Zeitenspiegel Reportagen

Harter Hund

Erschienen in „Focus“ am 20.12.2020

Von Autor Bernd Hauser

Das Rad war noch nicht erfunden, da zogen schon Menschen mit Hundeschlitten über das Eis der Arktis. Ein Forschungsprojekt untersucht die Vergangenheit des Grönlandhunds, um ihn in die Zukunft zu retten.

Ihre Hunde zogen schwer an dem mit Robben beladenen Schlitten. Der 19-jährige Edvard Samuelsen und sein 15-jähriger Jagdkamerad waren auf der Heimfahrt in die Siedlung Nuugaatsiaq. Nebel kam auf. Die beiden gerieten von der gewöhnlichen Route ab. Plötzlich ein Knacken, dann brach der Schlitten ins Eis. Im kalten Wasser zog Samuelsen sein Messer, um die Zugleinen der Hunde zu kappen. Doch innerhalb von Sekunden versank der Schlitten mitsamt Beute, Zelt, Gewehr – und zog das Gespann mit sich in die Tiefe. Nur ein einziges Tier konnte Samuelsen retten. Mit einer Peitsche zog sein Freund ihn selbst zurück auf das Eis.

Zum Glück waren die beiden jungen Jäger nur zehn Kilometer von einer Jagdhütte entfernt. Der unterkühlte Samuelsen erreichte sie mit letzter Kraft. „Wir weinten“, erinnert sich Samuelsen, heute 58 Jahre alt: „Die Hunde jaulten und wir konnten sie nicht retten!“

Das traditionelle Leben der Inuit auf Grönland kann unbarmherzig sein. Es ist ein Leben, das eng verbunden ist mit einer außergewöhnlichen Hunderasse. Beides, die Traditionen und die Hunde, drohen nun zu verschwinden.

Wenn ein Jäger einen Eisbären erspäht, spannt er einen Teil seiner Meute aus. Sie stellt den Bären, gegen ihre Übermacht hat er keine Chance. Der Jäger kann sich mit dem Schlitten in aller Ruhe nähern. Manchmal schießt er den Bären zunächst nur an, etwa in den Bauch: Die Hunde sollen weiter mit dem Raubtier kämpfen, Erfahrung sammeln. Wird ein Hund von einer Tatze verwundet, bekommt das Tier den Gnadenschuss.

Grönlandhunde könnten eigentlich so alt werden wie andere Rassen auch. Doch wenn ihre Körper nach fünf bis sieben Jahren verschlissen sind, werden sie meist getötet. „Für Hundebesitzer in Europa klingt das brutal“, sagt Biologe Morten Meldgaard. „Aber die Grönlandhunde sind keine Haustiere, sondern es waren immer Nutztiere, von denen das Leben der Menschen abhing.“

Schon acht Monate nach seiner Geburt wird ein Hund eingeschirrt, gierig darauf, das zu tun, was seine Art ausmacht: Laufen ohne Unterlass, tagelang, wochenlang. „Der Grönlandhund ist unfassbar ausdauernd“, sagt Meldgaard, früher Direktor des Naturhistorischen Museums in Kopenhagen und jetzt Professor an der Universität in Grönlands Hauptstadt Nuuk. „Es gibt kein anderes Nutztier mit dieser Fähigkeit, unter derart harten Bedingungen so viel zu leisten.“

Im Winter waren die Schlitten für die Grönländer Jahrtausende lang die einzige Transportmöglichkeit. Im Laufe von unzähligen Generationen entwickelte sich ein Tier, das wie geschaffen ist für die Polarregion. Das machte sich 1911 auch der Forscher und Entdecker Roald Amundsen zunutze. Grönlandhunde führten seine Antarktisexpedition zum Erfolg. Robert Scott, sein Konkurrent im Wettlauf zum Südpol, hatte auf Motorschlitten und mongolische Ponys gesetzt. Er starb auf dem Rückmarsch an Kälte und Erschöpfung.

Am Anfang einer Tour lassen die grönländischen Hundeschlittenführer ihren Tieren gern freien Lauf. Bei idealem Untergrund können sie kurzzeitig eine Geschwindigkeit von bis zu 35 Kilometer pro Stunde erreichen. Ein Tempo von fünf bis acht Kilometer pro Stunde halten sie tagelang aufrecht. Auf langen Fahrten liegen die Etappen bei 80 bis 90 Kilometer. Der Energieverbrauch der dreißig Kilogramm schweren Kraftpakete ist enorm. Sie wenden bei ihrer Arbeit bis zu 11.000 kcal pro Tag auf. (Die etwa doppelt so schweren Radrennfahrer der Tour de France verbrauchen maximal 7900 kcal pro Tag.) Dabei wurden die Hunde früher nur jeden zweiten oder gar dritten Tag gefüttert – vor allem mit Speck von Robben und Walen. Ihr Organismus hat eine erstaunliche Fähigkeit entwickelt, Fette als Energiequelle zu nutzen und der Kälte zu widerstehen. Während die Menschen auf den Fahrten in Zelten mit benzinbefeuerten Öfen übernachten, um sich im Gesicht keine Erfrierungen zuzuziehen, liegen die Hunde auch bei minus dreißig Grad Celsius im Freien. Nach einem Blizzard zeigt morgens nur die Schnauze aus dem Schnee.

