Zeitenspiegel Reportagen

Verfolgt im Hergottswinkel

Erschienen im "Tagesspiegel", 2008

Von Autor Frank Brunner

Als ein Freund im Sterben lag, beschloss Franz Robeis sein Leben zu ändern: “Rede nicht wie ein Christ, handle wie einer.“ Es hat ihn zu einem Gehetzten gemacht – wo immer er hinkam.

Er empfängt seine Besucher bereits am Tor zu seinem Gehöft. Erst nach einem harten Händedruck und ein paar prüfenden Blicken geleitet er fremde Gäste ins Haus. Er hat sich angewöhnt, vorsichtig zu sein.

Nachdem Franz Robeis beschlossen hatte, ein gottgefälliges Leben zu führen, besuchte er kaum noch die Kirche im Dorf. Er wollte nicht mehr nur beten wie ein Christ, sondern auch wie einer handeln. Städter lebten von da an auf seinem Hof, schmutzige, süchtige, kranke. Die Dörfler lächelten darüber, am Anfang. Am Ende dann gab es fast nur noch Ablehnung und Hass. Robeis hätte ahnen können, dass sich das nicht mehr ändern würde, auch wenn er schließlich irgendwann aufgab, aus seinem alten Dorf flüchtete und sich 500 Kilometer nördlich ein neues suchte. Denn Robeis ist seinem Beschluss von damals treu geblieben. Franz Robeis wohnt seit 18 Jahren in Melkers, einem Dorf zwischen Werratal und Rhönvorland, sechs Kilometer nordwestlich von Meiningen, das sich „Kulturstadt“ nennt. Er ist nicht groß, aber kräftig. Das freundliche Gesicht verbirgt der 60-Jährige hinter einem Vollbart, die Füße stecken in Gummistiefeln und seine rauen Hände verraten, dass er zupacken kann. Wenn Robeis spricht, baut er seine ruhigen Sätze aus einfachen Worten und färbt sie mit seinem Dialekt, der ungewohnt ist für die Ohren der Leute im Ort. Robeis’ Worte sind nicht das Einzige, was den Menschen hier fremd ist.

Es ist viertel nach sechs an jenem 19. August 2007, und der Oberbayer Franz Robeis liegt blutend auf einer Thüringer Dorfstraße. Platzwunden am Kopf und diverse Blutergüsse werden die Ärzte im Krankenhaus diagnostizieren. „Er hat diesen Denkzettel verdient“, sagt die Nachbarin vom Haus um die Ecke.

Mit dem Überfall begann das vorläufig letzte Kapitel im Drama eines Außenseiters, das vor 20 Jahren in der bayerischen Postkartenidylle von Obing am See begann. Obing, Chiemgau, die Menschen hier leben von Feriengästen und von der Landwirtschaft. Franz Robeis ist 17, als sein Vater stirbt. Die Mutter ist herzkrank, die ältere Schwester schon verheiratet. Also übernimmt Franz den elterlichen Bauernhof, kauft neues Land hinzu, wirtschaftet. „Meine Kühe hatten die beste Milchleistung im Landkreis“, sagt er. Im Dorf respektiert man den tüchtigen, jungen Bauern. „Jeden Sonntag bin ich zum Gottesdienst gegangen.“

1986 verunglückt sein bester Freund. Auf dem Sterbebett klagt er, wie sinnlos er gelebt habe und warnt Robeis davor, den gleichen Fehler zu begehen. Seine Worte verfolgen Robeis seither täglich. „Ich wurde immer unzufriedener und fand einfach keine Ruhe mehr.“ Die Gebete in der Kirche empfindet er plötzlich als „leeres Geschwätz“. Franz Robeis sucht einen anderen Weg zu Gott. Er findet ihn schließlich durch Max, den „Dorfdeppen, mit dem keiner etwas zu tun haben wollte“, sagt Robeis. Max war mal Bäcker, dann arbeitete er in einer Brauerei, begann zu trinken, er verlor erst den Führerschein, dann die Arbeit, dann die Wohnung. „Ich habe Max jeden Tag durchs Dorf laufen sehen, total abgemagert und dreckert“, sagt Robeis. Das kann kein gutes Leben sein, dachte er sich und räumte dem Gestrandeten ein Zimmer frei. Und es kam ihm die Idee, denen zu helfen, die sich nicht selbst helfen können. Robeis gründet den Verein „Ermutigung zum Leben“, es ist 1987, er kauft im Nachbarort Honau einen zweiten Hof, baut ihn um und kümmert sich um Obdachlose, Drogenabhängige und Behinderte. Die meisten kommen von der Diakonie, andere holt Robeis vom Münchner Hauptbahnhof. Manche stehen einfach vor seiner Tür.

