Zeitenspiegel Reportagen

Avatare, made im Ländle

Erschienen in "Frankfurter Rundschau", 11./12. Juni 2022

Von Fotograf Christoph Püschner und Autor Jan Rübel

In Tübingen entwickelt ein Team aus aller Welt digitale Doppelgänger des Menschen - mit aussichtsreichen Chancen, von der Medizin bis zur Mode. Ein Lehrstück über Know-how als Kitt, der ganze Kontinente zusammenhält.

In einem Hinterhofbüro im Tübinger Stadtteil Lustnau, auf das kein Klingelschild hinweist, wird Science Fiction Wirklichkeit. „Das Zeitalter der Avatare ist nah“ kündigt die Zeile auf einem Monitor an, einem von drei. Sie blinkt grell. Kein Stift und kein Stück Papier findet man in dem Raum, 30 Quadratmeter unter zwei Holzbalken, graugrüner Teppich, metallisches Surren in der Luft. Eine Frau und ein Mann haben gerade ihre Computer hochgefahren, ein Klick, und auf dem Bildschirm hüpfen nun zwei Figuren entgegen, die das Kerngeschäft dieser Firma prägen: „Unsere digitalen Doppelgänger“, erklärt die Frau. „Sie gleichen uns in Einigem“, ergänzt der Mann: „Unsere Gestik, Mimik und Körperbewegung haben wir auf sie übertragen.“

Naureen Mahmood und Talha Zaman bringen Computern bei, was Menschen sind. Eine neue Technologie haben sie mitentwickelt, eine digitale Revolution, die dem Menschen einen Avatar von sich baut und ihn in die virtuelle Welt trägt – mit unzähligen Chancen für Medizin und Gesundheitsförderung, für Entertainment und Onlineshopping.

Es ist 9:30 Uhr, die beiden eilen ins erste Meeting, zum Morgenkaffee mit ihren Kolleginnen und Kollegen. „Was gibt’s Neues?“, fragt Mahmood in die Runde. Becher werden gezeigt, auch Haustiere – in die Kameras der Onlinesitzung. Mahmood, 38, Mitgründerin und Geschäftsführerin von Meshcapade, und ihr Mann Zaman, 37, Mitgründer und Finanzchef, versammeln ihre Mitarbeiter meist online. Diese sitzen in Berlin und Leipzig, in der Schweiz und in den USA. 15 Leute, in der kommenden Woche wird eine neue Kollegin das unscheinbare Hauptquartier in Tübingen verstärken; in den kommenden drei Jahren plant das Unternehmen ein Wachstum auf 100 Angestellte.

2018 hat sich Meshcapade gegründet, aus dem Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme heraus. Die Räume hier hat das Team im vorigen September bezogen. Noch steht die Mikrowelle provisorisch auf einem Pappkarton, doch schon der erste Rechner zeigt Gebrauchsspuren: „Irgendwie ist das Motherboard explodiert“, lächelt Zaman leise. Die morgendliche Kaffeerunde ist längst bei Arbeitsthemen angekommen. „Funktionieren die Handbewegungen schon?“, fragt Mahmood. „Schickt mir ruhig die Daten rüber, dann schreibe ich daraus ein Script.“ Zur Firma Meshcapade führt eine kleine Gasse durch einen Vorgarten, entlang von Sandkasten und Hüpfburg. Nichts deutet darauf hin, dass hier an einem kybernetischen Quantensprung gebastelt wird: der Massenentwicklung von Avataren. „Wir demokratisieren den Zugang zu digitalen Doppelgängern“, flüstert Zaman abseits des Meetings. Perfekte Avatare existieren bereits – in der Filmwelt des Marvel-Universums zum Beispiel, doch die Entwicklung eines solchen Doppelgängers etwa für den Hulk-Darsteller kostet Monate und Millionen von Dollars. Meshcapade verkürzt dieses Verfahren ungemein – und verwirklicht damit ein typisches Stück Made in Germany im 21. Jahrhundert, ein Produkt globaler Bildungsarbeit, getragen von digitalen Nomaden, die sich hier zusammentun, um die deutsche Softwareindustrie zu bereichern; ein Stück weit handelt es sich um Entwicklungshilfe für Deutschland, welche die Pakistaner Mahmood und Zaman leisten. Beide lernten sich in Lahore an der University of Management Sciences kennen – im Gegensatz zum 10.000-Einwohner-Stadtteil Lustnau eine Elf-Millionen-Metropole. Wo sich in „Luschtna“, wie die Schwaben sagen, 704 Einwohner einen Quadratkilometer teilen, sind es in Lahore 6279. „Wir sind eine so genannte ‚Remote Company‘“, sagt Mahmood und zieht kurz ihren Hidschab, ihr Kopftuch, zurecht. „Wir suchen weltweit die besten Talente in Sachen Computer Vision unabhängig von den Orten, an denen sie leben.“ Und dennoch sei ihre Firma typisch deutsch, schwäbisch. Da seien die Fahrradausflüge entlang des Neckars, der Genuss der Spätzle „und der starke Datenschutz, der uns hier mehr Unabhängigkeit als etwa in den USA beschert“, sagt Zaman. „Dort ist bei Fragen Künstlicher Intelligenz auch schnell die Frage militärischen Einflusses bei der Forschung auf der Agenda. Das können wir hier ausschließen.“