Da Grönlands Jäger- und Fängerkultur lange von den Schlittenhunden abhing, erließ die Regierung ein Gesetz, um die extreme Widerstandsfähigkeit der Tiere zu bewahren: Nördlich des Polarkreises sind keine anderen Rassen erlaubt. So werden Einkreuzungen vermieden.

Doch nun sind Hund und Kultur in Gefahr. Der Klimawandel verkürzt die Jahreszeit, in der das Eis auf den Fjorden und dem Meer die Schlitten trägt. Motorschlitten sind bequemer. Und die jungen Leute haben kein Interesse, das Leben der Eltern fortzuführen und wandern aus den Jäger- und Fängersiedlungen in die Städte ab. Innerhalb der letzten dreißig Jahre ging der Bestand der Grönlandhunde um zwei Drittel zurück, von 32.000 Exemplaren auf derzeit nur noch rund 10.000.

Deshalb hat Biologe Meldgaard bei gemeinnützigen Stiftungen umgerechnet 1,3 Millionen Euro eingesammelt und das Projekt „Qimmeq“ (grönländisch für „Hund“) ins Leben gerufen: „Wir wollen einerseits den Grönlandhund erforschen, andererseits Wege finden, wie er in der modernen Gesellschaft bewahrt werden kann.“

Das spektakulärste Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit schaffte es in diesem Juni auf den Titel der Zeitschrift „Science“: Genetische Untersuchungen zeigten, dass der arktische Schlittenhund schon vor mindestens 9500 Jahre auf Laufvermögen und Kälte-Resilienz gezüchtet wurde. Außerdem stellten die Forscher fest, dass der Grönlandhund sich offenbar anders als die Malamuts in Alaska oder die Huskys in Sibirien kaum mit anderen Rassen vermischt hat.

Sein langer Stammbaum sichert dem Hund aber keine Zukunft. Neue Perspektiven soll ihm jetzt der Tourismus bringen, so eine der Empfehlungen des Qimmeq-Projektes an die grönländische Politik und Wirtschaft. „Wir haben die Idee eines Hunde-Zentrums mitentwickelt“, sagt Meldgaard. Ähnlich einem Pferdehof in Europa soll es dort rund hundert Tiere geben, die für Schlittenfahrten gebucht werden können. Vor allem aber setzt das Projekt darauf, bei der jungen Generation Stolz auf das Erbe zu wecken. Ein Lehrbuch über den Hund ist gerade zweisprachig in Grönländisch und Dänisch erschienen und wird in Klassensätzen an allen Primarschulen in Grönland verteilt.

An der Schule in Sisimiut, mit 5500 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Grönlands, unterrichtet Navarana Lennert, 33, in Physik und Sprachen. Am Wochenende spannt sie die Hunde an, packt die fünfjährige Tochter und den einjährigen Sohn auf dem Schlitten in die Felle selbst geschossener Rentiere und braust los. „Mein Vater war Steuermann auf einem Frachter und monatelang weg“, erzählt sie. „Aber im Urlaub holte er mich mit dem Hundeschlitten immer vom Kindergarten ab und wir fuhren zur Stadt hinaus.“ Sie wolle, dass ihre Kinder ähnlich aufwachsen: „Wir steuern gerne unsere Hütte an, 15 km von der Stadt entfernt.“ Sie kam erst vor einem Jahr vom Studium in der Hauptstadt Nuuk zurück, deshalb habe sie nur sechs Hunde. „Aber ich will mit meinem Mann auf jeden Fall zehn bis 14, dann können wir auch nach Kangerlussuaq aufbrechen“ – eine Siedlung am Ende des gleichnamigen Fjords, 160 km entfernt, eine Viertagestour. Das Futter für die Hunde – Dorsch, Goldbarsch, Lodde – fischt die Familie selbst. Manchmal fährt Lennert mit ihrem Mann auch auf die Jagd nach Schneehasen und Schneehühnern. „Alle Sorgen fallen ab, wenn wir mit dem Schlitten unterwegs sind“, erzählt Lennert. „Man riecht den Schnee und den Wind, ich bin ganz im Jetzt.“ Lennert verkörpert damit einen neuen Typus der Hundeschlittenführer. Man fährt zum Vergnügen und die Peitsche bleibt stecken: „Wir steuern die Hunde nur mit Worten.“

Edvard Samuelsen, der einst sein ganzes Gespann im brechenden Eis versinken sah, ist sein ganzes Leben lang Jäger und Fänger geblieben. Heute hat er dreißig Hunde. Die besonders ausdauernden benutzt er zur Jagd, die schnellsten für Wettkämpfe. Einmal im Jahr kommen die besten Gespanne zu den nationalen Meisterschaften zusammen. Samuelsen ist der erfolgreichste Hundeschlittenführer Grönlands, fünf Mal hat er bislang gewonnen. „Auf dem Schlitten werden meine Gedanken klar und fokussiert“, sagt er. „Die Wettkämpfe geben mir Stolz und Selbstbewusstsein.“ Auf Facebook hat er ein Siegerfoto gepostet. Konkurrenten heben Samuelsen mitsamt dem Schlitten auf ihre Schultern, er schwenkt die Landesflagge mit dem roten und dem weißen Halbkreis. Rot wie die tiefstehende Sonne, weiß wie das Eis, über das die Hunde jagen.