Zeitenspiegel Reportagen

Belagert und vergessen

Erschienen in "Reportagen", Nr. 15

Von Autor Carsten Stormer

Spätestens seit ich bäuchlings im Uferschlamm liege, ist mir klar, dass ich ziemlich tief in der Scheisse stecke. Der Kerl links neben mir entsichert seine Kalaschnikow, der Typ an meiner rechten Seite steckt seinen Zeigefinger in den Abzugsring einer Handgranate.

Meine Kleidung saugt sich voll mit kaltem Wasser. «Psst», macht der Anführer der syrischen Rebellengruppe, legt seinen Finger an die Lippen. «Was ist los?», flüstere ich. Mich rechtzeitig zu informieren, ist nicht unbedingt die Stärke meiner Begleiter. Meistens erfahre ich Dinge erst, nachdem sie geschehen sind.

Der Vollmond wirft silbernes Licht auf die Aprikosenhaine und den Tümpel, in dem wir liegen. Jede kleinste Bewegung lässt die Wasseroberfläche vibrieren, als hätte jemand einen Kieselstein ins Wasser geworfen. Der Mond leuchtet uns aus, wie ein grosser Scheinwerfer. «Hinterhalt», wispert der Mann mit der Handgranate und zeigt in die Dunkelheit. Ich kann nichts erkennen. Eine Falle? Schon beim Gedanken daran wird mir übel, kriecht die Angst hoch, und meine Zähne schlagen so heftig aufeinander, dass ich mich sorge, das Geklapper könnte uns verraten. Wie lange wir im Morast liegen – keine Ahnung. Vielleicht ein paar Minuten, vielleicht eine Stunde oder länger. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren und überlege, wie meine Chancen stehen, dass ich die Nacht überlebe.

Im Unterholz raschelt es. Keine hundert Meter vor uns schälen sich Gestalten aus der Nacht. Drei, vier, sieben Personen zähle ich. Der Stahl ihrer Gewehre blitzt im Mondlicht. Sie kommen auf uns zu, ganz langsam. Die Rebellen legen ihre Kalaschnikows an, zielen, sind bereit zu schiessen. Ich halte die Luft an, höre meinen Herzschlag in den Ohren, fühle mich elend, klein, verletzlich und vor allem hilflos. Was zum Teufel mache ich hier? Nach ein paar Metern drehen die syrischen Soldaten ab, und ich höre nur noch ihre Schritte. Ein knackender Ast unter einem Militärstiefel, ein leises Fluchen. Dann sind sie fort. Erleichtert presse ich mein Gesicht in den Schlamm.

Um sicherzugehen, bleiben wir noch zwanzig Minuten unbeweglich liegen. Dann sondiert ein Späher die Lage. Nach einer weiteren halben Stunde kehrt er zurück. Die Luft sei rein. Erleichterung, Männer kichern und verscheuchen mit Witzen die Anspannung. «Na, Journalist, Angst gehabt?» Ja verdammt, sehr witzig. Drei Monate hatte ich diese Reise geplant, vorbereitet, mit Aktivisten der syrischen Untergrundbewegung geskypt, Routen gecheckt, verhandelt, umgeplant, Übersetzer gesucht. Ich will in die Stadt Zabadani. Ein ehemaliger Luftkurort, dreissig Kilometer von Damaskus entfernt und seit fast zwei Jahren eingekesselt von der syrischen Armee. Ich will schreiben, wie die Menschen in einer Stadt leben, in der sie täglich sterben können. Wie wird diese Stadt versorgt? Wie verwaltet? Wer sorgt für Recht und Ordnung? Wovon leben die Menschen? Wie überleben sie? Das ist wichtig, dachte ich.

Es ist mein zweiter Versuch, Zabadani zu erreichen. Im Mai 2013 bin ich kläglich gescheitert. Damals hatte ich viel Geld und Zeit verschwendet, ohne auch nur in die Nähe des Ortes zu gelangen. Von den 40 000 Menschen, die dort einst lebten, sollen nur noch 3000 in der Stadt ausharren. Tagelang sass ich zunächst in Libanon und dann in einem syrischen Kaff fest. Erst kam eine Offensive der Armee dazwischen, dann griff die Hizbullah in den Krieg ein. Später regnete oder schneite es so heftig, dass ich unmöglich die Berge überqueren konnte. Und als endlich die Sonne schien, spielte der Schmuggler verrückt, der mich über die Grenze bringen sollte. Kaum hatten wir uns auf einen Preis geeinigt, wollte er mehr Geld. Im Stundentakt verdoppelte sich seine Gebühr, und je höher er pokerte, umso geringer wurde mein Vertrauen in diesen Menschen, dem ich mein Leben anvertrauen wollte. Frustriert und um einige Tausend Euro ärmer fuhr ich nach Hause.

Bei dieser Reise, da bin ich mir sicher, ist alles gut vorbereitet: das Handgeld des Schmugglers ausgehandelt, die Sonne lacht. Im einzigen Café eines staubigen Nests, zwei Stunden von der libanesischen Hauptstadt Beirut entfernt, treffe ich meine Kontaktperson – einen dürren Mann mit Sonnenbrille, der sich auffällig unauffällig bewegt. Er setzt sich neben mich, zündet eine Zigarette an, bläst mir Rauch ins Gesicht, nimmt die Sonnenbrille ab, schaut mir in die Augen – und sagt kein Wort. Es ist wie in einem zweitklassigen Agentenfilm, und ich muss lachen, setze meine Sonnenbrille auf und zünde mir eine Zigarette an. Jetzt lachen wir beide.

Das Briefing ist kurz. «Pass auf», sagt Fadi, wie sich mein Schleuser nennt, «in einer halben Stunde kommt mein Cousin Aiman und bringt dich an die Grenze; dort wartet ein Auto, das mit dir nach Zabadani fährt.» Der Weg sei sicher, beteuert der 22-Jährige, der aus Zabadani geflüchtet ist. «Nur zwei Stunden, heute Abend bist du da», versichert Fadi. Zwei Stunden im Auto? Ungläubig schaue ich Fadi an. «Was ist mit den Checkpoints der Armee? Ich dachte, die Strassen sind gesperrt, und wir müssen nach Zabadani wandern», frage ich ihn und freue mich gleichzeitig still darüber, dass ich mein Gepäck nicht über die Berge schleppen muss.

«He, Journalist, vertraust du mir etwa nicht?», schmollt Fadi. «Hmm…», erwidere ich. «Keine Checkpoints, keine Armee, die Route ist sicher», sagt Fadi und lächelt freundlich. Zum Abschied gibt er mir noch eine Warnung auf den Weg: «Sag niemandem, dass du Journalist bist, hier gibt es Spione», flüstert er mir ins Ohr. Dann bestellt er noch einen Espresso und lässt mich mit der Rechnung allein zurück.

