Zeitenspiegel Reportagen

Clowngeschichten

Erschienen in "Landluft", Nr. 4

Von Autor Jan Rübel

Sie sind lustig, aber vor allem liebevoll und einfühlsam: Unterwegs mit Clowns der etwas anderen Art

Rocky Balboa knipst sich an mit Schlägen an den Kopf. Hatte Robert Downey Junior einen großen Auftritt, fuhr er sich hoch mit Kokain. Und Jörg Danner setzt eine rote Nase auf.

Er steht zwischen zwei grauen Wänden auf unwesentlich hellerem Estrich in einer Umkleidekabine. Gerade hatte er seine graue Jeans akkurat gefaltet und an einen Bügel gehängt. Zwei rote Schminkkreise rasch auf die Wangen, hinein in gelbe Schuhe und bunte Hosenträger vorgeschnallt, dann tritt er in den Flur des Kellers im Pflegeheim Otto-Mühlschlegel-Haus in Endersbach.

Dort wartet eine Frau in rosa Stiefeln, rosa Hose und Blümchenbluse. „Hallohallo“, haucht er. „Schön, dass du da bist“, flötet Melanie Stephenson zurück. Beide fassen sich an den Händen, dann ein Griff in die Taschen, sie zählen laut „eins, zwei, drei“ – und setzten sich rote Nasen auf. In diesem Moment verwandelt sich Melanie Stephenson in Klementine und Jörg Danner in Brokkoli Knoblauch.

Sie sind jetzt Clowns. Clowns sind anders als andere, aber diese beiden Clowns sind auch anders als andere Clowns: Sie schreien nicht vor großem Publikum. Sie hauen und hüpfen nicht, ziehen keine Grimassen bis zur Decke. Klementine und Brokkoli Knoblauch sind eher stille, ganz liebe Clowns. Und ihr Publikum sitzt meist im Rollstuhl oder liegt im Bett. Vor einer Stunde noch hatte Jörg Danner in Winnenden über die Tastatur seines Computers die Heizungssysteme von 140 Gebäuden kontrolliert, im Musiksaal der Bodelschwinghschule die Temperatur mit einem Click um zwei Grad Celsius erhöht. Sein Blick aus dem Bürofenster der Paulinenstiftungsverwaltung war über die braunen Ziegeldächer zum 448 Meter hohen Haselstein geschweift, die Weinreben hinauf bis zur bewaldeten Spitze. Alles hatte dort seinen Platz. Alles war unter Kontrolle. All das gilt jetzt nicht mehr. Brokkoli Knoblauch und Klementine nehmen sich an der Hand und steigen zaghaft die Kellerstufen herauf. Was auf sie wartet, wissen sie nie.

Gleich im Erdgeschoss werden sie von zwei Männern abgefangen und aufgeregt in den Aufenthaltsraum gewunken. Die Männer umringen die Clowns und lachen, ohne dass ein Wort fällt; eine Dame dagegen sitzt abseits. Ihr Blick verliert sich im Nirgendwo. Frau M. schaut an Klementine auch stur vorbei, als sie ihr die Hand gibt. Ganz fest drückt Frau M. „Oh, du bist aber stark“, flüstert Klementine. Eine Träne rollt über die Wange von Frau M. „Bist du traurig?“, fragt Klementine mit großen Augen. Und zu Brokkoli: „Hast du ein Taschentuch? Also, den Ärmel nehme ich jetzt nicht.“ Liebevoll tupft sie Frau M. die Tränen aus dem Gesicht. An der Wand tickt eine Pendeluhr.

So geht es oft hier im Altenheim. Die beiden Clowns suchen kein großes Publikum, sondern den Vier-Augen-Kontakt. Sie gehen offen auf die Alten zu, nehmen ihre Hand, duzen sie. Vergangenheit und Zukunft sind plötzlich weit weg, das Heute dagegen ist alles und wird bestaunt. Im zweiten Stock des Otto-Mühlschlegel-Hauses leben viele Bewohner mit Demenz. Das mit der Außenwelt ist so eine Sache, der Kontakt mit ihr fällt so schwer. Auch zu den eigenen Gefühlen, da ist wenig Resonanz. Deshalb sind die Clowns jetzt hier. Sie sind schon alte Bekannte, werden erwartet, sogar erinnert und begrüßt. Und das von Menschen, deren Alltag ein Irrlauf ohne festen Halt ist, ein schemenhaftes Bild jagt das nächste.

„Oh, Walnüsse“, sagt die Frau L., als Klementine ihr kleines rotes Köfferchen öffnet und Kastanien, Nüsse und Kiefernzapfen zeigt. „Daraus haben wir früher Öl gemacht. Und die Zapfen, die haben wir im Krieg gesammelt und verbrannt. Die heizten gut.“ Klementine hat ihr ein Fenster in die Vergangenheit geöffnet. Im Fernseher läuft eine Doku über einen Eisbär, er läuft im Käfig auf und ab.

„Frau L., ich hab Aua. Da kennst du dich doch aus mit deinem Rücken. Brauch ich ein Pflaster?“ Melanie Stephenson plagt seit gestern ein Hexenschuss. Deshalb humpelt Klementine nun von Zimmer zu Zimmer, ruht sich aus auf den Rollatoren und ihrer optimalen Sitzhöhe.

Brokkoli holt ein Pflaster aus seinem Koffer und klebt es auf Klementines Rücken.

Frau L. lacht auf. „Aber das muss doch auf die Haut!“

„Aber so weiß ich, wo es wehtut“, insistiert Brokkoli.

