Zeitenspiegel Reportagen

Der Hiob von Backnang

Erschienen auf "stern.de", 14. März 2013

Von Autorin Ingrid Eißele

Im Obergeschoß starben in der Nacht zum Sonntag die Nachbarin Nazli Ö. und ihre sieben Kinder. Nicht die erste Katastrophe im Leben von Walter Schüle, der im Erdgeschoß der Wilhelmstraße 33 in Backnang eine Getränkehandlung betrieb. Vor vier Jahren wurde seine Tochter in der Nachbarstadt Winnenden von Amokläufer Tim K. erschossen.

„Bitte entschuldigen Sie die Unordnung“, sagt Walter Schüle, 56, als er ins Wohnzimmer bittet. Ein Dutzend Aktenordner liegen auf dem Teppich, Briefe, Versicherungspolicen, einige Schuber mit Papieren. Irritierend, dass er auf diese winzige Unordnung hinweist, während in seiner Firma, ein paar Kilometer entfernt, tatsächlich das Chaos herrscht. Im Verkaufsraum stehe das Löschwasser, Teile der Decke seien heruntergebrochen, alles sei verrußt und verdreckt.

Die Getränkehandlung, die er im Erdgeschoß des langgestreckten Hauses betrieb, ist zerstört. Die Firma ist nur noch ein Handy, auf das er Anrufe umgeleitet hat, sein Büro ist der Couchtisch, er notiert mit ruhiger Stimme Bestellungen, als wäre nichts passiert. „WS-Getränkecenter, Schüle, Grüß Gott“. Frau P. bestellt eine Kiste Hirschquelle, eine andere Kundin Kräuter-Bionade und Apfelsaft. „Wollen Sie Glas oder Plastik?“ Zwischendrin schluckt er Tabletten gegen Kopfschmerzen. Er hat wenig geschlafen seit Sonntag früh. Kurz vor fünf Uhr morgens klingelte sein Handy auf dem Nachttischchen. Es war der Wirt der Gaststätte, die sich auf der anderen Seite des Gebäudes befindet, in dem er sein Lager und den Verkaufsraum hat. „Walter, das Haus brennt!“ Drei Menschen hatte der Wirt noch retten können, aber nicht Nazli Ö. und ihre Kinder. Schüle kannte die quirligen Kinder, die oft Süßigkeiten bei ihm kauften: „Der Nachbar sagte mir, alle sind tot,“ berichtet er und hat Tränen in den Augen.

Schüles Handy klingelt schon wieder, alle paar Minuten nimmt er an seinem Couchtisch eine neue Bestellung auf. Er versucht Ordnung zu schaffen in diesem Leben, das schon lange keine Ordnung mehr kennt. Nicht mehr, seit vor vier Jahren seine Tochter Sabrina starb. Sabrina Schüle war 24 Jahre alt, Referendarin an der Albertville-Realschule im nahen Winnenden, sie hatte sich mit ihren Schülern im Chemieraum eingeschlossen, als sie Schüsse hörte. Tim K. schoss von außen durch die Tür des Chemiesaals. Die Kugel traf die junge Lehrerin. Hinter dem Aktenberg im Wohnzimmer steht das Bild der lächelnden Tochter. Eine Kerze und ein Kreuz daneben. „Es geht nicht mehr weiter, wir sind am Ende“, sagte seine Frau, als sie von der Brandkatastrophe erfuhr. Wie Hiob fühle er sich, sagt Walter Schüle, „dem alles genommen wurde“. Hiob, den Gott prüft, der seine Kinder und sein Haus verliert und der aufbegehrt. Hiob soll die Katastrophen als Strafe für seine Verfehlungen annehmen, doch er ist sich keiner Schuld bewusst und wehrt sich dagegen, dass ihm zum Leid auch noch Schuld zugeschoben wird. Keiner schiebt Walter Schüle Schuld zu. Die Kämpfe finden in seinem Inneren statt. Seine Zweifel an einer gerechten Ordnung, an einen Schöpfer, der über allem die Hand hält, die trägt er mit sich selbst aus. Tim, dem Mörder seiner Tochter, konnte er schon nach einem halben Jahr verzeihen, er hat es sich abgerungen. Das heißt nicht, dass er dem Vater Jörg K. verzeihen kann, obwohl er doch am Anfang auch Mitleid mit der Familie des Täters hatte. Doch inzwischen, nach zwei Prozessen und der Ankündigung der Anwälte des Vaters, nochmals in Revision zu gehen, sind die Fronten verhärtet. „Ich will ihm nicht mehr verzeihen, und da hab ich ein echtes Problem“, sagt er. Denn sein Glaubensverständnis – er ist seit einigen Jahren Mitglied der Neuapostolischen Kirche – verlangt ihm genau dieses ab. „Sie können nicht beim Abendmahl beten: Herr, vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern - und es dann selbst nicht tun.“

Die Welt ist nicht mehr wie bei Hiob im Alten Testament. Und doch, in Backnang taucht sie wieder auf, die Frage nach der Schuld und vor allem nach den Schuldigen. Noch ist nicht klar, was die Ursache der Katastrophe war, die zum Erstickungstod von Mutter und Kindern führte. Walter Schüle aber will für sich darin keine Strafe des Himmels sehen. Er sagt: „Ich nehme es als Unglück.“

Getränkehändler rufen an, die ihm Hilfe anbieten. Er braucht schnell Räume, damit seine Kunden nicht abwandern. Das Mitgefühl nach dem Amoklauf half ihm, es hilft ihm auch heute, so lange es kein Mitleid ist. Das kann er genauso wenig brauchen wie Selbstmitleid. Neulich, erzählt er, habe er sein Spiegelbild betrachtet und sich gesagt: „Du bist ein total verbitterter alter Sack.“ Doch da hatte er einfach einen schlechten Tag, sagt er. Und lächelt.