Drei Stunden später hält ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben und quietschenden Reifen vor dem Café. Aus den offenen Fenstern wummert libanesische Popmusik. Ein Kopf schaut hervor, der genauso aussieht wie Fadi. «Hey! Journalist! Steig ein», brüllt er gegen die Musik an. So viel zum Thema Geheimhaltung. Kurz darauf sitze ich in einem Safehouse an der syrisch-libanesischen Grenze, einem kleinen Schmugglernest, tief in den Bergen. Von hier aus transportieren Schieber Waffen, Lebensmittel, Medikamente und Journalisten in die eine Richtung, Flüchtlinge in die andere. Das Haus ist von hohen Mauern umgeben. Im Hof parken zwei klapprige Motorräder, im Gebäude warten zwei gutgelaunte Männer. Sie sollen mich nach Zabadani bringen. Aiman begrüsst sie, Dollarscheine wechseln die Besitzer. Die Geschäfte gehen gut, es herrscht Goldgräberstimmung. Auch bei meinen Schleusern, zwei Brüdern, die ihre Namen nicht nennen wollen. Der eine ist gross und dünn, der andere klein und füllig. Sie tragen Tarnhosen und Patronengürtel, Kalaschnikows und lange Bärte. Und sie sprechen kein Englisch. Was die Kommunikation erschwert, da ich kein Arabisch spreche. «Wo ist mein Übersetzer?», frage ich Aiman, worauf der grosse Dünne in schallendes Gelächter ausbricht. Der Dolmetscher könne leider nicht kommen, seine Mutter habe ihm verboten, nach Zabadani zu reisen, erklärt er mir, nachdem er sich etwas beruhigt hat. «Zu gefährlich», sagt der Dicke, nimmt seine Kalaschnikow und fügt hinzu: «Zabadani. Bumm, bumm!» Sorgen solle ich mir aber keine machen, ich sei bei ihnen in guten Händen. So richtig beruhigt mich das nicht. «Wann werden wir Zabadani erreichen?», frage ich. «In zwei Stunden, insh’Allah», antwortet der kleine Dicke. So Gott will. «Mit dem Auto?», hake ich nach. Jetzt klopfen sich beide lachend auf die Schenkel. «Auto? Welches Auto? Hier gibt es nicht mal Strassen, mein Freund.» Aiman blickt betreten zu Boden und verabschiedet sich.

Wir trinken Tee, warten, rauchen, trinken noch mehr Tee, warten weiter, lächeln uns an, schweigen. So vergehen die Stunden. Irgendwann schnappen sich die Schmuggler mein Gepäck und verstauen es auf den Motorrädern draussen im Hof. Ein Sack mit Munition hat auch noch Platz. Und los geht es. Wir fahren durch bergiges Niemandsland, auf Feldwegen und Schmugglerpfaden, passieren ausgebrannte Autowracks, die von Granaten und Raketen der Armee getroffen wurden. Nach einigen Kilometern halten die Brüder an und sagen: «Welcome to Syria!» Für meine zwei Schmuggler ist der Grenzübertritt anscheinend ein freudiges Ereignis. Wie wild fangen sie an, mit ihren Kalaschnikows auf imaginäre Ziele an einem Berghang zu ballern. Ein verängstigter Schafhirte geht vorsichtshalber in Deckung. Die Brüder finden das urkomisch. Ich nicht. Ich denke an Armeepatrouillen, Hubschrauber und Kampfflugzeuge, die von dem Lärm angelockt werden könnten. Zielschiessen in dieser Gegend erscheint mir nicht besonders klug. Dick und Dünn sehen das gelassener. Erst als sie ihren Spieltrieb befriedigt haben, fahren wir weiter. Kurz darauf gibt das erste Motorrad den Geist auf. Benzin alle. Dick und Dünn schieben die Motorräder unter einen Felsvorsprung und tarnen sie mit ein paar ausgerissenen Büschen. Warum wir nicht das Gepäck und die Munition mit dem zweiten Moped transportieren, ich weiss es nicht. Von jetzt an heisst es Laufen, über zweitausend Meter hohe Gipfel, mit dreissig Kilo Gepäck auf dem Buckel.

Bei Einbruch der Dunkelheit erreichen wir die erste grössere syrische Stadt. Sie wird von der Armee gehalten. In einer Obstbaumplantage wartet ein Geländewagen. «Schneller, schneller», ruft der Fahrer, ein nervöses Bürschlein, kaum älter als 16 Jahre. Wir springen auf die Ladefläche, meine Begleiter tauschen ihre Uniformen gegen Jogginghosen und T-Shirts, werfen eine Plane über mich und mein Gepäck und bringen mich in die Wohnung eines Untergrundaktivisten. Dort verstecken wir uns bis spät in die Nacht.

Ich werde einer anderen Gruppe Schmugglern und vier Rebellen, die uns Geleitschutz aus der Stadt geben sollen, übergeben. Die Aufständischen halten es für keine gute Idee, in einer wolkenlosen Nacht und bei Vollmond weiterzulaufen. Doch die Schmuggler wollen möglichst schnell nach Zabadani – und an ihr Geld. «Es ist zu gefährlich, besser wir warten eine Nacht», sagt der Rebellenchef. «Mafi Mushkillah», antwortet ein Schmuggler. Kein Problem. Vorsichtshalber wird ein Kundschafter losgeschickt. Nach einigen Stunden kehrt er zurück. «Der Weg ist ein bisschen sicher und ein bisschen gefährlich», berichtet der Späher. Alles klar. Ich beschliesse, sein kryptisches Urteil einfach zu ignorieren. Um elf Uhr nachts brechen wir auf. Wenig später wissen wir, dass der Rebellenchef richtig lag, und deshalb liege ich nun mit der Nase im Morast. Vielleicht ist das ein guter Zeitpunkt, um religiös zu werden, grüble ich. Nachdem die syrischen Soldaten verschwunden sind und sich meine Begleiter genug über meine Angst amüsiert haben, gehen wir zu Fuss weiter. Eine andere Möglichkeit, nach Zabadani zu kommen, gibt es nicht. Die Zufahrtswege kontrolliert die syrische Armee. Ich frage den Anführer der Rebellen, wie lange es noch dauert, bis wir unser Ziel erreichen. «Zwei Stunden, insh’Allah», flüstert er. Und für einen kurzen Moment habe ich das dringende Bedürfnis, ihm die Nase zu brechen.

Stunde um Stunde laufen wir durch Obstplantagen, entlang stillgelegter Gleise, robben an einem Checkpoint der Armee vorbei, so nahe, dass ich Soldaten lachen höre. Wir sprinten über eine Landstrasse, dabei fällt ein Rebell in ein Abflussloch, schlägt sich die Nase blutig, wir hetzen Berg auf, Berg ab. Zwischendurch verliert unser Führer die Orientierung. An einem zerstörten Haus auf einem Gipfel muss ich mich vor Erschöpfung übergeben. In der Ferne höre ich das dumpfe Knallen von Panzergranaten. «Zabadani!», sagt einer der Schmuggler und deutet mit dem Finger nach Süden, wo die Explosionen den Nachthimmel wie zuckende Blitze erleuchten.