Mahmood ist 2013 nach Tübingen gekommen. Sie faszinierte Computer Vision, also computerbasiertes Sehen – eine Grenzwissenschaft zwischen Informatik und Ingenieurwissenschaften. Die Tochter eines Architekturprofessors und einer Schullehrerin war nach den Studien in Lahore nach Austin, Texas, gezogen, wo sie für ihren Master in Informatik mit Sensoren arbeitete. „Das reichte mir nicht“, erinnert sie sich. „Was sind Menschen für Computer? Zuerst mal ein Bild – und ein Bild sind für Computer wiederum Zahlen.“ Zurück in Lahore, wollte sie in Computer Vision weiter forschen, sah aber, dass das Feld für diese neuen Gefilde noch nicht bereitet war. Sie durchforstete das Netz, stieß auf das Institut in Tübingen, schrieb eine Mail ans Sekretariat, „ich erwartete nicht, dass sie sofort antworteten“, aber wenig später saß sie im Flieger nach Deutschland. Das Max-Planck-Institut unter der Führung des Amerikaners Michael Black hatte erkannt, dass Mahmood Fertigkeiten mitbrachte, die man brauchte: „Es fehlte jemand, der nicht nur forscht, sondern wissenschaftliche Erkenntnisse auch in die neue Sprache von Software übersetzen kann, sie expandieren lassen kann.“ Das Zauberwort für Mahmood heißt Scaling. Sie macht die Früchte von Forschung größer.

Meshcapade modelliert dreidimensionierte Abbilder des Menschen. Die Kerntechnologie hierfür heißt SMPL. „Skinned Multi-Person Linear Model“ lässt einen Menschen realistisch erscheinen und hinterlegt ihn in einem Format, das sich in verschiedene Anwendungen einbinden lässt. Mit tausenden hochauflösenden 3D-Scans von Menschen hat das Team ihre Computer gefüttert. Das Ziel: Sie sollen erkennen, wie Menschen aussehen. „Dieser Lernprozess ist noch nicht abgeschlossen, der Mensch ist ja ein hoch individuelles und komplexes Wesen“, sagt Zaman.

