Zeitenspiegel Reportagen

„Wir brauchen intelligente Wege“

Erschienen in "natur" 05/18. Fotos: Florian Lang

Von Autor Markus Wanzeck

Zu Besuch bei Sunita Narain, der einflussreichsten Umweltaktivistin Indiens. Ihr Lieblingsumweltproblem? Die Luftverschmutzung. Deutschlands Autoindustrie-Hörigkeit? Erbärmlich. Großbritannien als Indiens Vorbild? Bloß nicht! Vierter Teil der natur-Serie „Umweltmacht Indien“.

Sie ist eine gefragte Frau. Einfach ist es nie, Sunita Narain zum Gespräch zu treffen. Fast unmöglich ist es, wenn Indiens Hauptstadt Neu Delhi mal wieder im Smog verschwindet. Dann ist sie als Krisenmanagerin im Dauereinsatz; zusammen mit der Regierung hat sie einen Smog-Notfallplan entwickelt. Ein Interviewtermin, über Wochen wieder und wieder verschoben, platzt in allerletzter Minute: Sie muss zu einem eiligen Ministertreffen. Delhis Luft lässt sich kaum noch atmen, die Krankenhäuser sind voll, die Schulen geschlossen. Smog als Staatskrise. Narain schreit, schimpft, entschuldigt sich – der wenige Schlaf. Dann muss sie weg. Ein paar Tage später hat sich die Situation entspannt. Die Sonne ist wieder zu sehen. Narain empfängt uns auf der Dachterrasse ihres Büros, im „Centre for Science and Environment“ (CSE).

natur: Frau Narain, der Smog hat Ihnen wohl noch mehr zugesetzt als anderen. Wie geht es Ihnen?

Narain: Viel besser. Ich konnte zum ersten Mal seit Wochen ausschlafen – zehn Stunden am Stück! Die Luft in Delhi ist wieder normal. Heißt: schlecht. Sehr schlecht. Aber sie schnürt einem nicht mehr bei jedem Atemzug die Kehle zu.

Sie sagen, die Luftverschmutzung sei Ihr Lieblingsumweltproblem.

Sie hat tatsächlich einen großen Vorzug: Jeder muss atmen. Ob arm oder reich. Indiens verschmutztes Wasser ist vor allem ein Problem für die Armen. Die Reichen kaufen Trinkwasser in Flaschen. Viele unserer Flüsse sind regelrechte Kloaken, aber ein Aufschrei wie beim Smog bleibt aus. Das zeigt: Ohne massenhafte Sorge um die eigene Gesundheit passiert gar nichts.

Kein sehr idealistisches Menschenbild.

So funktioniert die Gesellschaft leider. Das eigene Wohlergehen ist ein wichtiger Faktor, um unser Verhalten zu ändern. Vielleicht der einzige Faktor. Tabak ist ein klassischer Fall: Als den Leuten klar war, wie schädlich Rauchen ist, haben viele damit aufgehört. Das ist auch der Grund, warum wir uns mit dem Klimawandel so schwertun. Warum machen die USA nichts? Warum kommen die Europäer so schwer in die Gänge? Weil sie die Folgen noch nicht am eigenen Leib spüren.

Sie fordern von den Industriestaaten, sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen: Weil sie jahrzehntelang zu viele Treibhausgase in die Atmosphäre gepustet hätten, müssten sie die Emissionen nun radikal herunterfahren – damit Indien stattdessen mehr emittieren könne.

Sehen Sie, beim Klimawandel geht es nicht nur um Ökologie. Es geht auch um Ökonomie. Um Entwicklungschancen. Das wirtschaftliche Wachstum von Staaten ist noch immer an den Ausstoß von Treibhausgasen gekoppelt. Bis zu einer umfassenden Energiewende – für die wir alles tun müssen – wird das so bleiben. Es ist das gute Recht von Entwicklungsländern, jenen Teil der Atmosphäre, der ihnen zusteht, für sich in Anspruch zu nehmen. Sie ist schließlich ein gemeinsames Gut. Und dieses Gemeingut müssen wir gerechter untereinander aufteilen als bisher.

Wir hatten Narain gefragt, ob wir einen kleinen Spaziergang um den Block machen könnten, zur Hauptstraße, wo Staub- und Abgaswolken wabern und die Fahrbahn von Müllhaufen flankiert ist, in denen Kühe Papier und Essensreste mampfen. Kommt für Narain nicht in Frage. Ein solches Bild von Indien möchte sie nicht verbreitet wissen. Denn neben Umweltproblemen bekämpft sie mit Vorliebe interkulturelle Klischees. Unser Spaziergang führt also nur hinunter in den (sehr gepflegten) Garten des CSE-Gebäudes. Im Treppenhaus hängt ein Plakat, das den Industrieländern „CO2lonialism“ vorwirft, Kohlendioxid-Kolonialismus.