Um fünf Uhr morgens erreichen wir endlich die eingekesselte Stadt. Ich steige in das Tal von Zabadani, wie in ein kaltes Bad. Am Stadtrand warten Rebellen auf Motorrädern. Der Morgen graut. Im Licht des anbrechenden Tages fahren wir durch eine Ruinenlandschaft. Links und rechts zerstörte Häuser, Panzerwracks, Schuttberge. «Schnell. Komm rein. Granaten! Granaten!», ruft jemand. Ich werfe meine Rucksäcke ab und stürme panisch in den Hauseingang vor mir, suche Schutz, presse meinen Helm auf den Kopf und warte auf den Einschlag. Mein Herz rast. «War nur ein Witz, mein Freund», sagt der Mann und kichert. «Willkommen in Zabadani, Christ. Ich bin Fadis Onkel. Du wohnst bei mir.» Der Witzbold heisst Abu Jaber. Er nimmt mir einen Rucksack ab und führt mich in seine Wohnung im Erdgeschoss. Die oberen Stockwerke sind völlig ausgebombt. In Abu Jabers kleinem Wohnzimmer schlafen sechs Rebellen auf der Couch und auf dem Boden. Es riecht nach Schweiss und Käsefüssen. Ich bin so erschöpft, dass ich mich neben einen der Schlafenden lege und sofort wegdöse. Als ich erwache, blicke ich in das Gesicht von Abu Jaber, nur wenige Zentimeter neben mir. «Frühstück?», fragt er. Abu Jaber, 36 Jahre alt, vor dem Krieg Elektroinstallateur, trägt die Haare nach islamistischer Mode kurz geschoren und einen wallenden schwarzen Bart. Er ist Kommandeur von Ahrar al-Sham, Islamische Bewegung der freien Männer Syriens, einer islamistischen Splittergruppe der Freien Syrischen Armee. Er sei kein Terrorist, betont er. «Warum meint der Westen, dass wir Bombenleger sind, nur weil wir an Allah glauben?» Ich will es mir mit meinem Gastgeber nicht sofort verscherzen. Trotzdem kann ich die Klappe nicht halten. «Vielleicht weil in den vergangenen Monaten unzählige Videos im Internet aufgetaucht sind, die zeigen, wie Islamisten toten Soldaten das Herz aus dem Leib schneiden», entgegne ich. «Oder weil christliche Dörfer überfallen, gefangene Soldaten enthauptet werden.» Abu Jaber kratzt sich am Kopf. In der Tat, das sei ein Problem. «Aber das ist al-Kaida, mit denen haben wir nichts zu tun. Das sind Feinde des Islams.» Gut möglich, dass man diese Leute nach dem Sturz von Präsident Asad bekämpfen müsse. «Aber im Augenblick sind sie die Einzigen, die auf unserer Seite kämpfen.»

Es ist oft von DEN Rebellen die Rede, wenn es um die bewaffnete Opposition in Syrien geht. Aber DIE Rebellen gibt es nicht. Es sind heterogene Gruppierungen, mit unterschiedlichen Zielen, oft zerstritten. Darunter Säkulare, Studenten, Anwälte, Ärzte, Deserteure der syrischen Armee, Bauernsöhne. Inzwischen übernehmen immer mehr radikale Islamisten aus dem Dunstkreis von al-Kaida das Ruder im syrischen Bürgerkrieg. Wie Jabhat al-Nusra, Islamischer Staat für Irak und Syrien (ISIS) oder eben Ahrar al-Sham. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie wollen Diktator Bashar al-Asad stürzen. Nur darüber, wie dieses Ziel erreicht werden und was danach kommen soll, sind sie uneins. Freie Wahlen und eine islamische Demokratie nach türkischem Vorbild? Oder ein islamistisches Kalifat mit dem Koran als Grundgesetz und der Scharia als Rechtsprechung? Wegen des globalen Jihad-Tourismus sickern immer mehr Fanatiker nach Syrien ein, die eine Welt ohne Zwischentöne schaffen wollen und das Land aufteilen möchten in «halal» und «haram» – in erlaubt oder verboten, Freund oder Feind, Paradies oder Hölle. Radikale Islamisten und Salafisten, die aus Saudiarabien, Ägypten oder Katar kommen, auch aus Deutschland, England oder Australien, um in Syrien einen heiligen Krieg zu führen. Viele von ihnen haben sich zur al-Nusra-Front vereinigt, dem verlängerten Arm der irakischen al-Kaida. Sie verachten jeden, der den Islam anders interpretiert als sie.

Die Realität sieht düster aus. Syrien ist längst zum Spielball verschiedener Interessen geworden: ein Stellvertreterkrieg zwischen Russland, China, Iran und der libanesischen Hizbullah auf der einen Seite, Europa, den USA, Katar, Saudiarabien, der Türkei auf der anderen. Das vom tatenlos zusehenden Westen entstandene Vakuum füllen die Radikalen, die neben Waffen auch Brot und Geld im Gepäck haben und so der verarmten und schlecht ausgerüsteten Freien Syrischen Armee den Rang ablaufen. Heute weht in Städten wie Aleppo, Idlib oder Raqqa nicht mehr die säkulare Fahne der Rebellenarmee, sondern die schwarze Flagge der Islamisten mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. In den befreiten Gebieten des Nordens sichern Jabhat al-Nusra oder Ahrar al-Sham inzwischen fast die komplette Grundversorgung der Bevölkerung, verteilen Essen, Medikamente, Decken, Heizöl – und drücken nebenbei den Menschen ihre Weltsicht auf, ob sie wollen oder nicht.

Saudiarabien nimmt in diesem Stellvertreterkrieg eine Schlüsselrolle aufseiten der Rebellen ein, wie Iran auf der anderen Seite. Einerseits unterstützt das saudische Königshaus die gemässigten Rebellen, wahrscheinlich mithilfe der CIA, mit Waffen, Raketenwerfern, Munition, Nachtsichtgeräten, Gewehren. Das Kalkül: die Sunniten, die wie in Saudiarabien die Mehrheit in Syrien stellen, zu unterstützen, um im Nachkriegssyrien mehr Einfluss zu bekommen. Das setzt freilich eine Niederlage Asads voraus. Gleichzeitig sorgen sich die Saudis um den wachsenden Einfluss der Radikalen, die die wahabitischen Prinzen und Könige als Feinde des Islams ansehen, als Lakaien der USA und Europa. Die Zwickmühle: Islamische Wohltätigkeitsorganisationen, viele mit steinzeit-islamistischer Gesinnung, unterstützen die Extremisten mit grosszügigen Spenden. Irgendwann, so die Sorge, werden die kampferprobten Jihadisten den Kriegsschauplatz von Syrien nach Saudiarabien verlegen. Was in den Hinterzimmern der Weltpolitik ausgehandelt wird, interessiert Abu Jaber schon lange nicht mehr. Seine Welt hat sich auf die zerstörten Strassenzüge seiner Heimatstadt reduziert. Das trockene Knallen der Scharfschützengewehre ist zum Soundtrack seines Lebens geworden. «Komm, ich zeige dir die Stadt», sagt Abu Jaber. Doch daraus wird nichts. «Kosov! Kosov! Kosov!», krächzt es aus dem Funkgerät, das Abu Jaber, wie alle verbliebenen Einwohner Zabadnis, immer bei sich trägt. Granaten! Die syrische Armee hat wieder damit begonnen, die Stadt von ihren Stellungen aus den Bergen zu beschiessen. Wir müssen die Stadtrundfahrt verschieben.