„Man wusste immer, wo man die hinschicken konnte, die sonst keiner haben wollte“, sagt der ehemalige Gemeindepfarrer Valentin Tremmel noch heute. Robeis fährt mit seinen Gästen zum Landratsamt, zum Wohnungsamt, zum Arbeitsamt. Oft gibt er Geld, und manchmal bekommt er es sogar zurück. Zeitweise leben über 20 Menschen auf dem Hof. Robeis’ Frau denkt an Trennung. Sie bleibt dann doch. Ende der 80er Jahre wird der Dokumentarfilmer Wolfram Seipp auf die beiden aufmerksam. Sein Porträt „Der gute Mensch“ zeigt, wie Franz Robeis allmählich selbst zum Außenseiter wird.

Er schade dem Tourismus, heißt es in der Gemeinde. Schmeiß deine Penner raus, fordern die Nachbarn, und der damalige Bürgermeister verspricht vor laufender Kamera, er werde mit dem Saustall bald aufräumen. Robeis wird angezeigt, zweimal kommt die Polizei mit Hunden, sucht nach Drogen, findet nichts. Der Hof in Obing wird angesteckt, mehrmals, beim achten Mal schließlich brennt er ab. Die Täter sind bis heute nicht ermittelt.

Seinen zweiten Hof in Honau muss Robeis zwangsweise versteigern, nachdem die Behörden bauliche und hygienische Mängel beanstanden und die Schließung verfügen. 20 Jahre ist das her. Robeis’ damaliger Anwalt bezweifelt noch heute diese Gründe. Denn im Schreiben des Landratsamtes Traunstein standen Sätze wie dieser: „Neben Behinderten, Sozialhilfeempfängern, Strafentlassenen und Obdachlosen, sind in der Vergangenheit wiederholt auch Kinder und Jugendliche untergebracht worden, was den einschlägigen Jugendschutzgesetzen zuwiderläuft“. Robeis wirkt noch immer fassungslos, wenn er darauf angesprochen wird. Er sagt: „Ich habe die Eltern darüber informiert, wer auf meinem Reiterhof lebt, alle erklärten sich damit einverstanden.“

1990 ziehen Franz und Brigitte Robeis nach Thüringen. „Ein Bekannter erzählte, dass in Melkers ein Gut zu verkaufen ist“, sagt Robeis’ Frau. In Melkers haben die Häuschen hübsche Fassaden, der Rasen davor ist gemäht und in den Einfahrten parken Mittelklassewagen. Die Arbeitslosigkeit ist hier niedriger als anderswo in Thüringen, die Kriminalität liegt weit unter dem Bundesdurchschnitt. Es lässt sich gut leben in Melkers. Wenn man sich an die Regeln hält. Franz Robeis hält sich immer noch nicht daran. Sein Anwesen erinnert an ein Abbruchhaus. Grauer, unverputzter Backstein, Fenster, die kaum Licht in die karg eingerichteten Räume lassen, draußen, zwischen allerlei Gerümpel, wuchert das Gras. So einer passe nicht ins Dorf, schimpft die Nachbarin. „Schauen Sie sich doch mal sein Haus und das ganze Gerümpel davor an und dann ist er ja auch nicht von hier, das hört man ja auch.“ Die Besitzerin des Lebensmittelgeschäftes im Nachbarort findet das auch. In ihrem Laden liegt die „Nationalzeitung“ aus und Robeis hat mal sämtliche Exemplare des rechtsextremen Blattes gekauft, um sie wegzuschmeißen. Den jungen Leuten in Melkers missfällt die Fahne mit der Aufschrift „Stoppt Nazis“, die Robeis jedes Jahr am 20. April, dem Geburtstag Adolf Hitlers, an sein Haus hängt.

