Zeitenspiegel Reportagen

Der Ikarus aus Dresden

erschienen in „Berliner Zeitung“, 1. August 2018

Von Autor Bernd Hauser

Einst wollte Michael Schlosser aus der DDR in die Freiheit fliehen – mit einem selbst gebauten Flugzeug. Doch ein Kollege verriet ihn, er kam ins Gefängnis. Dreieinhalb Jahrzehnte später will er nun beweisen, dass sein Eigenbau tatsächlich fliegen kann.

Michael Schlosser, 74, ein stämmiger Mann mit grauem Haarschopf und buschigen Brauen, reißt am Zugseil. Einmal, zweimal. Aber der Motor bockt, will nicht anspringen. Der Zweizylinder aus einem alten DDR-Trabant bildet nun den Antrieb eines Fluggeräts, das Schlosser selbst gebaut hat. Rumpf und Tragflächen aus Aluminium blinken im Abendlicht.

Männer in billigen T-Shirts und mit teuren Pilotenuhren stehen um Schlossers Eigenbau herum, manche mit einer Flasche Bier in der Hand: Die Mitglieder des Fliegerclubs Langhennersdorf lassen nach Ausflügen mit ihren Ultraleichtflugzeugen über Felder, Wälder und Weiler des Osterzgebirges den Sonntag gemütlich ausklingen.

Doch Michael Schlosser hat seinen Jungfernflug mit dem Alu-Eigenbau erst vor sich. „Hat das Ding Bremsen?“, fragt einer der Piloten. „Nein“, sagt Schlosser. „Brauche ich nicht.“ Die Wölbung der Tragflächen sehe vernünftig aus, meint der stellvertretende Clubvorsitzende: „Abheben kann er bestimmt.“ Und landen? „Falls er Talent hat und ein Glückspilz ist, dann: Ja.“

Während Schlosser erneut am Zugseil reißt, fachsimpeln die Ultraleichtpiloten über den „Colditz Cock.“ So nannten Offiziere der britischen Royal Air Force im 2. Weltkrieg den Lastensegler, den sie heimlich bauten, als sie als Kriegsgefangene im Schloss Colditz interniert waren. Mit einem Katapultsystem sollte das Fluggerät starten und die Piloten in die Freiheit tragen. Die Idee wurde nie in die Tat umgesetzt, denn bevor der Segler fertig war, befreite die amerikanische Armee die Gefangenen von Colditz. Aber offenbar gibt es in der Gegend eine Tradition dafür, dem Eingesperrtsein in Diktaturen auf dem Luftweg entfliehen zu wollen: Michael Schlosser hatte in der DDR Anfang der achtziger Jahre mit seinem Eigenbau einen ähnlichen Plan wie einst die englischen Offiziere.

Jetzt beginnt der Motor zu keuchen, nimmt Drehzahl auf. Der selbst geschnitzte Propeller aus Esche macht mächtig Wind, weht Schlosser, den Haarschopf aus der Stirn: So sieht er verwegen aus. Ein tollkühner Mann in seiner fliegenden Kiste. Er will einen Rollversuch machen, also den Flieger bis auf Abhebegeschwindigkeit bringen. Nur das hat ihm der Fliegerclub erlaubt. Denn um richtig zu fliegen, bräuchte Schlosser einen Pilotenschein und die Maschine eine Zulassung des Luftfahrtbundesamtes, das wäre teuer und viel zu langwierig, meint Schlosser. Aber was spricht dagegen, beim Rollversuch ein bisschen mehr Gas zu geben? Wenn die Räder den Erdboden verlassen, das Fluggerät einen Hopser macht, hat er endlich den Beweis erbracht. „Es wurmt mich sehr, dass die Leute daran zweifeln“, sagt Schlosser: „Aber ich kann fliegen!“

Denn schon einmal habe er ein flugtüchtiges Gerät gebaut. Das war im Jahre 1983 in seiner Garage. Unter höchster Geheimhaltung. Seinen Wehrdienst hatte der Kfz-Meister in den DDR-Luftstreitkräften abgeleistet und sich dort manches abgeguckt. Außerdem zog er für aerodynamische Fragen das antiquarische Werk „Die Wunder des Segelflugs“ zu Rate. So nahm sein Fluggerät mit 265 Kilogramm Startgewicht in jahrelanger Arbeit Form an. Mit einer Fluggeschwindigkeit von 120 Kilometer pro Stunde wollte er damit aus der DDR fliehen. Auf einer Waldlichtung starten, über der beleuchteten A 9 den Eisernen Vorhang überqueren und dann auf der Autobahn bei Rudolphstein in Bayern landen. Früh morgens um 5 Uhr, wenn es dort kaum Verkehr gibt.