Die ersten zwei Tage ist der Beschuss so heftig, dass wir Abu Jabers Haus nicht verlassen können. Zum Glück weiss mein Islamistenführer, wie man einen Satelliten anzapft. So haben wir zumindest Internet und können die Zeit mit Facebook und Skype totschlagen. Oder wir zocken auf dem Computer; Monopoly, Risiko. Zwischendurch beten meine Begleiter oder putzen ihre Waffen. Meistens wälze ich mich auf einer fleckigen Matratze hin und her. Auch Langeweile kann tödlich sein.

Einmal explodiert eine Granate so nahe am Haus, dass Splitter die Stromleitung kappen. Den Rest des Tages sitzen wir im Dunkeln und starren an die Decke. Abu Jaber füttert mit Essensresten eine traumatisierte, abgemagerte Katze, die sich zitternd in einem seiner Stiefel versteckt, krault ihr das Fell, versucht sie zu beruhigen, vergebens. Abends telefoniert er mit seinen beiden Kindern in einem Flüchtlingslager in Libanon. Ja, Baba gehe es gut. Baba vermisst euch. Baba kommt euch bald besuchen. Und er lacht, wenn sein Sohn ihn darum bittet, den «Esel Bashar zu fangen», damit der Krieg endlich ein Ende nimmt. «Baba liebt euch, Salam aleikum», sagt er dann, legt auf und dreht den Kopf zur Seite, damit Besucher seine Tränen nicht sehen. In den folgenden Tagen gewöhne ich mich an den Beschuss. Wenn draussen die Granaten explodieren und der Strom ausfällt, wenn wir deshalb abgeschnitten sind vom World Wide Web, dann sitzen wir in Abu Jabers Wohnzimmer, trinken gesüssten Tee und führen lange Gespräche über den Krieg und die Zukunft Syriens. Auch hier höre ich die Fragen, die mir auf all meinen Reisen in Syrien gestellt wurden: Warum hilft uns niemand? Warum schaut die Welt dem Töten zu?

Ein neuer Morgen: Wie immer wecken uns Asads Granaten. «Beeil dich, Christ. Ich will dir etwas zeigen», sagt Abu Jaber. Er steht aufgeregt vor meiner Matratze, zieht mir das Laken weg. «Muss das unbedingt jetzt sein?», stöhne ich. «Die Granaten schlagen doch weit weg von hier ein, entspann dich.» Ich versuche seinen Rat zu beherzigen, leider erfolglos. Wie immer, wenn wir das Haus verlassen, ziehe ich meine schusssichere Weste an und setze den Helm auf – was bei meinen Begleitern immer Lachkrämpfe auslöst. «Hast du Angst, Christ?», fragen sie dann und zeigen zum Himmel. «Wenn Allah will, dass du stirbst, dann stirbst du. Wenn er möchte, dass du lebst, beschützt er dich. Allahu akbar!» Gott ist gross. «Allahu akbar!», brüllen die Rebellen im Chor. Gott mag gross sein, meine Angst ist grösser. Im Gegensatz zu meinen Beschützern finde ich den Märtyrertod keinesfalls erstrebenswert. Mein Paradies ist ein sehr irdisches. Und das widerspricht der Weltanschauung meiner neuen Freunde. Anfangs habe ich ihre Fragen nur ausweichend beantwortet, um nicht gleich als dekadenter Ungläubiger zu gelten. Ob ich Alkohol trinke? Vorehelichen Sex hatte? Ob ich Schweinefleisch esse? Bars und Nachtclubs besuche? Erst nach ein paar Tagen traue ich mich, diese Fragen mit Ja zu beantworten. Die Reaktion der Rebellen: betretenes Schweigen. Dann klopft mir einer der Männer auf die Schultern und sagt: «Na, dann kommst du eben in die Hölle, mein Freund.» Dort könne es auch nicht viel schlimmer sein als hier, antworte ich, um die Stimmung aufzulockern. Lachen, Schulterklopfen, Küsschen links, Küsschen rechts. Aber ich solle doch bitte mit dem Rauchen aufhören, meint Abu Jaber. Das sei ungesund. Als ob herumfliegende Granatsplitter gesünder wären.

Irgendwann haben die Soldaten in den Bergen ein Einsehen, legen eine Pause ein, und ich bin froh, aus dem Haus zu kommen. Wir rasen auf Abu Jabers Moped durch die Stadt, in der Hoffnung, schneller zu sein, als die Scharfschützen zielen können. Freiwillige räumen Mauerreste von der Strasse, sammeln Schrapnellsplitter auf. «Wir müssen die Wege freihalten, damit wir fliehen können, falls wir angegriffen werden», schreit mein bärtiger Freund gegen den Fahrtwind an. Wir halten am Hauptquartier seiner Einheit. Stolz zeigt er mir das Waffenarsenal: selbstgebaute Raketenwerfer, Mörser, Granaten, kistenweise Munition. «Wir haben gerade ausreichend Waffen und Patronen, um uns zu verteidigen, aber nicht, um anzugreifen.» Ein Nebenzimmer dient den Rebellen als provisorisches Gefängnis. Darin hocken zwei Regierungssoldaten. Keine Gitter, kein Schloss. Nur einen Halbstarken, der pausenlos pafft, als Wächter. Wohin sollten sie auch fliehen. «Film sie», sagen die Rebellen und schieben mich in das Zimmer. «Mach schon! Mach schon!», fordern sie mich auf, wie Grosswildjäger, die einen erlegten Löwen präsentieren. Ich lehne dankend ab, fasele etwas von Genfer Konventionen, dass man Kriegsgefangene nicht filmen dürfe, weil auch sie Rechte haben – und ernte verständnislose Blicke. Aber ein Interview würde ich gerne mit den Inhaftierten führen, allein. Allein? Nein, das sei auf gar keinen Fall möglich.