Deutschland sieht sich als globaler Energiewendevorreiter. Ein korrektes Selbstbild?

Würde ich schon sagen. Was die Energieerzeugung angeht, glaube ich nicht, dass irgendein anderes Land auf der Welt mehr getan hat. Deutschland hat gezeigt, dass ein alternativer Weg möglich ist: Strom aus dezentralen, erneuerbaren Energiequellen. Und das in einer Größenordnung, die wirklich einen Unterschied macht. Das sollte man nicht unterschätzen.

Wobei Deutschland Probleme hat, seine Klimaschutzziele zu erreichen.

Der gleichzeitige Ausstieg aus der Kohle- und der Atomenergie fordert natürlich seinen Tribut. Und es gibt auch Bereiche, in denen Deutschland alles andere als vorbildlich ist. Der Fleischkonsum ist ein Problem, die Art der Viehhaltung, die Menge an Fleisch, die jeder Deutsche verzehrt. Das hat Folgen für das Klima.

Auch der deutsche Verkehrssektor spielt beim Klimaschutz keine rühmliche Rolle.

In dieser Hinsicht gibt die deutsche Regierung wirklich ein sehr schlechtes Bild ab. Die Unterwürfigkeit Ihrer Politiker gegenüber der Autoindustrie ist erbärmlich. Auch in Indien sind es übrigens die deutschen und europäischen Autohersteller, die besonders vehement gegen eine umweltfreundlichere Verkehrspolitik kämpfen. Die koreanischen oder japanischen Hersteller sind da kooperativer.

Indiens Verkehrsminister erregte Aufsehen mit einer rabiaten Drohung an die Autoindustrie: Entweder baue sie schleunigst E-Autos – oder sie werde dem Erdboden gleichgemacht.

Oh ja, das war sehr gut! Zwar ging es ihm dabei weniger um den Klimaschutz – dafür müsste Indien ja zunächst einmal viel mehr Strom aus nichtfossilen Quellen gewinnen –, sondern in erster Linie um die Luftverschmutzung in den Städten. Aber es war zweifellos sehr mutig von ihm. So etwas hatte sich unser Umweltminister noch nicht getraut.

Im Garten hinter dem CSE-Gebäude sind wir an einem Häuschen angelangt, vor dem vielfarbig Mülleimer stehen. Gelb: Papier. Blau: Plastik. Schwarz: Glas und Metall. Rot: Restmüll.

Der Müll ist Indiens offensichtlichstes Umweltproblem. Der größte Teil landet einfach auf Deponien.

Stimmt nicht ganz. Der größte Teil jenes Mülls, der gesammelt wird, landet auf Deponien. Der meiste Müll aber wird gar nicht erst gesammelt. Der liegt einfach herum.

Warum tut sich Indien mit der Müllentsorgung so schwer?

Es fehlt das Verantwortungsgefühl. Bei uns herrscht traditionell die Denkweise vor, dass schon irgendjemand kommen und sich darum kümmern wird. Die „Lösung“ des Problems besteht dann darin, dass der Müll der Reichen letztlich in den Hinterhöfen der Armen landet. Neu ist, dass die Armen sich das nicht länger gefallen lassen. Sie emanzipieren sich. Und wenn du den Müll nicht mehr im Hinterhof verschwinden lassen kannst, musst du den Vorgarten ernsthaft aufräumen. Insofern sind wir in Indien gerade Zeuge eines bedeutenden Wandels: Wir werden nun echte Lösungen brauchen.

Kann es sein, dass den Menschen in Indien die Umweltgesetze ein bisschen egaler sind als anderswo?

Auch in Deutschland hält sich nicht jeder an die Gesetze. Es ist nicht so, dass die Inder an sich boshafte Leute wären und alle Gesetze brechen. Es ist nicht so, dass Inder schmutzige Leute sind! Es stimmt nicht, dass Inder korrupte Menschen sind! Indiens großes Problem liegt darin, die bestehenden Gesetze tatsächlich durchzusetzen. Unsere schwachen Institutionen sind unsere Achillesferse.

Wir bleiben vor einer durchsichtigen Säule stehen, zwei Meter hoch vielleicht. In ihr tanzt ein Strudel aus gelblich-braunem Wasser.

Das ist unser anaerober Klärreaktor, in dem wir unter Ausschluss von Sauerstoff unser Abwasser reinigen. Dieser Strudel steht am Ende des Klärprozesses. Hier wird dem Wasser wieder Sauerstoff zugesetzt. So bekommen wir Wasser, mit dem wir unseren Garten gießen können.

Die Reinigung von Abwasser ist in Indien eher die Ausnahme.

Allerdings. Ein Großteil der Haushalte ist nicht einmal ans reguläre Abwassersystem angeschlossen. Und selbst bei denen, die es sind, wird längst nicht das ganze Abwasser geklärt, ehe es in den Flüssen landet. Unsere kleine Kläranlage soll einen Beitrag dazu leisten, dass sich das ändert. Mit ihr können wir Ingenieure in Abwassermanagement schulen.