In der DDR hielt ihn nach seiner Scheidung nichts mehr. Außerdem war sein beruflicher Traum geplatzt: „Ich wollte eine eigene Kfz-Werkstatt.“ Der zuständige Genosse sagte: „Du musst zuerst in eine Partei eintreten.“ Also entweder in die SED oder eine der Blockparteien, die den SED-Führungsanspruch akzeptierten. „Mach ich nicht“, sagte Schlosser. „Dann kannst du dir deinen Gewerbeschein an den Hut stecken“, sagte der Genosse.

Schon als Kind hatte Schlosser renitent reagiert, wenn ihn jemand zu etwas zwingen wollte. „Mein Vater war überzeugter Kommunist“, erzählt Schlosser. Von ihm hat er wohl seine handwerkliche Begabung: Der Vater fabrizierte mit der Laubsäuge unermüdlich SED-Logos für die Rednertribünen bei Parteiveranstaltungen. Am 17. Juni 1953, als Michael neun Jahre alt war, schlug die Sowjetarmee den Volksaufstand in der DDR blutig nieder. „Mein Vater verlangte, dass ich den Soldaten auf der Straße Blumen bringe“, erinnert sich Schlosser. „Aber ich wollte nicht.“ Der Vater prügelte ihn dafür. Der kleine Michael reagierte mit Widerstand. Er schwänzte die Zusammenkünfte der „Jungpioniere“ und stellte am Radio immer wieder den Westberliner RIAS ein: „Auch wenn es dafür neue Dresche gab.“ Als Michael zehn Jahre alt war, beendeten die Grosseltern den Kampf zwischen Vater und Sohn und nahmen den Jungen zu sich.

Die Generalprobe zur Flucht findet am frühen Morgen des 14. August 1983 auf einem Übungsplatz der russischen Streitkräfte statt. Doch als er den Flieger auf dem einsamen Gelände von seinem Laster abladen will, kommt eine Gruppe Sowjet-Soldaten aus dem Wald. „Ich arbeite fürs Fernsehen“, sagt er – was der Wahrheit entspricht: Der Kfz-Meister ist Fuhrparkleiter im Studio Dresden des DDR-Fernsehens. Was nicht stimmt: „Für eine neue Serie muss ich den Flieger testen.“ Er zaubert zwei Flaschen Wodka hervor. Munter helfen ihm die Russen, den Flieger aufzubauen und setzen sich ins Gras. Schlosser beschleunigt – und hebt ab. Zwei Meter hoch – dann muss er wieder auf den Boden, weil der Waldrand gefährlich näher kommt. Die Soldaten gratulieren.

Beweisen kann er diesen geglückten Versuch nicht – und zum Fluchtflug kam es nicht. Denn kurz vor dem geplanten Termin stutzt der Staatssicherheitsdienst „Ikarus“ die Flügel: So nennen die Stasi-Leute Michael Schlosser bei ihren Ermittlungen gegen ihn. In der griechischen Mythologie erhob sich Ikarus mit Flügeln aus Wachs und Vogelfedern in die Lüfte – aber trotz Warnungen des Vaters wurde er übermütig und kam der Sonne zu nahe; das Wachs schmolz, Ikarus stürzte ab.

Die DDR mag keine übermütigen Bürger. Ein Kollege beim Fernsehen ist „Informeller Mitarbeiter“ (IM) bei der Stasi. Er beobachtet, dass Schlosser sich in einem ungarischen Magazin für einen Bericht über Flugdrachen interessiert – und meldet ihn. Die Stasi-Beamten durchsuchen die Werkstatt, finden das Flugzeug und verhaften Schlosser. Er bekommt viereinhalb Jahre Gefängnis wegen versuchter „Republikflucht“.

Die Flucht mit einem Flugzeug gelingt dagegen anderen. Bereits im Jahre 1980 nutzt Wolfgang Schmelzer die Gelegenheit, die sich ihm als Schlepppilot in einem Segelfliegerclub in Leipzig bietet. Er steuert eine vollgetankte Wilga, eine einmotorige polnische Maschine, 52 Minuten lang mit Vollgas bis über die Grenze bei Rudolphstein. Seine Frau, ebenfalls eine Pilotin und Mitwisserin, wird daraufhin zu 27 Monaten Gefängnis verurteilt. Noch kurz vor Ende des DDR-Regimes, im Mai 1989, starten Ingo und Holger Bethke mit zwei Ultraleichtfliegern von einem Fussballplatz in Neukölln, fliegen über die Mauer und landen im Treptower Park. Dort wartet ihr Bruder Egbert schon in einem Gebüsch. Sicher gelangen die drei Brüder zurück in den Westen der Stadt. Aber ohne Pilotenschein und mit einem Eigenbau, so dreist war nur Michael Schlosser.

