Zeitenspiegel Reportagen

Beim vergessenen Geburtstag

Erschienen in "Berliner Zeitung", 12.05.2021

Von Autor Jan Rübel

Der Kurfürstendamm wurde 135 Jahre alt. War was? Ein Geburtstagsspaziergang auf dem Boulevard der Pandemie.

Dass ich mir allein und verloren vorkam, verdankte ich nur Hildegard Knef. Alles, was gut war, das kommt mal zurück, hatte sie in ihrem Song „Heimweh nach dem Kurfürstendamm“ gesungen, den ich in den vergangenen Monaten der Pandemie immer wieder gehört hatte. Doch als ich mich nun endlich aufgerafft hatte, mit der Bahn gen Halensee gefahren war und dann auf dem Rathenauplatz um neun in der Früh stand, spürte ich von irgendeinem Guten zu Beginn des Kudamms nichts. In der Mitte umringten scharfkantige Marmorbruchstücke die Skulptur der beiden einbetonierten Cadillacs wie eine feindliche Festung, und ihr Grau spiegelte sich im Zwölfstöcker gleicher Farbe gegenüber. Seine kleinen Schießschartenfenster hinter Bollwerkbalkonen funkelten böse und schwarz.

Als der Boulevard am vergangenen Mittwoch seinen 135. Geburtstag beging, hatte ich es als gutes Omen genommen, dass Deutschlands Inzidenzwert just an diesem Tag von 141,4 auf 132,8 gefallen war. Würde man auf dem Kurfürstendamm endlich einen Aufbruch wagen? Den Mehltau eingeschlafenen öffentlichen Lebens abschütteln und diesen Tag irgendwie festlich begehen, als eine Prélude des herbeigesehnten Sommers? Wer, wenn nicht er, dachte ich. Schließlich bezeichnete ihn das offizielle Hauptstadtportal als „nicht nur die meistbesuchte, sondern auch die meistdiskutierte Straße Deutschlands“. Da musste dann doch schon was los sein, am Ende der dritten Welle.

Und als auserlesen sah man sich auf dem Kudamm immerhin stets. Selbst eine Fahrschule am Rathenauplatz, dem Anfangspunkt meiner Wanderung entlang der dreieinhalb Kilometer langen Straße, nannte sich „Exklusiv“. Und an einem leergeräumten „TechnoGym“ hing ein Schild mit „Nicht zu vermieten!“, gezeichnet von der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Von Natur und Kampf gegen globale Erwärmung war weniger zu bemerken, von Verkehr dagegen umso mehr: Den Platz umkurvten Wagen auf mehreren Spuren, als flöhen sie. Unten rauschte die Stadtautobahn, und in den Bäumen hingen leere Rewe-Tüten. Ansonsten keine Menschenseele. Immerhin wuchsen vor dem Gym Löwenzahn und Ampfer aus dem Stein. In diese laute Stille hinein lief ich los, in der Hoffnung, ein wenig früherer Normalität zu finden, einen Schimmer von Berliner Tempo, Betrieb und Tamtam, wie es in Knefs Lied hieß.

Für Mai war es kalt. Die Sonne zeigte sich kaum. Das erste alte und mondäne Haus von vielen, für die man den Kurfürstendamm großbürgerlich nennt, kündigte linkerseits in hellem Olivgrün an, was den späteren Verlauf des Boulevards kennzeichnen würde: Schönheitsärzte und Wirtschaftsjuristen; im Erdgeschoss residierte ein Privates Zentrum für plastische Chirurgie und auf den Klingelschildern standen viele Anwälte. „Fett Absaugen“, „Facelifting“, „Permanent Make Up“ stand an der Scheibe und las sich wie ein Aufruf an die Straße, sich mehr herauszuputzen, wenn Corona ihr nicht weiterhin die Show stehlen sollte. Das dachte sich ein Kfz-Pfandleihhaus zwei Steinwürfe weiter auch und präsentierte einen garantiert gelifteten Porsche mit Baujahr 1996 für 189.000 Euro. Den Platanen gelang dies weniger: Noch hatten sie sich kaum neue Borken zugelegt. Die wenigen Passanten schritten langsam, schauten sich gegenseitig ins Gesicht, für einen Moment. „Wer wird überleben? Die Zukunft von Natur und Mensch“ lag als Titel im Fenster eines Buchladens, daneben „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“. Wahr war jedenfalls das über einen Meter lange Modellbau-Kriegsmarinenschiff mit aufgemalten Hakenkreuzen ein paar Schritte davor in einem Trödelladen. Andere Kreuze, zehn christliche in Weiß, standen in einer der Glasvitrinen auf dem Trottoir und erzählten eine Geschichte, die ich nicht verstand; vielleicht handelte sie vom Nazikahn. Klarer drückte sich eine andere Vitrine der „Christlichen Wissenschaft“ aus, ein Plakat darin warb für die „aktive und heilende Macht von Gebet“, daneben ein Korb mit Äpfeln. Sie faulten braun vor sich hin.