„Mein Großvater war in Dachau, weil er als Gemeindevorsteher den Hitlergruß verweigert hatte“, sagt Robeis. Nach dem Krieg wird er von den Amerikanern erneut zum Bürgermeister ernannt und erspart auch jenen im Ort das Gefängnis, die ihn Jahre zuvor ins Konzentrationslager sperren ließen. Er bescheinigt ihnen, nur Mitläufer gewesen zu sein. „Gott wird über sie richten, nicht ich“, habe er damals gesagt. Das habe ihn sehr beeindruckt, sagt Robeis, und sein Blick wandert auf das Foto des Großvaters, das neben dem Holzkruzifix über der Couch hängt.

Irgendwann grüßten einige Nachbarn in Melkers nicht mehr, damit fingt es an. Dann die Schmierereien an der Hauswand und die Pöbeleien auf der Straße. Irgendwann kamen Leute vom Finanzamt. Verdacht auf Steuerhinterziehung. Franz Robeis hat ein kleines Reitgeschäft. Jedes Wochenende fährt er mit seinen Pferden zu Dorffesten, wo er Ponyreiten für Kinder anbietet. Angemeldet habe er diese Tätigkeit anfangs nicht, sagt er achselzuckend und man merkt, dass Robeis jedwede Bürokratie für überflüssig hält. In Melkers weiß man das. Irgendjemand schreibt eine Anzeige. Nach kurzer Zeit werden die Untersuchungen eingestellt. Robeis’ Einkommen ist zu gering. Dann fliegen nachts Knallkörper auf seinen Bauernhof. „Dumme Jungs“, denkt Robeis. Bis zu jenem Sonntagmorgen im August 2007, an dem die Jungs ernst machen.

Robeis parkt kurz vor sechs seinen zerbeulten Opel Vectra vor den Ställen, bringt den Kühen frisches Gras, schaut nach dem Bein der humpelnden Ziege, füttert die halbblinden Hunde und all die anderen kränklichen Kreaturen, denen er auf seinem Hof ein Gnadenbrot gewährt. Schon von weitem kann er es hören, „Heil Hitler“, grölt jemand vom Klubhaus zu ihm herüber. Und plötzlich stehen fünf junge Männer vor ihm.

„Du linke Ratte, jetzt kriegen wir dich!“

Robeis springt in sein Auto, verriegelt die Türen und hofft. Die Jugendlichen hämmern gegen die Scheiben, steigen auf seinen Wagen und treten gegen das Dachfenster. Robeis will fliehen, aber er kommt nicht weit. Mit Fäusten und einer Holzlatte prügeln sie auf ihn ein. Dann verschwindet die Meute. Die Schläger werden kurze Zeit später verhaftet. Doch für Robeis ist die Geschichte nicht zu Ende. Die Polizei leugne den rechtsradikalen Hintergrund der Tat, sagt Robeis, und nun ist er richtig wütend. Seine Hände, die sonst ruhig auf seinem Schoß liegen, zittern.

„Davon weiß ich nichts“, sagt der zuständige Kriminalhauptkommissar Wolfgang Mangold. „Dass es sich um Rechtsextremisten gehandelt habe, kann ich nicht bestätigen“, sagt Eberhard Wagner, Pressesprecher der Polizeidirektion Suhl. „Natürlich waren das keine organisierten Neonazis, aber ich weiß, dass die Jugendlichen mit rechten Ideen sympathisieren“, sagt Werner Schäl, der Bürgermeister von Melkers. Er sagt, der Überfall dürfe nicht verharmlost werden. Er sagt, mit viel Solidarität könne Robeis dennoch nicht rechnen. Zu verschieden seien die Welten, in denen der Bayer und die übrigen Einwohner leben. Der Bürgermeister behält recht. Statt Unterstützung erhalte er Drohanrufe, sagt Robeis, fast jede Nacht. Anzeige erstattet er keine, er erwartet nichts mehr von der Polizei. „Ich traue hier niemandem mehr über den Weg“, sagt seine Frau Brigitte.