Auf dem Rückweg hält Abu Jaber vor einem fünfstöckigen Gebäude im Stadtzentrum. Dies sei der ehemalige Polizeiposten Zabadanis, erklärt er. Auf dem Dach weht die Flagge des Regimes, an der Aussenmauer hängt ein Bild von Hafiz Asad, dem Vater des Präsidenten. Ein Dutzend Polizisten befinden sich noch in der Wache. Am Eingang, hinter Sandsäcken und Stacheldraht, hockt ein Gendarm und winkt müde in die Kamera. Die Rebellen haben das Haus umstellt. Die Belagerten werden zu Belagerern. Es herrscht eine Art Nichtangriffspakt zwischen Widerständlern und Polizisten. «Sie tun uns nichts, wir tun ihnen nichts. Jeden Tag lassen wir sie einkaufen, damit sie nicht verhungern», sagt Abu Jaber. Ausserdem sei es hier sicherer, denn die Armee beschiesse ihre eigenen Leute nur selten.

Am Morgen des dritten Tages treffe ich Nermin, Omar und Momin. Die 31-jährige Nermin ist Chefredakteurin, Reporterin und Karikaturistin von «Oxygen», einem Revolutionsblatt. Momin und Omar sind Reporter und Fotografen. Nermin gründete «Oxygen», 32 Seiten dick, zu Beginn des Aufstands gegen das syrische Regime zusammen mit vier Freundinnen. Damals, als plötzlich alles möglich schien und sie endlich das sagen und schreiben konnten, was ihnen auf der Seele brannte, ohne dass sie jemand zensierte oder für ihre Gedanken ins Gefängnis warf. Als Menschen wie sie erst zu Hunderten, dann zu Tausenden und irgendwann zu Hunderttausenden auf die Strasse gingen, um für mehr Chancen und Rechte zu demonstrieren. Als viele hofften, die vierzigjährige Diktatur abzuschütteln, von einem Neuanfang träumten: freie Gedanken in einer freien Presse. So etwas gab es bis dahin nicht in Syrien.

Zweieinhalb Jahre später, und nachdem 110 000 Menschen sterben mussten, ist der Traum von Freiheit unter dem Schutt des Krieges fast begraben. Aber Nermin ist immer noch da. Züchtig, mit Kopftuch, wie es im konservativen Zabadani von Frauen erwartet wird. Ihren richtigen Namen will sie nicht nennen. Sie muss sich schützen und ihre Familie, vor der syrischen Armee, der Geheimpolizei, die sie suchen und ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt haben. Seit einigen Monaten lebt Nermin bei Verwandten in einem Nachbarort, der nicht so häufig bombardiert wird. Nur für ihre Recherchen oder zum Redaktionsschluss kommt sie nach Zabadani.

Und jedes Mal setzt sie dabei ihr Leben aufs Spiel. Am Morgen passierte sie zwei Checkpoints der Armee und betete zu Allah, dass die Soldaten ihre Angst nicht bemerken. Denn in ihrer Handtasche schmuggelte sie eine Mappe mit selbstgemalten Anti-Asad-Karikaturen, die in die aktuelle Ausgabe sollen. «Wenn sie mich erwischt hätten, wäre ich jetzt tot oder im Gefängnis», sagt sie mit zitternder Stimme und holt die Mappe aus ihrer Tasche: ein Dutzend Blätter, auf denen das Leid Syriens gezeichnet ist. Ihre Arbeit sei wichtig. «Für die Wahrheit.» Aber sie ist auch ein Drahtseilakt ohne Fangnetz. «Zum Glück kontrollieren die Soldaten Frauen so gut wie nie», sagt sie, und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Ein kleiner Sieg.

Wir laufen durch die Stadt, suchen nach Menschen, die uns ihre Geschichten erzählen, passieren einen ausgebrannten Panzer, steigen über Schuttberge. Nermin zeigt auf eine Ruine. «Das war das Haus meiner Eltern.» Kaum jemand wagt sich noch auf die Strassen, alles Leben ist verschwunden. Nermin, Omar, Momin und ich sind die Einzigen hier. Ich fühle mich wie ein Statist in einem Endzeitfilm. Wir laufen dicht gedrängt an Hausmauern entlang, um den Scharfschützen kein Ziel zu geben, rennen über Kreuzungen.

Zabadani war die erste syrische Stadt, die «befreit» wurde, erzählt mir Momin. Das war im Januar 2012. Aber frei ist hier niemand. Denn seitdem ist Zabadani eingekesselt. Auf den Bergen rings um die Stadt stehen Panzer und Artilleriestellungen der Armee, die unaufhörlich die Stadt beschiessen; siebzig, achtzig Granaten täglich. Seit zwei Jahren zerstören die Geschosse Stockwerk für Stockwerk. Kaum ein Haus, dessen obere Etagen unbeschädigt sind. Zabadani ist zu achtzig Prozent verwüstet, und die wenigen verbliebenen Bewohner suchen Zuflucht in den Kellern und Erdgeschossen.

Wir besuchen die ausgebrannte Moschee, dann die Kirche nebenan, deren Glockenturm von einer Granate getroffen wurde. Momin filmt, Omar fotografiert, Nermin macht sich Notizen. «Jahrhunderte haben Christen und Moslems in Zabadani friedlich zusammengewohnt. Jetzt sind unsere Gotteshäuser zerstört», sagt Momin, ein dürrer, freundlicher Mann mit Wuschelkopf, der meistens schweigt und an seiner Gebetskette nestelt. Neben der Kanzel steht eine Kiste mit Weihnachtsschmuck, Andenken an friedliche Tage. Omar kramt in Geschenkpapier eingewickelte Kartons hervor. «Merry Christmas», sagt er und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht, seine Stimme überschlägt sich, dann bricht er in Tränen aus. «Wir haben immer gemeinsam mit den Christen Weihnachten gefeiert. Ich vermisse das. Ich halte diesen Krieg nicht mehr aus.»

Wir ziehen weiter. An einem Fenster ohne Scheiben erscheint ein Mann, beobachtet uns und ruft herunter, dass wir besser verschwinden sollen. «Kanas!», sagt er. «Scharfschützen!» Dann zieht er sich wieder ins Innere der Ruine zurück. Kurz darauf erfolgt ein Warnruf der Späher in den Bergen, die die Panzer beobachten. «Granate! Granate! Granate!», krächzt es aus Omars Funkgerät. Wir rennen in einen offenen Hauseingang, warten den ersten Einschlag ab. Rennen anschliessend weiter, reflexartig, geduckt, als ob wir uns so vor herumfliegenden Splittern schützen könnten. Wir flüchten in eine Wohnung. Zitternd lehnt Nermin sich gegen die Mauer, ringt nach Luft. «Wann hat das alles endlich ein Ende?», fragt sie und schliesst die Augen.

