivation der Eltern war meines Erachtens eine ganz andere: Denen ging es nicht um eine psychische Krankheit, sie wollten vielmehr mit diesen Gesprächen klären, warum der Sohn in der Schule nur mittelmäßig war. Sie wollten sein Verhalten verstehen - er hockte ja immer allein im Zimmer und entwickelte eine Spielsucht am Computer.

Die Eltern wollten also vor allem, dass ihr Sohn wieder funktioniert?

Ich kann nur das analysieren, was ich aus den Akten weiß. Sein Vater war ein sozialer Aufsteiger, ehrgeizig, auf die äußere Wirkung bedacht. Tim K. gefährdete das polierte Image dieser Familie. Die Gespräche in der Klinik waren also auch wichtig für die Eltern. Sie wollten, dass er den Realschulabschluss schafft. Der Sohn dagegen wollte sich von seiner Seelenqual befreien, sich erleichtern. Aber die Eltern haben seinen Hilferuf anders interpretiert: “Unser Sohn braucht Hilfe, damit er so funktioniert wie wir.”

Die Diagnose lautete schließlich auf soziale Phobie. Aus den Gutachten geht hervor, dass die Ärzte die Eltern über Tims Tötungs- und Gewaltfantasien informiert haben. Woran die sich, wie sie behaupten, aber nicht erinnern können.

Ach was, die Eltern wurden informiert. Könnten Sie es vergessen, wenn Ihnen mitgeteilt würde: Ihr Kind hat Mordgedanken? Was ist daran nicht zu verstehen? Deutlicher geht es nicht. Die Ärztin ist Zeugin. Sie berichtete, dass Tims Hassgefühle das Hauptthema des ersten Elterngesprächs waren und dass die Eltern “überrascht” auf ihre Mitteilungen reagiert hätten. So steht es schwarz auf weiß in den Ermittlungsakten. Die Eltern haben diese Informationen einfach ignoriert und nicht mit den Ärzten kooperiert. Schlimmer noch, sie erwähnten nicht einmal die Waffen im Haus, obwohl ihr Junge davon sprach, andere töten zu wollen - hätten die Ärzte davon gewusst, hätten sie auch anders handeln können. Halten Sie solch ein Verhalten der Eltern etwa für normal?

Sie sind der Psychiater. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Der Vater will ein möglichst brillantes Bild von der Familie zeichnen. Der Sohn musste diesem Bild entsprechen. Tischtennisverein, Schützenverein, Armdrücken - der Sport war ein Vehikel, um Stärke zu zeigen. Wenn Tim in der Schule schon nicht funktioniert, soll er sich die Anerkennung eben über den Sport holen. Er sollte ein richtiger Mann werden. Waffen sind dabei das ultimative Machtsymbol.

Und Sie glauben, dass die Eltern diese Machtsymbole ganz bewusst eingesetzt haben?

Bewusst oder unbewusst spielt keine Rolle. Sie haben es getan. Für den Vater war Schießen wie Selbstmedikation. Nach dem Motto: Ich bin im Schützenverein, das hilft beim sozialen Werdegang. So hatte er es selbst als junger Mann erlebt. Aus den Gutachten geht für mich klar hervor: Die Eltern K. wollten die Stärken ihres Sohnes - Computer und Waffen - fördern, das hatte schon was Technokratisches. Die Mutter unterstützte ihn mit virtuellen Waffen, den Computerspielen. Und der Vater mit echten Waffen. Er wollte Erfolge sehen. Der Sohn sollte sein wie er. Tim K. formierte sich nach dem Vatervorbild. In meinem Beruf nennt man das “cross-identification”, beidseitige Identifikation. Daraus entstand eine “phantasierte Waffenbrüderschaft”, um die Worte des psychiatrischen Gutachters zu benutzen.

Tim K.s Vater ist Sportschütze, ein sehr guter sogar. Er verband mit Waffen keine Gewalt, sondern sah sie als Sportgerät.

Das bestreite ich ja nicht. Aber auch ein leidenschaftlicher Schütze muss seine Waffen wegschließen. Gerade nach solchen Hinweisen. Tim K. war gefährlich. Trotzdem haben die Eltern so weitergemacht, als hätte es die Warnung der Ärzte nie gegeben. Ich nehme meinen Sohn nicht mit zum Schießen, wenn ich weiß, dass er Mordfantasien hat. Aber was passiert? Nichts. Schlimmer noch: Die Mutter kauft ihrem Sohn Gewaltspiele, und Tim schenkt dem Vater zum 50. Geburtstag Munition!