Es ist 10:00 Uhr die nächste Konferenz beginnt. Mahmood bleibt am Pult stehen und klickt sich alle drei Sekunden durch neue Tabellen, Mails und und Websites, während sie mit dem Verkaufsteam neue Details bespricht. „Hast du direkt mit dem CEO gesprochen?“, fragt Mahmood. Ihre weißen Ballerinas tippen auf dem graugrünen Teppich auf und ab. Die Kollegin auf dem Bildschirm nickt mit dem Kopf. „Okay, wir müssen ihnen klarmachen“, sagt Mahmood, „wir machen nicht ihre Kleidergrößen, sondern bilden die Kaufgrößen der Kunden ab.“ Von Beginn an hat Meshcapade Geld verdient, das unterscheidet die Firma von anderen Startups. Bereits am Max-Planck-Institut kamen erste Anfragen aus der Kleidungsindustrie. Onlineeinkäufe explodieren, doch Ärger bereitet immer noch, wenn die bestellten Größen doch nicht passen und zurückgeschickt werden müssen. „Wir reduzieren diese Risiken“, erklärt Zaman, er schaut Mahmood kurz über die Schulter. „Käufer geben so viele Körpermaße von sich auf unserer Plattform ein, wie sie wollen – und mit dem daraus kreierten Avatar lässt sich besser einkaufen gehen. Er probiert für mich die Sachen an, und ich kann ihn sogar damit herumlaufen lassen und ihm dabei zuschauen.“ Auch die Spieleindustrie meldete sich. Gamer können ihre Avatare in Spiele einbauen, mit ihrer Gestik, Mimik und Körperbewegung. Dabei geht es Meshcapade nicht um Avatare, die möglichst genau so aussehen wie ihr Original in Fleisch und Blut, es geht nicht um Kopien – sondern sie sollen dem Menschen funktional realistisch entsprechen. Denn Mahmood und Zaman schwebt nicht nur vor, dass ihre Avatare einem demokratischen Grundrecht gleich die künftigen „Metaversen“ bevölkern, die digitalen Räume der Menschheit, von denen etwa Facebook-Gründer Mark Zuckerberg heftig träumt. Sie planen auch einen Einsatz für Medizin und Gesundheit: Eine Klinik erprobt anhand von Kleinkind-Avataren die Bewegungsmuster von Babys, um so neurologische und motorische Auffälligkeiten zu erkennen; eine Grundlage zur Entscheidung, ob Spezialisten zur Untersuchung hinzugezogen werden sollen. „Neuroexperten gibt es nicht in jedem Krankenhaus“, erklärt Mahmood. „Aber in jedem kann unsere Software für einen ersten Check laufen.“ Fitnessapps können ebenfalls auf Avatare setzen: So begutachtet kein Personal Trainer, ob die vorgegebene Sportübung richtig exerziert wird, sondern das Smartphone über den Abgleich mit dem Avatar. Ein anderer Kunde, eine Klinik, wendet Avatare bei der Arbeit mit an Magersucht Erkrankten an – der digitale Doppelgänger veranschaulicht ihnen Gewicht und Körperbau.

Mit Hilfe von Zahlen an einer besseren Welt bauen, das hat die beiden seit langem beschäftigt. „Literatur faszinierte mich in meiner Kindheit nicht sehr, aber die Programmiersprachen packten mich sofort“, sagt Mahmood, als sie sich mit Zaman zu einer kurzen Pause in den anschließenden Besprechungsraum zurückzieht. Beide sind in mehreren Welten aufgewachsen. Mahmood verbrachte ein paar Schuljahre in Saudi-Arabien, als ihr Vater dort arbeitete. Zaman wuchs in Manhattan auf, die Mutter Kinderärztin und der Vater Dozent für Wirtschaftswissenschaften. Später zogen sie mit ihm in die Türkei, dann nach Pakistan. „Alle fünf bis sechs Jahre wechselte ich den Wohnort“, sagt er. „Ich mochte das, es erweiterte meinen Horizont.“ Dankbar sei er dafür. Würden alle Menschen solche Perspektivwechsel erfahren, „die Welt wäre eine bessere, friedlichere“. Beide entstammen keinen reichen Familien, aber der Bildungselite Pakistans, Mahmoud besuchte eine Privatschule, wo sie den Wert von Bildung erlernte, die Fähigkeiten zum Lösen von naturwissenschaftlichen Aufgaben. „Später, an der Uni, erfuhr ich von Kommilitonen aus staatlichen Schulen, dass sie dort mehr die Lösungen lernten als den Weg dorthin.“ In ihrer Heimatprovinz Punjab herrscht Schulpflicht, in anderen Regionen jedoch nicht. Ein Zensus aus dem Jahr 2016 ergab, dass 30 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen nicht lesen und schreiben können. Der Staat sah lange Zeit, gerade wegen seines Strebens nach Souveränität im internationalen Umfeld, eine Priorität in der Stärkung seines Militärapparats. 2017 flossen 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung in den Verteidigungshaushalt und 2,4 Prozent in die Bildung. Doch seit Jahren herrscht ein Umdenken. Gezielte Investitionen haben den IT-Sektor in Pakistan stark wachsen lassen. Es gab Steuerbefreiungen und Förderprogramme; 2001 erzielten IT-Unternehmen noch 30 Millionen Dollar an Umsätzen, heute sind es drei Milliarden Dollar. Telekommunikation sowie der Finanz- und IT-Bereich verzeichnen seit Jahren die höchsten Zuwachsraten. Dieses Wissen ermächtigt tausende junger Pakistaner zur beruflichen Neuorientierung. Als ihre eigenen Unternehmer verdienen sie, was etwa in der Landwirtschaft nicht zu realisieren wäre. Das US-Finanzdienstleistungsunternehmen Pioneer zählt in seinem Global Gig Economy Index Pakistan zu den zehn Ländern weltweit mit den stärksten Einkommenszuwächsen bei Freiberuflern – zusammen mit den USA, Großbritannien, Brasilien, Indien, Bangladesch, Russland, Ukraine und Serbien. „Die Studienplätze und die Forschungen bei Informatik steigen in Pakistan stark an“, sagt Zaman.