Still sitzt sie da, mit hängenden Schultern, ihr Schweigen wird laut, als draussen die Waffen für einen Moment innehalten. Dann wieder das schrille Pfeifen der Panzergranaten, eine Detonation, ganz in der Nähe. Das Minarett der Moschee ist getroffen. Gesteins- und Schrapnellsplitter prasseln gegen die Hauswand. Eine Staubwolke weht durchs Fenster.

Warum riskieren die drei Journalisten ihr Leben? Warum fliehen sie nicht nach Libanon oder in die Türkei? «Weil es meine Pflicht ist», sagt Nermin, Glitzern in den Augen. «Deshalb», sagt Momin und zieht sein Hosenbein hoch, Fussrücken, Wade und Oberschenkel sind mit Narben übersät. «Elektroschocks und Zigaretten. Eine Erinnerung ans Gefängnis. Weil ich demonstriert habe.»

Von der Euphorie des Anfangs ist heute nicht mehr viel übrig. Die Hoffnung auf einen Neuanfang ist der Hoffnungslosigkeit gewichen. Ratlosigkeit, was die Zukunft für sie bereithält. Nur der Zorn ist geblieben und der Trotz, unter dem ständigen Bombardement nicht einzuknicken. Und die Gewissheit, das Richtige zu tun. Das Leben, das sie einmal kannten, existiert nicht mehr. Und so schreiben die drei Woche für Woche, wie in einem Laufrad gefangen, gegen das Unrecht an. «Wir kritisieren nicht nur das Regime, sondern auch die Freie Syrische Armee», sagt Nermin. «Denn sie haben uns die Revolution geklaut und die Werte verraten, für die wir auf die Strasse gegangen sind.» In fast jeder Ausgabe von «Oxygen» finden sich Artikel über Rebellen, die plündern, Menschen erschiessen oder sich gegenseitig bekämpfen. Und am meisten sorgt sie sich über die schleichende Radikalisierung innerhalb der Freien Syrischen Armee. Leute wie Abu Jaber, mein freundlicher Islamist, der sich geweigert hat, uns zu begleiten, weil Nermin eine Frau ist. «Wie konnten wir es zulassen, al-Kaida in unsere Reihen aufzunehmen? Mit welchem Recht exekutieren manche Rebellengruppen Menschen? Das macht uns nicht besser als diejenigen, die wir bekämpfen.» Auf den Strassen Zabadanis und im Internet wird sie deshalb manchmal als Verräterin und Nestbeschmutzerin beschimpft. Die neuen Herren mögen keine Kritik.

Zwei Tage lang ziehe ich mit Nermin, Momin und Omar durch die Stadt. Wir besuchen die Gemeinschaftsküche, wo junge Männer, die noch nie am Herd standen, die wenigen Nahrungsmittel in einem grossen Kochtopf zusammenrühren und an die Einwohner verteilen. Jeden Abend bildet sich eine lange Schlange mit hungrigen Menschen davor. Wir treffen uns mit einem Bauern auf dessen verkohlten Feldern am Stadtrand, die er nicht mehr bestellen kann, weil die Armee sie beschiesst. «Asad will uns aushungern», sagt der Bauer und schenkt mir einen verschrumpelten Pfirsich. Zwischendurch bittet uns Omar, einen Moment zu warten, verschwindet in einem Haus, kommt nach einer halben Stunde freudestrahlend wieder raus, hält einen Finger mit einer Drahtschlinge in die Höhe und sagt: «Ich habe gerade geheiratet.» Normalität und Wahnsinn liegen in Zabadani nah beieinander.

Oftmals verlieren wir uns in unseren eigenen Gedanken. Anspannung und Angst lenken mich ab. Mein Kopf hat auf Autopilot gestellt. Der Instinkt, diese Reise zu überleben, überlappt meine Aufgabe, Fragen zu stellen. Ich bin plötzlich kein Beobachter mehr, sondern Teil des Geschehens, Betroffener, erlebe am eigenen Leib, was es heisst, in einer belagerten Stadt zu sein. Die Prioritäten verschieben sich. Oft sitzen wir einfach nur mit klopfenden Herzen still beieinander, halten uns an den Händen und zählen die Einschläge. In diesen Momenten sind wir uns ganz nah, und die Distanz zwischen Reporter und Protagonisten ist verwischt. Erst Wochen nachdem ich Zabadani verlassen habe, kurz nachdem das syrische Regime Vororte von Damaskus mit Giftgas beschiessen liess, schreibt mir Nermin einen langen Brief, der mir all die Fragen beantwortet, die ich nicht gestellt habe, als wir zusammen waren.

In tausend Wörtern beschreibt sie darin ihre Wut darüber, dass ihr die Revolution gestohlen wurde. Sie sei am Boden zerstört, «weil der Widerstand irgendwann zum Jihad geworden ist. Einst hatten wir die grosse Hoffnung, diesem Regime aus eigener Kraft ein Ende zu setzen.» Sie fragt, ob es schlimmer sei, durch Gift zu sterben, als von einem Panzer überrollt zu werden. Von einem Scharfschützen ins Herz getroffen, von einer Rakete zerfetzt zu werden. Oder unter Folter zu krepieren. Einen Satz musste ich immer wieder lesen, weil er von dem unbändigen Schmerz zeugt, den diese mutige junge Frau ertragen muss: «Ich bin Ehefrau und Mutter und arbeite eigentlich als Lehrerin. Mittlerweile muss ich mich vor allem um die seelischen Nöten und die Familientragödien meiner Schüler kümmern. Sie sind Kriegskinder. Einige von ihnen wurden eingesperrt und gefoltert. Ich bekomme selbst das viele Blut nicht mehr aus meinem Kopf und frage mich, wie das die Kinder machen. Wie sie die täglichen Geräusche der Bomben und Gewehre ertragen, die ständige Angst, zu sterben und gefoltert zu werden. Ich habe mein Magazin und schreibe auf, wie es mir geht in einem Klima der Angst. Ich kann klagen, dass die Welt dabei zuschaut, wie wir sterben. Sie können das nicht. Sie bleiben stumm.»

«Oxygen» ist ihr Ventil, ein Katalysator, um den Irrsinn zu kanalisieren, damit er sich nicht staut, abstumpfen lässt. Jede Woche eine Ausgabe, mittlerweile sind es 74, machen sie zu einer Chronistin des Krieges. «Obwohl wir keine Drucker, keine Ahnung von Verlagswesen, keinen Schimmer vom Journalismus haben.» Und trotz aller Gefahr, trotz allen Schwierigkeiten hat sie niemals daran gedacht, aufzugeben. «Der Krieg gegen die Ungerechtigkeit dauert an, und wir werden nicht weichen. Wir werden gegen unsere Versklavung kämpfen, werden weiterhin unseren Wünschen freien Lauf lassen. Hey, vielleicht liegt die Zukunft am Ende doch in unseren Händen.» Es ist dieser eine brennende Gedanke, der sie weitermachen lässt.