Andererseits kritisieren Sie, Toiletten mit Spülung seien der falsche Weg, um ein gesellschaftliches Problem Indiens zu lösen: den immer noch weit verbreiteten Stuhlgang im Freien.

Gegen Spültoiletten an sich habe ich nichts einzuwenden – wobei zu überlegen ist, wie das in einem Land mit 1,3 Milliarden Menschen und ohnehin großer Wasserknappheit umsetzbar wäre. Meine Kritik richtet sich gegen die Haltung des flush and forget, des Spülens und Vergessens, die damit einhergeht. Man drückt die Spülung, und das Problem scheint aus der Welt. Ist es aber nicht, ohne Abwassersystem, ohne Kläranlagen.

Indien steht vor vielen solchen grundlegenden Herausforderungen. Spielen Umweltthemen in der Politik, bei Wahlen überhaupt eine Rolle?

Die Umwelt selbst ist kein großes Thema. Aber Dürren sind ein Thema. Das verschmutzte Wasser ist ein Thema. Landwirtschaft, Gesundheit, Überschwemmungen – all das beschäftigt die Menschen, und im Grunde sind es Umweltthemen. In Indien ist der Blick auf die Umwelt zuallererst ein sozialer. Das ist anders als bei den grünen Parteien in Europa oder den USA. Dort geht es oft um die Umwelt als solche.

Ist das der Grund, warum es im politischen System der größten Demokratie der Welt keine grüne Partei gibt?

Der Hauptgrund ist: Wir haben keine repräsentative Demokratie wie in Deutschland. Sondern ein britisch geprägtes Mehrheitswahlrecht: Der Wahlsieger bekommt überproportional viele Stimmen, kleinere Parteien haben keine Chance. Insofern glaube ich nicht, dass wir in Indien Hoffnungen in eine grüne Partei setzen sollten. Wir sollten vielmehr dafür sorgen, dass unsere großen Parteien viel grüner werden.

Seit mehr als 35 Jahren arbeiten Sie am „Centre for Science and Environment“. Ist Indien in dieser Zeit umweltbewusster geworden?

Ich denke, „Umwelt“ ist definitiv ein Modewort geworden. Jeder möchte heute ein Umweltschützer sein. Niemand möchte als Umweltverschmutzer dastehen. Und dennoch fehlt uns das Verständnis dafür, wie wir diese Grundstimmung in einen wirklichen Wandel übersetzen können. Wir sind noch nicht auf dem richtigen Weg.

Was ist der größte Fehler des westlichen Wachstumsmodells?

Diese ignorante Haltung: „Erstmal Wachstum und Verschmutzung – die Lösungen für die Probleme, die das schafft, werden sich später schon noch finden.“ Eine solche Ignoranz kann Indien sich nicht leisten.

In einem Ihrer Bücher zitieren Sie Mahatma Gandhis Wunsch, dass ein unabhängiges Indien nie so „entwickelt“ sein möge wie das Land seiner Kolonialherren. Seine Begründung: „Wenn Großbritannien dafür die Vergewaltigung der halben Welt nötig hatte, wie viele Welten würde Indien brauchen?“ Allerdings scheint Indien denselben Weg einzuschlagen.

Weil die Alternativen fehlen. Jeder ist auf sozialen Aufstieg bedacht. Jeder möchte leben wie ein Amerikaner. Das ist es schließlich, was wir in den Medien sehen. Das sind die Lebensentwürfe, die wir gezeigt bekommen. Und nach denen viele Menschen auch in Indien gerne leben möchten.

Man kann also nichts dagegen tun?

Doch, natürlich. Nichts, was geschieht, ist unumgänglich. Wir müssen für unser Land intelligentere Lebensentwürfe finden. Wir müssen Fortschritt, Moderne, und Glück anders definieren.

Zur Person:

Sunita Narain, Jahrgang 1961, leitet das „Centre for Science and Environment“ (CSE) in der indischen Hauptstadt New Delhi, einen einflussreichen Thinktank für Umwelt- und Entwicklungsthemen mit mehr als 100 Mitarbeitern. Sie hat das CSE, das sich hauptsächlich durch Spenden und Fördergelder trägt, in den vergangenen 26 Jahren wesentlich mit aufgebaut. Narain berät Indiens Regierung in vielen Umweltfragen, zugleich übt sie öffentlich Kritik an Missständen. International bekannt wurde sie durch den Klimawandel-Dokumentarfilm „Before the Flood“, in dem Hollywood-Schauspieler Leonardo DiCaprio sie neben Barack Obama, Papst Franziskus und Ban Ki Moon interviewt. Das US-Magazin Time kürte sie 2016 zu den „100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt“.