Er selbst kam nach Tübingen, weil der Standort Deutschland ähnliche Probleme kennt wie Pakistan: die Verzahnung von Erkenntnissen aus der Informatik mit der Industrie. Zaman kennt beides. Auch er zog nach seinem Studium in Lahore zum Master in die USA, arbeitete danach rund ein Jahr bei Google als Software-Ingenieur in Boston. „Ich lernte viel, gerade über die vielen Außenposten des Silicon Valley innerhalb der USA.“ Doch er habe mehr bewirken wollen, bei Google habe er sich als kleines Teil in einem riesigen Zahnradwerk gefühlt. Es folgten ein paar Jahre bei einem Startup, das Krankenhaussoftware erfolgreich an den Markt brachte – und dann der Ruf Mahmoods, die bereits nach Tübingen gezogen war und ausgemacht hatte, dass man jemanden mit praktischer Softwareerfahrung zur unternehmerischen Anwendung brauchte. „Uns gefiel es in Deutschland auf Anhieb“, sagt Mahmood. „Im Silicon Valley jagt ein Hype den nächsten, es herrscht ein nervöser Verdrängungswettbewerb.“ In Tübingen dagegen lasse man sie entwickeln. „Wir haben eine Idee, und an der können wir in Ruhe und in vertrauensvoller Umgebung arbeiten.“ Dieses Setting gibt es im Südwesten auch, weil man es bitter braucht.

Noch immer stammen 90 der hundert erfolgreichsten Softwareunternehmen aus den USA. Firmen in Europa importieren nach wie vor Leistungen zum Betrieb der eigenen Infrastruktur von ihnen. Und in der Informations- und Kommunikationstechnik verzeichnen asiatische Länder ein Wachstum, welches das in Europa überflügelt. 2013 machte sich Kanzlerin Angela Merkel zum Gespött im Netz, als sie resümierte: „Das Internet ist für uns alle Neuland.“ Damals war es schon etliche Jahre alt. 2019 schließlich sagte Merkel mit Blick auf die Digitalisierung hierzulande und die Vorsprünge anderer Länder: „Europa muss das alles auch können.“ Denn dies kann strategische Risiken für Wohlstand und Unabhängigkeit bedeuten. Der Fraunhofer-Verbund IUK-Technologie kommt zum Schluss, dass Softwareunternehmen in Deutschland mittlerweile eine strukturelle volkswirtschaftliche Bedeutung erreicht hätten. Bloß: „Der Umfang softwaretechnischer Innovation in Deutschland entspricht aber nicht der volkswirtschaftlichen Bedeutung von softwarebasierter Wertschöpfung für Deutschland.“ Das heißt: Es muss mehr entwickelt und vorangetrieben werden. Nur besteht die Softwarelandschaft in Deutschland aus vielen kleinen Unternehmen, denen es im Vergleich zu Firmen in den USA ungemein schwerer fällt, Investitionskapital einzusammeln. Sie müssen einen längeren Atem zeigen. Dabei ist die Richtung vorgegeben: Prognosen zufolge wird die Anzahl der Arbeitsplätze im Softwaresektor bis zum Jahr 2030 auf 1,016 Millionen steigen und einen Anteil an den Gesamtarbeitsplätzen von 2,72 Prozent in Deutschland haben. 2007 waren es noch 453.000 weniger, mit einem Anteil von 1,42 Prozent. Damit wird die Softwarebranche den Maschinenbau überflügeln, der in seiner Entwicklung stagniert. Dabei sehen Mahmood und Zaman in Tübingen, also unweit der Autostadt Stuttgart, für ihre Avatare auch eine Einsatzmöglichkeit beim Autokauf: „Online kann man bei der Suche nach einem Wagen seinem Avatar zusehen, wie er in ein Modell steigt“, lächelt Zaman. Doch letztendlich liegt Deutschland zurück. Während ein Softwareindustriewachstum von stattlichen 4,13 Prozent erzielt wird, also überm durchschnittlichen Plus des Bruttoinlandprodukts, sind es weltweit 5,2 Prozent. In China zum Beispiel sind es 13,07 Prozent. Auch innerhalb Europas zeigen sich Unterschiede: Während in Großbritannien 2018 rund 22,7 Milliarden Dollar in Neugründungen flossen, waren es für ganz Westeuropa (Deutschland, Frankreich, Schweiz, Niederlande, Belgien, Österreich und Luxemburg) zusammen mit 29,8 Milliarden Dollar nicht viel mehr.