Und das gilt auch für den schweigsamen Momin, der jeden Abend bei Abu Jaber vorbeischaut, um zu sehen, ob es mir gut geht. Mal bringt er eine Dose Mückenspray vorbei, mal einen Apfel oder eine eisgekühlte Cola. Irgendwo hat er einen Kebab aufgetrieben, den ich gierig verschlinge. Oder er leistet mir einfach Gesellschaft. «Ich will, dass du dich an mich erinnerst», sagt er dann. Fast vergessene Gesten der Gastfreundschaft, für die Syrien einst berühmt war, und der Versuch, ein bisschen Normalität in den Irrsinn des Alltags zu bringen.

Eines Morgens rüttelt mich Momin schon um sechs Uhr morgens aus dem Schlaf. Er will mir jemanden vorstellen. Zabadani schläft noch und die Soldaten in ihren Panzern anscheinend auch. Es sei die sicherste Zeit des Tages, sagt er. Wir halten vor einem Haus in der Stadtmitte Zabadanis, um uns herum zerschossene Ruinen. Mariam und ihr Mann Khaled knien auf dem Fussboden ihres Wohnzimmers, breiten Transparente und Stifte vor sich aus. Ihren Nachnamen wollen sie aus Furcht nicht nennen. Sie entwerfen die Graffiti des nächsten Tages. Auf einem steht: «Wir wollen keinen Religionskrieg in Syrien». Auf dem anderen: «Dies ist eine Revolution gegen ein Regime». Es ist ihre Art, Widerstand zu leisten, friedlich, ohne Waffen, wie Momin, «weil Worte und der Verstand langfristig stärker, mächtiger sind als ein Gewehr», sagt Khaled. Tochter Shahed sitzt daneben und schaut zu, Sohn Yusef chattet mit Freunden auf Facebook, bis der Strom ausfällt. Von ihrem Wohnzimmerfenster können wir die Panzer der syrischen Armee an den Berghängen sehen.

Seit eine Granate ihre Wohnung getroffen hat, wohnt die Familie im Haus eines Bekannten, der aus Zabadani geflohen ist. Wie jeden Morgen geht Mariams Mann Khaled allein aus dem Haus, um Graffiti an Hauswände zu zeichnen. Seine Familie bleibt zu Hause, zu gefährlich ist es auf den Strassen. In seiner Hand hält er einen Eimer mit Holzkohle, mit der er die Slogans auf die Wände kritzelt. Khaled prüft die Batterien seines Funkgeräts, umarmt seine Frau, küsst die Kinder. Dann verlässt er das Haus, Momin und ich folgen ihm.

Auf der Strasse zu laufen, wäre zu gefährlich. Wir gehen Umwege, klettern über Mauern, huschen durch Gärten, laufen durch verlassene Wohnungen, in deren Wände Löcher geschlagen wurden, damit die Menschen sicher von Ort zu Ort gelangen können. Khaled führt uns hinauf in den fünften Stock eines verlassenen Hauses. Hier war früher seine Wohnung. Die Tür hängt aus den Angeln, trotzdem hat er sie mit einem Vorhängeschloss gesichert. Das Innere gleicht einem Trümmerfeld. Momin hat sich getäuscht, die Armee ist heute früher als sonst aufgestanden. Als Khaled das Wohnzimmer zeigen will, fliegt eine Granate pfeifend am Haus vorbei und explodiert im Garten. «Al hamdulilah», flüstert Khaled. «Allahu akbar», murmelt Momin. Verdammter Mist, denke ich. Aus dem Funkgerät ertönt die Warnung, dass die Panzer wieder begonnen haben, die Stadt zu beschiessen. Als wir die Wohnung verlassen, liegt auf der Strasse ein alter Mann in einer Blutlache, Granatsplitter im Kopf. Er ist tot. Momin filmt.

Wir warten drei weitere Granaten im Haus eines Nachbarn ab. Khaled überlegt, welchen Platz er heute wählen wird. Einerseits möchte er, dass die syrische Armee sein Graffito sehen kann, andererseits muss er darauf achten, nicht selbst zum Ziel zu werden. Dann beginnt er auf eine Hauswand zu zeichnen. Hin und wieder hört er auf, blickt auf die Berge, ob dort irgendetwas Verdächtiges passiert. Jederzeit bereit, in Deckung zu gehen. Meistens jedoch verlässt er sich auf die Späher, die versteckt in Häusern und an den Berghängen liegen und jede Bewegung der Armee per Funk weitergeben. Das Graffito ist fertig. Unübersehbar, auf zwei mal zwei Meter und in arabischer Schrift fragt Khaled den Westen und die Vereinten Nationen, warum sie so lange dem Morden in Syrien zusehen.

«Vom ersten Jahr an, als wir auf die Strassen gegangen sind, haben sie auf uns geschossen und uns getötet. Und die Welt denkt immer noch, dass wir terroristische Banden sind. Wir sind ein Volk, das sein Land verteidigt», sagt Khaled und betrachtet sein Werk. Schnell noch ein Foto für die Website und Facebook, dann beginnt er, das Graffito mit einem Schwamm und Wasser abzuwaschen. «Wir löschen es gleich, damit nicht alle denken, dass wir der Grund dafür waren, falls diese Stelle bombardiert wird.»

Zwei Wochen verbringe ich in Zabadani. Oft kann ich Abu Jabers Haus nicht verlassen. Doch wann immer es möglich ist, besuchen Momin und ich Doktor Abdulhameed al-Ghaibar, einen orthopädischen Chirurgen und Chefarzt des einzigen Krankenhauses in Zabadani. Er ist einer von vier verbliebenen Ärzten. Ein kleiner, untersetzter Mann. Dreissig Jahre alt, dicke Brillengläser, Vollbart, durch den unermüdlich seine Finger gleiten, während er spricht. Mal werden Jugendliche eingeliefert, schwer verwundet bei dem Versuch, Mehl und Reis nach Zabadani zu schmuggeln. Einmal ein Greis, 72 Jahre alt. Die Kugel des Scharfschützen traf ihn in den Rücken, durchschlug die Lunge, prallte an einer Rippe ab und trat oberhalb der linken Niere wieder aus. Helfer bringen verwundete Zivilisten und Rebellen in den Warteraum; Huckepack, auf Fahrrädern oder Mopeds, manchmal in Kofferräumen von Autos, obwohl diese ein zu grosses Ziel für die Grenadiere und Scharfschützen in den Bergen abgeben.