Tims Eltern haben allen Opfer-Familien einen Brief geschrieben. Aus dem spricht große Ratlosigkeit. “Wir stellen uns immer und immer wieder die gleichen Fragen, ohne schlüssige Antworten zu finden. Es zerreißt uns, dass Tim sich uns nicht mitgeteilt hat, dass wir ihm nicht helfen konnten”, heißt es darin.

Aus diesem Brief spricht vor allem der Egoismus des Vaters. Er spricht vorwiegend über die eigene Trauer. Er spricht über seine “zerstörte Existenz”. Er erwartet, dass ich über ihn nachdenke. Warum sollte ich mir in unserer Situation Gedanken über ihn machen? Was ist mit unserer Existenz? Sein Sohn hat uns die Tochter genommen. Dieses Mädchen hat uns so viel gegeben und hätte uns noch so viel geschenkt, nicht nur meiner Frau und mir - diesem Land, ihrer Generation. Das gilt für alle, die an diesem Tag gestorben sind. Ich möchte, dass nicht vergessen wird, was für wunderbare Kinder wir verloren haben! Sie saßen im Matheunterricht, in der Deutschstunde. Und dann kommt Tim K. und schießt. Kein Wort davon in diesem Brief. Nichts von Entschuldigung, kein Wort.

Jurij Minasenko sucht den Brief in den Unterlagen. Er ist spürbar aufgebracht.

Schauen Sie, hier, er schreibt: “Wir wissen nicht, wie Tim zu dieser Tat fähig war. Nur eines wissen wir sicher: Die Pistole, die Tim benutzt hat, kam aus unserem Haus.” Nein, nicht die Pistole kam aus diesem Haus - der Mörder kam aus diesem Haus! Hat eine Pistole Beine? Kein Wort über die Munition. Auch die kam aus diesem Haus. Kein Wort über Fehler. Wir reden hier über einen kranken Jugendlichen, der mit einer Waffe getötet hat, die dem Vater gehörte. Es gab eine Kette von Ursachen, die schließlich zum Amoklauf führten. Und in dieser Kette ist der Vater auf jeden Fall moralisch mitschuldig. Er ist nicht der Täter, aber er war das wichtigste Glied in dieser Kette. Doch über diese moralische Schuld will er nicht sprechen, weil dies seiner juristischen Strategie schaden würde. Er weicht aus. Dieser Brief ist nicht ehrlich!

Sie fordern ein Schuldeingeständnis, zumindest ein moralisches?

Dazu ist der Mann nicht fähig. Er sieht sich als Opfer. Aber meine Tochter war das wahre Opfer, wir Eltern sind Opfer!

Jurij Minasenko wühlt durch Papiere, seine Stimme wird laut.

Wissen Sie, meine Frau sagt: “Schmeiß das ganze Zeug weg, unsere Tochter kommt nicht wieder.” Aber ich muss Fragen stellen. Ohne Antworten darauf kann ich nicht abschließen.

Ist deshalb für Sie und die anderen Familien der bevorstehende Prozess gegen Tim K.s Vater wegen fahrlässiger Tötung so wichtig?

Ja. Die Justiz will wissen: Wer ist schuldig? Wir Eltern wollen wissen, warum das geschehen ist. Ich will Aufklärung, kein “hätte” und kein “wäre”. Ich möchte erfahren, was Tims Eltern wussten. Ich möchte wissen, wie sie auf die Warnsignale reagiert haben. Ob das zu einer Verurteilung führt, entscheiden die Richter. Das ist für mich auch zweitrangig.

Und was ist für Sie erstrangig?

Mir geht es auch um ein Signal an die Gesellschaft: Was passiert, wenn wir nicht hinschauen? Dann bekommen wir noch weitere Amokläufer. Bis jetzt gibt es in Deutschland kein richtiges Verständnis von Amokläufen. Ein schärferes Waffengesetz allein reicht nicht, solange es in der Bevölkerung an Verständnis dafür fehlt, dass Schusswaffen bei Amokläufen Risikofaktor Nummer eins sind. Aufklärung bedeutet für mich auch, dass die Leute begreifen, wie groß der Schmerz für die Betroffenen ist, wie tief die Trauer sitzt. Wir sind Zufallsopfer. Viktorija hat Tim K. nicht mal gekannt. Wenn es purer Zufall war, dass es sie und ihre Klassenkameraden traf, kann es morgen auch die Söhne und Töchter anderer Menschen treffen. Ich habe schon alles verloren, ich habe keine Angst mehr vor dem nächsten Amoklauf. Andere müssen Angst haben. Aber da greifen Abwehrmechanismen, und das verstehe ich auch. Ich war ja nicht anders.