Erbaulich schien das alles nicht, und ich sehnte mich nach einer Erfrischung. Vor einem Gasthaus trugen Männer wiederum Vitrinen aus einem Van nach drinnen. „Wir versuchen es mit dem Verkauf von Pfannkuchen auf Märkten“, sagte einer von ihnen, „die Dezemberhilfen sind ja immer noch nicht da“. Oben, aus dem ersten Stock einer Seniorenresidenz, drang ein langer Klagelaut. „Weiß nicht, wie wir noch durchhalten. Ohne Außengastro nicht mehr lang.“ Früher, vor Corona, luden auf dem Kudamm Restaurants und Bars aneinandergereiht zum Verweilen ein. Am 5. Mai 1886 mit der Eröffnung der Dampfstraßenbahn zwischen Zoologischem Garten und Halensee offiziell geboren, hatte sich der Kurfürstendamm rasch von einer ruhigen Wohnmeile, die 1913 genau 120 Millionäre beherbergte, zu einem Amüsierkiez in den Zwanzigern entwickelt. Dass die Straße davor ursprünglich ein Damm aus Knüppeln gewesen war, ein Reitweg für den Kurfürsten von seinem Stadtschloss zum Jagdschloss Grunewald, bezeugte nur noch der auf der Steinmeile seltene Erdboden, der dann leicht wippte und daran erinnerte, dass Berlin einst ein Sumpf gewesen war. In den vorigen Fünfzigern stolzierte der Kudamm als Schaufenster des Westens, in den Sechzigern demonstrierten auf ihm die Studenten, in Achtzigern wurde es um ihn stiller und in den Neunzigern noch mehr. Irgendwann, nachdem ein wenig zusammengewachsen war, was zusammengehört, besann man sich auf den Kudamm; der mauserte sich langsam zu einer Einkaufsmeile. In diesen Tagen bot er mit seiner Breite von 53 Metern reichlich Platz fürs Flanieren, was die Ansteckung mit Viren durch die sich ergebenden Abstände zum Glück erschwerte.

Um es vorwegzunehmen: Keinem einzigen Gespräch lauschte ich, welches nicht von Corona handelte. „Das RKI sagt drei Wochen, der Bund sagt sechs Wochen“, sprach ein Mann unter blauer Melone ins Handy. „Dieser Abholpraxismist“, meinte ein anderer vor einem Kofferladen zur Verkäuferin an der Schwelle. „Wir verblöden alle, denken Sie an Trump und in den Schritt fassen und so“; da wähnte ich mich wie in einer Zeitschleife weit, weit vor der Pandemie und dennoch in ihr drin. Vor der Schaubühne, sie verlautbarte in großen schwarzen Lettern „Das Rätsel bleibt ungelöst“, berichtete eine junge Mutter ihrem Freund, „ich sagte ihr, sie soll mit dem Rauchen aufhören, jetzt, bei dem Brustkrebs“. Als die nun mit Pfizer geimpft worden sei, sei sie zwei Tage krank gewesen, „das war gut, da dachte sie nicht ans Rauchen und nicht an den Krebs“. Dann sprach mich jemand an. „Kleingeld gegen Literatur?“ Ich zückte einen Euro. „‘War erfreut über dieses Briefchen, was ihn wieder in die Alltäglichkeit des Lebens zurücktrieb.‘“ Ich fragte den hageren Mann mit Dreitagebart, von wem das sei. „Walt Whitman“. Und der Titel? „Kleingeld?“ Ich fand ein 50-Cent-Stück. „Irgendwas mit Gras.“