Zwar kauft ihn die Bundesrepublik nach fünf Monaten Haft für 96.000 Mark frei und er kann bei Ludwigshafen seine eigene Werkstatt eröffnen. Aber Schlosser ist von Verhören und Gefängnis gezeichnet. Er kämpft mit Migräne, in seinen Träumen rasseln Wärter mit Schlüsseln und „und immer wieder steht Erich Honecker an meinem Bett“.

Im Alter von 60 Jahren kehrt er nach Dresden zurück. Er macht Führungen an der Stasi-Gedenkstätte, außerdem lädt er regelmäßig den Nachbau seines Fliegers auf den Autoanhänger und besucht Schulen im gesamten Bundesgebiet, um seine Geschichte zu erzählen. „Die Kinder heute können sich diese Zeit schon gar nicht mehr vorstellen“, sagt Schlosser und schüttelt den Kopf. „Ein Schüler fragte mich, warum ich nicht einfach auf dem Bahnhof eine Fahrkarte löste und nach München fuhr! Sie sind ganz selbstverständlich in die Freiheit geboren und haben keine Idee, was ein Reiseverbot ist und wie eingesperrt man sich fühlte.“ Allerdings scheint es, dass seine Arbeit als Zeitzeuge auch eine Art Selbsttherapie ist: „Seid ich meine Geschichte erzähle, geht es mir gesundheitlich besser.“ Aber erst mit dem Jungfernflug des Nachbaus kann Schlosser seine Vergangenheitsbewältigung endgültig abschließen.

„Ich bin in der DDR Motorradrennen gefahren. 250 Kubikzentimer“, sagt Schlosser. „Deshalb weiß ich: Du darfst keine Angst haben. Angst ist dein größter Gegner.“ Er rollt an, gibt Gas. Der Flieger ruckelt über die Graspiste. Mit 20 Kilometern pro Stunde, 30. Die Tragflächen wippen bedenklich. 35 Kilometer pro Stunde, 40 … plötzlich reißt es das Fluggerät herum. In eine enge Linkskurve, wie mit einer Riesenfaust gepackt, die Fliehkräfte heben Schlosser schier aus seinem Sitz. Dann erstirbt der Motor, das Flugzeug kommt zum Stehen. Stille.

Was ist passiert? „Da war wohl eine tiefe Bodenrille in der Piste“, erklärt Schlosser seelenruhig, als er aus dem Cockpit klettert. „Deshalb ist ein Bolzen an der Lenkung gebrochen.“ Das Rad am Heck lässt sich nicht mehr steuern. Er schiebt das Vehikel Richtung Hangar. „Das war ein Materialfehler. Heute geht nichts mehr.“

Lutz, einer der Ultraleicht-Piloten, geht auf Schlosser zu. „Mann, was du handwerklich kannst, ist eine reife Leistung. Aber es ist gut, dass die Stasi dich eingesperrt hat. Sonst hätt´ste die Wende gar nicht erlebt!“ Der Propeller müsse schmaler und anders gebogen sein. Die Querruder müssten weiter nach außen. Vor allem aber müssten die Flügel mit Streben verstärkt werden: „Wenn dir bei einem Hopser die Tragfläche bricht, ist das Ding unkontrollierbar.“ Schlosser verteidigt sich: „1983 hatte ich andere Tragflächen. Die waren leichter.“ Er hatte sie damals aus Sperrholz und Nesseltuch gefertigt, das er mit Latex und Polyesterharz bestrich, bis eine feste Hartschale entstand. „Ich habe damals aus dem buchstäblichen Nichts meinen Flieger gebaut!“, sagt er mit einem Anflug von Trotz. Alles Material musste er sich in der DDR-Mangelwirtschaft heimlich und mit List besorgen.

„Die heutige Erfahrung lehrt mich: Ich muss den Flieger von 1983 exakt nachbauen“, überlegt Schlosser. Mit den leichteren Tragflächen. Auch den Trabant-Zweizylinder müsse er wieder frisieren, so dass er statt 28 PS satte 36 PS mache. „Mein Sternzeichen ist Wassermann. Die geben nicht auf“, sagt Schlosser. „Ihr werdet mich auf diesem Flugplatz künftig öfter sehen.“

ENDE