Wie meinen Sie das?

Nach dem Amoklauf von Erfurt war mir sofort klar: Persönlichkeitsstörung. Eine kranke Psyche. Ich sah das damals aus professioneller Distanz, fast wie ein Jurist. Jetzt bin ich Betroffener, und wenn wir die Ursachen nicht diskutieren, wird es wieder passieren. Und wieder. Amoklauf ist viel mehr als ein erweiterter Suizid. Er bedeutet Rache und Protest. “Ich werde euch zeigen, wer ich bin. Ihr kennt mich noch gar nicht. Ich sterbe nicht, weil ich schwach bin, sondern weil ich stark bin.” Sterben als Demonstration der Macht. Das könnte ein Trend werden, der diese Gesellschaft gefährdet, wenn der Einzelne beschließt, dass für ihn das Gewaltmonopol des Staates nicht mehr gilt. Früher sagten die Deutschen mit Blick auf die Schulmassaker in den USA: “Wir sind nicht Amerika.” Aber wir leben nun mal in einer globalisierten Welt. Das sollten wir vor Augen haben.

Sie analysieren sehr präzise. Wie lange hat es gedauert, bis Sie dazu in der Lage waren?

Was mit Tim K. los war, war mir schnell klar. Ist ja mein Beruf. Meine Trauer? Das ist extrem schwierig. Jeder hat seine eigene Art zu trauern. Das Aktionsbündnis Winnenden hat den Slogan: “Unsere Kinder sind nicht umsonst gestorben.” Ich halte diesen Satz für falsch. Soldaten kämpfen und sterben bewusst. Sie haben Pflichten und folgen Befehlen. Aber unsere Kinder sind keine Soldaten. Sie wurden ermordet. Sie sind umsonst gestorben.

Andere Eltern aus dem Bündnis wollen dem Tod ihrer Kinder nachträglich einen Sinn geben. Ist das nicht menschlich?

Natürlich, Trauer ist etwas sehr Persönliches. Aber ich kann dem Tod meiner Tochter keinen nachträglichen Sinn geben.

Es entsteht eine längere Pause.

Meine Tochter hat uns mehr gegeben als wir ihr. Was ist geblieben? Für mich bleiben ihre Liebe und ihr Geist, das, was sie meiner Frau und mir geschenkt hat. Ich lebe, weil ich hoffe, sie irgendwann wiederzusehen.

Jurij Minasenko blättert durch die Fotos. Es sind Bilder von gemeinsamen Reisen. Die Minasenkos im Elsass, in Lyon, in Avignon, in Berlin, beim Skifahren in den Alpen.

Wissen Sie, Viktorija war ein Wunschkind. Und was für ein Kind. Sie war für ihr Alter eine reife und tiefe Persönlichkeit. Sie fühlte sich in Deutschland sehr, sehr wohl. Sie lernte schnell Deutsch und wollte zunächst kein Russisch sprechen. Das hat sie erst mit zehn Jahren nachgeholt.

Denken Sie oft an sie?

Ja, das ist, was wir noch haben, die Erinnerungen. Schauen Sie sich die Bilder an, wir waren nicht reich, aber das machte uns nichts, wir waren eine glückliche Familie. Und meine Tochter war mir in vielem sehr ähnlich. Sie beobachtete Leute und ihr Verhalten, wie eine Psychologin.

Hatten Sie ein besonderes Verhältnis zu Ihrer Tochter?

Ich glaube schon. In den letzten Jahren hatte ich mich selbstständig gemacht und hatte mehr Zeit für sie. Sie war meine Seele. Die erste und die letzte Liebe.

Er schweigt lange.

Es ist fast wie bei Familie K. Der Vater identifiziert sich mit dem Kind, das Kind identifiziert sich mit dem Vater.

Und wie war Viktorijas Verhältnis zur Mutter?

Tief. Manchmal gab es Rivalitäten, das ist normal in der Pubertät. Manchmal rebellierte sie. Viktorija hatte noch keinen Freund, aber sie war verliebt. Das war eine platonische Liebe, der Junge war älter und hat ihre Liebe nicht ernst genommen. Als Viktorija ihm ihre Liebe gestand, war meine Frau irritiert: “Wie kannst du das sagen?” Und sie antwortete: “Ich habe nichts gestohlen, ich habe nicht gegen Regeln verstoßen. Er ist meine Liebe, und ich möchte, dass er das auch weiß.” An solchen Dingen erkannten wir, dass sie sehr deutsch war, sehr modern. In Russland macht der Mann den ersten Schritt. Hier in Deutschland darf die Frau stark sein wie Brunhilde.