Mahmood und Zaman erschloss sich in Tübingen ein kreatives Arbeitsumfeld. Beide brachten gemeinsam mit Michael Black vom Max-Planck-Institut das Startkapital auf und legten los. Ihr Team besteht aus Experten aus Italien, Ägypten, Niederlande, Neuseeland, USA, Russland, Türkei, Indien – und Pakistan. „Uns eint die Neugierde auf Bildung und deren Weitergabe“, sagt Mahmood. Sich zu finden, war kein kurzer Prozess. „Wir bemühten Rekrutierungsagenturen im Netz, einschlägige Websites.“ Was neu und revolutionär klingt, eben Grenzen überschreitend, gab es indes schon immer.

Bereits zu frühhistorischer Zeit existierten Kontakte und reger Austausch zwischen dem Vorderen Orient, Zentralasien, Europa und Indien. Bildung wanderte. Unsere „arabischen“ Ziffern sind indischen Ursprungs. Auch die Null als eigene Zahl kommt über arabische Brückenbauer von dort, ebenso unser Wort für „Brille“ (Mittelindisch: beruliya) oder Zucker (Sakkara); das Schachspiel hat seinen Ursprung in der Region (Chaturanga). Es wurde auch früh Gemeinsames gelesen. Der Roman „Barlaam und Jospahat“ handelt von einem indischen König, hat mehrere Quellen, wurde wohl erstmals auf Mittelpersisch verfasst und erfuhr zahlreiche Übersetzungen, im Jahr 1220 auch ins Deutsche. Oder das Fabelbuch Panchatantra, eine Unterweisung zu klugem politischem Handeln: Um 300 nach Christus im Altindischen entstanden, wurde das Werk in den folgenden Jahrhunderten in 50 Sprachen übersetzt, 1480 auch ins Deutsche. Wissenschaftler folgten damals dem Ruf der attraktivsten Bildungsstätten, bildeten sich reisend fort. Gelehrte aus dem heutigen Pakistan etwa zogen vor 1000 Jahren nach Bagdad. Im dortigen „Haus der Weisheit“ unterrichteten Universalgelehrte wie al-Chwarizmi, dessen Name zu Algorisimi latinisiert wurde – Namensgeber der heutigen Algorithmen; ursprünglich stammte er aus Zentralasien südlich des Aralsees. Das „Haus der Weisheit“ steht heute vielleicht in Harvard, in 20 Jahren möglicherweise in Peking; aber auch Lustnau in Tübingen, Baden-Württemberg, hat seinen Anteil.