Die Ermittlungen gegen die Schläger sind nun abgeschlossen. Ende September sollen sie sich vor dem Amtsgericht Meiningen wegen schwerer Körperverletzung verantworten. Robeis verspürt deswegen keine Genugtuung. Die vergangenen Monate haben ihre Spuren hinterlassen. Der einst schwarze Bart ist fast weiß geworden. Zusammengesunken sitzt er auf dem alten Holzstuhl in seiner Stube. Trotz der vielen Tiere ist es still im Haus. Nur von der Couch fiept leise Gipsy, der kleine Mischlingshund mit dem seltsam schiefen Gesicht, dem sein früherer Besitzer den Kiefer eingeschlagen hat.

Die größeren Tiere weiden neuerdings außerhalb des Dorfes, den Stall im Ort hat er verkauft. Zwischen meterhohem Gras, von außen kaum sichtbar, tummeln sich Kühe, Ponys und Ziegen. Wenn Robeis schlurfend die Koppel betritt, hoppeln sie zu ihm, stupsen mit ihren Köpfen an seinen Bauch und wollen gestreichelt werden. „Viele Tiere, die ich aus Zuchtanlagen hole, haben verkrüppelte Beine oder sind unterernährt“, sagt er und zeigt auf ein schmales, humpelndes Kalb. Lasse man die Tiere frei laufen und füttere sie mit Ziegenmilch, gingen die Schäden meist von allein weg. Robeis kann stundenlang über Tiere reden. „Das macht ja heute gar keiner mehr so“, ist dann sein häufigster Satz.

Später, zurück in seinem Haus, sagt Robeis, er habe gehofft, dass die Tiere dort draußen keinen stören und die Leute vielleicht Ruhe geben. Auch für sein Ponygeschäft habe er nun einen Gewerbeschein. Er blickt durch das trübe Wohnzimmerfenster auf die schmale Dorfstraße, wo neuerdings ein rostiger Renault parkt. Noch immer flattert daran die kleine schwarz-rot-goldene Flagge, die Robeis vor der Fußball-Europameisterschaft angebracht hat. Man könnte meinen, dass er sich jetzt Mühe gibt, dazuzugehören.

Robeis lacht traurig. Er erzählt von der Dorfkneipe, in die man ihn nicht eingelassen habe, weil er dort mal gegen rechte Stammtischparolen gewettert habe. „Und das kam vor einigen Tagen“, sagt Robeis und zeigt auf einen Behördenbrief. „Unerlaubte Sondernutzung von Gemeindeeigentum“ steht da. 25 Euro Strafe soll er zahlen. Brigitte Robeis hatte Blumen in zwei Emaillebadewannen gepflanzt und sie auf einem schmalen Rasenstück direkt vor der Hauswand aufgestellt. Sie stehen zwar niemandem im Weg, doch das Land gehört der Gemeinde.

„Die Leute haben sich darüber beschwert, und deshalb mussten wir aktiv werden“, sagt Katharina Gaszdorf, Sprecherin der für Melkers zuständigen Stadt Meiningen. „Die bekommen keinen Cent von mir“, schimpft Robeis und für einen Moment richtet er seinen Körper auf. Robeis will in Melkers bleiben. Er sagt, er fühle sich zu alt, um erneut umzuziehen.

Am Tor, beim Abschied, dreht er sich noch ein letztes Mal um. „Nicht alle Leute in Melkers lehnen mich ab. Schreiben Sie bitte, dass es hier auch nette Menschen gibt.“ Man sieht kaum, wie Franz Robeis verschwindet.