Kaum ein Tag vergeht, an dem die provisorische Klinik, mehr Lazarett als Krankenhaus, nicht beschossen wird und sich Ärzte, Pfleger und Patienten hinter Sandsäcken kauern. Kurz darauf schwappen die Opfer herein, wie Treibgut an einen Strand. Doktor Abdulhameed al-Ghaibar zieht Spritzen mit Adrenalin auf, legt Kanülen. Eilt von Patient zu Patient. Ein massiger Rebell in Tarnhosen und mit einem Schrapnellsplitter im Hinterkopf liegt auf dem Operationstisch. Aus der Wunde tropft schwarzes Blut auf seinen Kittel und den gefliesten Boden. Kameraden weinen, filmen, schreien wild durcheinander. Abdulhameed al-Ghaibar sagt, dass sie verschwinden sollen, zieht den Metallsplitter mit einer Pinzette. Der Mann brüllt vor Schmerzen, weil es in Doktor Abdulhameed al-Ghaibars Klinik weder einen Anästhesisten noch ausreichend Betäubungsmittel gibt. Und auch der Sauerstoff, mit dem Opfer beatmet werden, neigt sich zu Ende. Zwischendurch fällt minutenlang der Strom aus. Ein Notstromaggregat gibt es nicht. Und wenn das Licht wieder angeht, kniet eine Schwester am Boden und wischt in der kalten Brandung des Kunstlichts apathisch Blutlachen mit einem Handtuch auf, bis nur noch ein hellrosa Fleck auf den Fliesen zurückbleibt.

Ich frage den Arzt, wie er all das Leid aushält, die Bilder, die sich in seinem Kopf eingenistet haben müssen. Wie er seine Seele kalibriert. Er schaut mich verwundert an, als hätte er noch nie über diese Frage nachgedacht. «Für so etwas habe ich keine Zeit», sagt er. «Wir müssen weitermachen, bis wir Bashar besiegt haben. Wenn der Krieg vorbei ist, kann ich mich um meine Seele kümmern. Falls ich überlebe.»

Nachts begleite ich den kleinen Doktor bei Hausbesuchen. Da das Krankenhaus fast täglich beschossen wird, schickt er seine Patienten gleich nach der OP zurück in die eigenen vier Wände. Das sei sicherer, zumindest für die Patienten. Nachts, immer nur nachts. Die Dunkelheit ist der grösste Verbündete der Menschen hier, wenn die Scharfschützen nicht sehen können, was in der Stadt passiert. Dann fährt er ohne Scheinwerferlicht durch die dunklen Strassen, geht von Haus zu Haus, wechselt Verbände, legt Infusionen und pult Kugeln aus Gliedmassen. Oft werde ich gebeten, im Flur eines Mietshauses zu warten, bis der Arzt wieder aus einer Wohnung tritt. Keine Interviews, Fotos schon gar nicht. Dann sitze ich auf den Stufen des Treppenhauses, eine Frau bringt mir gesüssten Tee und Kekse, entschuldigt sich für die Unfreundlichkeit. Aber ich solle bitteschön verstehen, dass man die Identität der Anwohner schützen müsse. Die Angst, dass die syrische Regierung die westliche Presse beobachtet und die Armee Zabadani stürmen könnte, sitzt tief.

Im Krankenhaus treffe ich auch Abu Hamid, den einzigen Ambulanzfahrer und Doktor al-Ghaibars verlängerten Arm, der sich einen Spass daraus macht, den Kugeln der Scharfschützen auszuweichen, wenn er die Verletzten und Toten des Tages einsammelt. Täglich liefert er sich ein Wettrennen mit dem Tod. Die Ambulanz, ein weisser Kastenwagen, hat Einschusslöcher im Kotflügel, in der Windschutzscheibe, in der Motorhaube und Blutflecken auf der Ladefläche. Mit Freunden hat er gewettet, dass er den Krieg überlebt. Seine Freunde sind eher skeptisch.

Es wird Zeit, Zabadani zu verlassen. In den letzten Tagen wurde der Beschuss aus den Bergen immer heftiger. Einmal donnerte ein Kampfflugzeug über die Stadt und feuerte drei Raketen in ein Wohngebiet. Unbekannte erschossen den Vorsitzenden der provisorischen Stadtverwaltung. Abu Jaber befürchtet, dass Asads Truppen die Stadt einnehmen möchten. «Besser, du verlässt uns, Habibi», sagt er. Doch das ist schwieriger als gedacht. Einer der Schmuggler, die mich nach Zabadani brachten, wurde bei einer Razzia verhaftet. Gerüchte machen die Runde, dass seine Kumpels mich den Regierungstruppen zum Tausch anbieten wollen. Abu Jaber ist besorgt. Von nun an darf ich seine Wohnung nicht mehr verlassen. Am Eingang stehen Bewaffnete, die mich beschützen sollen. «Du sollst entführt werden, mein Freund. Aber keine Sorge, wir bekommen dich heil aus der Stadt», sagt er.

Entführungen sind inzwischen für ausländische Reporter zur grössten Gefahr in Syrien geworden. Allein im September und Oktober wurden mindestens achtzehn Journalisten entführt. Andere, wie die freien Reporter Austin Tice und James Foley, sind seit über einem Jahr spurlos verschwunden. Noch vor wenigen Monaten galten Journalisten als Verbündete und Freunde, ein Sprachrohr zur Welt, die sich immer weniger für Syrien interessierte. Das änderte sich, als die Islamisten die Macht in vielen Teilen Syriens übernahmen. In der kruden Weltanschauung von al-Kaida und Co. sind Journalisten Spione des Westens, ungläubig noch dazu. Verbrecherbanden versprechen sich üppige Lösegelder. Oder sie müssen einfach nur als Sündenböcke für enttäuschte Rebellengruppen herhalten, die ihre Wut über die Tatenlosigkeit des Westens an Reportern auslassen. Im November 2013 exekutieren Islamisten erstmals einen ausländischen Reporter, einen Iraker, vor laufender Kamera.

Drei Tage Warten. Drei Tage voller Angst und Ungewissheit. Immerhin: Momin beschützt mich, ist mein ständiger Begleiter. In der Zwischenzeit verhandelt Abu Jaber mit anderen Schmugglern. Doch kaum jemand will das Risiko eingehen, da die syrische Armee den Belagerungsring um die Stadt immer enger zieht. «Mafi mushkillah, mafi mushkillah», kein Problem, wiederholt Abu Jaber wie ein Mantra. Es soll mich beruhigen und bewirkt doch nur das Gegenteil. In der Nacht des dritten Tages hält ein Pritschenwagen. «Schnell, schnell», ruft Abu Jaber. «Steig ein, niemand darf dich sehen.» Auch Momin ist da, um sich zu verabschieden. Ich hole ein paar verknitterte Dollarscheine aus meiner Tasche, will sie Abu Jaber geben, als kleine Entschädigung dafür, dass er mich zwei Wochen lang in seinem Haus aufgenommen hat, mich beschützte und mir zu essen gab. «Du gehörst zur Familie, Christ. Ich will dein Geld nicht.» Basta. Wir umarmen uns. «In zwei Stunden, insh’Allah, bist du in Sicherheit.» Inzwischen weiss auch ich, dass dies eine gutgemeinte Lüge ist.