Meshcapade ist nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Im Südwesten ist in den vergangenen Jahren eine Art Cyber Valley entstanden. Wenn Mahmood und Zaman aus ihren Fenstern schauen, blicken sie auf waldige Hügelketten. Diese wiederum beheimaten rund um das beschauliche Universitätsstädtchen Max-Planck-Institute, Unibauten und Industriestandorte wie von Amazon. Hochhäuser und Glastürme setzen glitzernde Ausrufezeichen ins Grün. Sie alle eint die innige Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz (KI) als Technologie der Zukunft. Deutsche Literatur, Friedrich Hölderlin und Walter Jens, all dies sind noch immer Meilensteine Tübinger Wissenschaft. Aber jene zu Bits und Bytes gesellen sich hinzu.

2016 hatte ein Zusammenschluss aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft das Cyber Valley ins Leben gerufen – mittlerweile die größte Forschungskooperation in Europa auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz. Unis, Forschungsinstitute, Unternehmen und Stiftungen wollen mit dem Verbund die Forschung zu Maschinellem Lernen, Computer Vision und Robotik stärken, Ausbildungen anschieben und den Austausch zwischen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen intensivieren. Denn KI ist nicht nur bloße Zukunftstechnologie. „Methoden der KI werden weltweit mit Nachdruck entwickelt, und wie bei allen Technologien gibt es positive und mögliche negative Nutzungen“, heißt es auf der Website des Cyber Valley. „Wir halten es für wichtig, dass diese Methoden in Europa erforscht werden, eingebettet in offene Gesellschaften und unter Einbeziehung einer kritischen und sachlichen öffentlichen Diskussion.“

Im Büro von Meshcapade sinnieren Mahmood und Zaman vor einem Whiteboard. „Wer ist unser gelegentlicher mobiler User“, fragt die Überschrift auf der Schreibtafel. Und darunter: „Flora, die Floristin, 32, Amerikanerin, Onlineshopper.“ Zaman beugt sich vor. „Sie will online bessere Passformen“, denkt er laut. „Und wir können dieses Problem lösen“, lächelt Mahmood. Sie nimmt einen Schluck aus einer Limonadenflasche, eine Ökoproduktion aus der Region. Wo sie in zehn Jahren leben werden? Beide lachen. „Wir fühlen uns hier sehr wohl. Und wir bauen gerade eine deutsche Firma auf. Also stellt sich gerade die Frage nicht wirklich.“ Besonders wichtig sei ihr, sagt Mahmood, die Förderung von Frauen. „Informatik ist ein harter Acker für Frauen“, sagt sie, „weil wir schlicht besser als Männer sein müssen, um in dieser von ihnen dominierten Branche zu bestehen.“ Oft habe sie sich in ihrem Studium allein gefühlt, „musste mich durchbeißen.“ Einige ihrer Freundinnen hätten an der Uni gemeint, Informatik sich nicht zuzutrauen, „sie studierten dann BWL oder Buchhaltung“; dabei hätten sie das Zeug für Computerwissenschaft allemal gehabt.

Etwas mit Nachhaltigkeit entsteht gerade, ein spannender Bildungsaustausch, ein Transfer zwischen den Kontinenten mit Lustnau als Epizentrum für die Avatare von Meshcapade. All dies macht auch etwas mit dem Ort selbst. In Steinwurfnähe zum Büro ist ein neues Stadtquartier entstanden – auf den Trümmern der Industriebrache einer Weberei, die mit dem Niedergang der deutschen Textilindustrie in den vorigen Neunzigern schloss. Townhouses wurzeln hier nun, ihre Fenster reichen bis zum Boden, über den Klingelschildern lugen Kameras. 1500 Angestellte hatte die Weberei mal. Heute preisen ein Hundesalon und eine Secondhand-Boutique ihre Dienste, der einzige Lebensmittelladen ist edel und bio. Ein Wohnareal ist entstanden, dem das Sozialleben langsamer folgt; die Straßen bleiben leer. Ein Sinnbild: Die Technologie wie Künstliche Intelligenz schreitet voran, und der Mensch hechelt hinterher. „Hast du die Daten für die Handbewegungen bekommen?“, fragt Zaman. Mahmoods Finger huschen über die Tastatur, ein Avatar auf dem Monitor winkt ihr zu. Sie lächelt. Draußen kürzt ein Mähroboter das Gras im Vorgarten auf Wimbledonniveau. Der nächste Teamcall zur Vorbereitung des Zeitalters der Avatare wartet schon. Mahmood sagt: „Passt.“