An einigen Stellen betrieb der Kudamm tatsächlich Facelifting, da wurde an den Fassaden gehämmert. Bei einer folgte ich fünf Anzugträgern durch ein schweres Portal in die Baustelle hinein. „Store beyond Shopping“, hatte draußen ein Plakat angekündigt, und drinnen erklärte mir eine junge Frau in langem Kleid, wie die Zukunft des Kudamms aussehen würde. „Die Geschäfte machen in der Regel D to C, haben aber keinen Image-Transfer“, sagte sie. „Das ist alles verzweifeltes Brick & Mortar gegen Digital.“ Sie musste es nochmal erklären. In jenem neuen Konzept, das an dieser Stelle entstehe, würde Handel nicht direkten (D) Kontakt zum Kunden (C) finden, sondern in einer Art begehbarem Magazin mit einem „Storytelling“ seine Produkte preisen. Wo dann gekauft werde, sei egal. Hauptsache, das Geld wird gezückt. Früher hatte der Ort ein Kino beherbergt. Doch diese Zeiten waren schon vor Corona vorbeigewesen. Das zeigte auch die frühere Filmbühne Wien, vor deren Tempelfront aus Pilastern Absperrbänder wehten und drei stämmige Securities wachten. Ich wähnte dort einen Club oder die Botschaft eines reichen Regimes, betrieben doch selbst die Luxusgeschäfte von Cartier, Chanel und Chopard ein paar Schritte davor weniger Aufwand zur Straße hin. Doch wurde eine andere Flagge gehisst. Der „Flagship Store“ eines Computerherstellers vergab bei Geräteproblemen „Genius Bar Termine“. Nun wusste ich, wer den Boulevard regiert.

Vor dieser inoffiziellen Regierungszentrale des Kurfürstendamms lief man anders. Die Leute waren schneller unterwegs als noch unten in Halensee, sie schauten sich auch nicht an. Die Nase weiter oben, mit einem Blick voller Beschäftigtsein, strebten sie ihren Zielen entgegen, verschwanden bei Louis Vuitton, Armani oder eben Apple, was ziemlich das Gleiche zu sein schien.

Vielleicht lag es auch am Wind, der stärker blies. Er pfiff zwischen den neuen Hochhäusern und auf den Frühling. Der Geburtstag des Kudamms war in grauen Herbst gefallen. Ein Mann bückte sich beim Gang, „deshalb sage ich ja: Ruf bei deinem Arzt an und erklär die Situation. Dann kommst du vielleicht in 3“, rief er besorgt ins Handy. Auch die Autos fuhren schneller. Einen SUV nach dem anderen pflückte sich die Polizei heraus zur Kontrolle, doch warnende Autorität schmolz, wenn die Beamten anerkennend fragten: „Was kostet der denn?“

Je näher ich dem Ende des Boulevards kam, desto gereizter geriet man. „Haste was in den Hosen?“, fragte mich ein Fahrer durchs runtersummende Fenster, als mir beim Überqueren der Straße die Fußgängerampel auf Rot umsprang. Der Wind zerrte nun, während die Sonne hervortrat und mit ihm in einen Wettstreit ging, er riss an der Abdeckung eines Motorrollers. Dessen Alarm ging an. Keinen kümmerte es. Unbeirrt verharrte auch der Pendelobelisk am Joachimsthaler Platz, der Pfeiler auf der Kugel spottete meiner, als seine Inschrift mich einlud: „Wünscht euch was, wenn ihr mich anstoßt.“ Ich warf meinen Körper gegen die Bronze und drückte. Keinen Millimeter bewegte sie sich. Deprimiert setzte ich meinen Weg zur Gedächtniskirche fort, dem Endpunkt des Kurfürstendamm. Dort wartete eine Schlange von elf Leuten auf Erlösung – im alten Turm hatte sich eine Corona-Teststelle eingenistet.

Auch ich suchte Linderung, mich schmerzte ein Fuß vom Weg und die Schulter vom Obelisken. Setzte mich in den dunklen Gemeindesaal, als einziger Besucher, und starrte auf die Wände aus blauem Glas. Das Ultramarin zwischen den Betongittern verschwamm vor meinen Augen. Ich sah nur noch kleine Punkte. Jesus schwebte mir vom Altar entgegen, sein Messingkörper so groß wie ein Kleinwagen. Da erst merkte ich, in dieser plötzlichen Stille, was mir den ganzen Tag auf dem Kudamm in den Ohren gelegen hatte: der Autolärm. Tempo, Betrieb und Tamtam hatte ich mir bei diesem Geburtstag anders vorgestellt. Wenigstens einen kleinen Glückwunsch erwartet, einen Ausgleich. Doch alles schien verschoben, auf das Ende dieser verdammten dritten Welle, wenn in wenigen Tagen, ganz bestimmt, die Türen sich wieder öffnen und auf dem Kudamm die Sorge dem Leichten weicht. Alles, was gut war, das kommt mal zurück.