Sie und Ihre Frau, wie sind Sie in den Monaten nach dem Verlust Viktorijas miteinander umgegangen?

Unmittelbar nach der Todesnachricht war Lena wie ein Stein. Alle Eltern, die betroffen waren, wurden in einer großen Halle versammelt, und dann wurden wir informiert, neutral, sehr offiziell: “Ihr Kind ist auf der Liste derer, die den Amoklauf nicht überlebt haben.” Ich habe sofort angefangen zu weinen. Meine Frau konnte nicht weinen, auch in den nächsten vier Monaten nicht. Dann sahen wir unsere Tochter, ausgerechnet in der Halle des psychiatrischen Krankenhauses, in dem ich früher gearbeitet hatte. Da lagen nun überall diese Säcke, elf, zwölf Säcke. Ich habe als Arzt viele Leichen gesehen, aber dieser Anblick war fast unerträglich. Es war wie im Krieg. Wer das nicht erlebt hat, wird das auch nie verstehen können. Niemals. Nach dem Begräbnis mussten wir flüchten. Wir konnten nicht mehr in der Wohnung bleiben, mit all ihren Sachen. Ich dachte, wir werden auch sterben, wenn wir bleiben. Die Grenze zwischen Tod und Leben war aufgehoben.

Hatten Sie Suizidgedanken in dieser Zeit?

Nein, weiterleben ist für uns beide eine Verpflichtung. Unsere Tochter würde das nicht akzeptieren. Wir wollen würdige Eltern für unsere Tochter sein. Aber unmittelbar nach dem Tod waren wir gelähmt. Meine Frau und ich fühlten eine innere Kälte, eine Leere, die war richtig körperlich zu spüren. Wir hatten keinen Geschmack mehr, keinen Appetit, keine Lust, kein Glück, kein Leben. Ich sagte einmal zu Lena: Wir müssen leben! Und sie sagte: Für was? Wir sind ein paar Tage weggefahren, nach Bad Liebenzell, ein Kurort. In unserem Zimmer gab es kein Telefon, aber einen Fernseher. Wir sahen Berichte vom Amoklauf, aber wir nahmen sie nicht wahr. Es war wie ein Film aus Amerika. Wir gingen ins Thermalbad. Lena saß am Beckenrand auf einem Stuhl und beobachtete mich, ich schwamm mit letzter Kraft meine Bahnen. Ich konnte ihre Blicke genau deuten. Daraus sprach die Angst. Die einzige Bitte, die meine Frau damals an mich hatte, war: Bitte stirb nicht!

Wie weit sind Sie beide heute?

Es ist immer noch sehr schwer. Manchmal trifft meine Frau Mitschüler unserer Tochter. Sie fragen, wie es geht. Dann gehen sie in ihre Schule, wo Viktorija eigentlich auch sein müsste. Das Leben läuft weiter, ohne uns, ohne unsere Tochter. Es ist einfach nicht tragbar, das einzige Kind zu verlieren. Lena arbeitet viel, doch der Job meiner Frau ist eher eine Flucht. Sie macht das, um unter Menschen zu sein. Für sie läuft die Zeit jetzt umgekehrt. Innerlich möchte sie in der Zeit vor dem Amoklauf leben, als sie noch eine gesunde, fröhliche Tochter hatte. Am Anfang trauerten wir ganz ähnlich, jetzt ist unsere Trauer verschieden. Trauerarbeit ist sehr persönlich, teilweise auch egoistisch. Immerhin kann Lena jetzt weinen.

Und Sie?

Mir ist das Ziel abhanden gekommen, ich sehe für mich zur Zeit noch keinen rechten Weg. Auch, weil ich unter einem inneren Konflikt leide: Ein psychisch Kranker hat meine Tochter umgebracht - ich frage mich, wie ich wieder in meinem Beruf als Psychiater arbeiten kann.

Was ist Ihre Hoffnung, wenn die Zeit schon nicht hilft?

Viktorija. Sie war der Grund für uns, nach Deutschland zu kommen. Sie hat mir und meiner Frau geholfen, die neue Sprache zu lernen. Sie hat uns motiviert, erfolgreich zu sein. Sie hat uns geholfen, das echte Leben zu spüren. Sie hatte hohe moralische Prinzipien. Sie zeigt uns auch jetzt, auf einer geistigen Ebene, wie wir weiterleben sollen. Mit Hoffnung und Würde.

Interview: Michael Streck/Ingrid Eißele