Gleich nebenan liegt Frau W. im Bett, und das ist schon seltsam. Saust sie doch sonst, behelmt und in einer Art Rollgitter, ruhelos entlang der Gänge. Heute aber war ihr nach Horizontalem, schaut die beiden Clowns an wie alte Freunde. „Sollen wir dir was singen?“, fragt Klementine. Frau W. nickt mit den Augen. Brokkoli zückt eine Ukulele und holt Luft.

Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder,

und der Herbst beginnt.

Rote Blätter fallen, graue Nebel wallen,

kühler weht der Wind.

Als er aufschaut, ist Frau W. eingeschlafen. Klementine schaut ihn einen Moment lang an. Ohne die rote Nase arbeitet Jörg Danner, 46, als Techniker in der Sanierung und Wartung der Paulinenimmobilien. Melanie Stephenson, 43, ist Stützpädagogin in einer Kita. In ihrer Freizeit aber, zweimal im Monat, schlüpfen sie in die Schuhe von Brokkoli Knoblauch und Klementine. Dann sind sie für die Alten im Otto-Mühlschlegel-Haus da. Sind wie sie. Spotten der Realität. Antworten auf die Sinnlosigkeit der Demenz mit Lachen und Weinen, nehmen dem Tag im Heim sein Gewicht. Leicht wird es dann für eineinhalb Stunden, Erinnerungen und Emotionen kommen hoch.

Diese Arbeit macht man nicht einfach so. Eineinhalb Jahre lang haben sie sich ausbilden lassen, immer ein Wochenende lang im Monat; seit diesem März sind sie im Einsatz. Finanziert hat diese Lehre die Stiftung der Kreissparkasse Waiblingen. Deren Geschäftsführer hatte zeitgleich mit Simon Hayler vom Lions Club Remstal die Idee dazu. „Clowns in Krankenhäusern, für Kinder – das war uns bekannt“, erinnert sich Simon Hayler am Telefon. „Aber gerade auch für ältere Menschen ist das Spiel der Clowns besonders wertvoll und intensiv“. Eines kam zum anderen, man stellte Bedarf fest und vernetzte sich. 2014 gründete sich der Verein „Clowns mit Herz Rems-Murr e.V.“. Der sorgt seitdem dafür, dass die insgesamt 14 Clowns im Einsatz sind; jeder von ihnen erhält für einen Nachmittag zum Beispiel hier in Endersbach eine Aufwandsentschädigung von etwa hundert Euro; für Anfahrt, Kostüme und Schminke sorgen die Clowns selbst. Die Vereinsaktiven haben einen Traum. Die Arbeit der Clowns soll sich durch viele Mitglieder finanzieren, der Jahresmindestbeitrag liegt bei 30 Euro. „Eigentlich wäre es ja Aufgabe der Krankenkassen, solche Einsätze zu ermöglichen“, sagt Simon Hayler, der nun für die Mittelbeschaffung im Vorstand des Vereins tätig ist. „Es ist ja wichtig.“ Der Rems-Murr-Kreis sei der einzige in ganz Baden-Württemberg, in dem sich solch eine Initiative gegründet hat.

Der Entschluss zum ehrenamtlichen Engagement als Clown kam bei Melanie Stephenson und Jörg Danner spontan, sie wurden gefragt, ob sie nicht mitmachen wollen. „Mir würde etwas fehlen ohne“, sagt Melanie Stephenson heute. Oder ist es Klementine? Seitdem er hier ist, sagt Jörg Danner, sehe er seinen Job als Techniker gelassener: Wenn Dinge anders laufen als sie sollten und er sie nicht beeinflussen kann, „dann ist es halt so“. Oder spricht jetzt Brokkoli Knoblauch?

Bevor Klementine ein Zimmer betritt, klopft sie vorsichtig. Überhaupt kommen beide Clowns leise daher, Brokkoli anfangs zaghaft und dann herzlich, Klementine sanft und neugierig zugleich. Ihre weißen Halbmonde mit blauem Rand über den Augen weiten sich, als sie die neue Eckholzbank bei Frau K. erblickt. „Oh, hast du das gemacht, weil du wusstest, dass wir kommen?“ Und zückt ein eigroßes Herz aus rotem Filz. „Und Sie wissen gar nicht, ob ich das verdient habe“, erwidert Frau K. Frau K. ist eine Dame. Noch schlägt sie die Schlacht gegen die vielen Eiweißpartikel im Inneren ihres Kopfes. Die sich in diesem leicht gebogenen Stück Hirn auf Höhe der Ohren ansammeln und im Hippocampus eine Nervenzelle nach der anderen töten - den Kurzzeitspeicher des Gehirns lahmzulegen versuchen. Frau K. bewahrt die Fassung, und auch die Fassade, zumindest für ein paar Minuten.

Brokkoli Knoblauch fragt: „Darf ich ein Umarmerle machen?“

„Da muss ich erst die Nase putzen.“

Klementine: „Braucht ihr einen Tusch? Darf ich auch?“

Brokkoli Knoblauch: „Hab keinen mehr. Frau K., dürfen wir wiederkommen?“

„Ja, vielleicht. Dieses Jahr nicht mehr.“

Wie alt ist Frau K.? „Ich bin 1932 geboren“, sagt sie, als sie zur Tür geleitet, „rechnen Sie sich das mal aus…“ Draußen auf dem Flur begegnet ihnen Frau J. „Fünf Runden morgens, fünf Runden abends“, ruft sie ihnen am Rollator zu und lacht.

Am Ende der Station, an der Treppe nach unten, sitzen zwei Frauen in ihren Rollstühlen, als hätten sie auf die Clowns gewartet. Frau R. schaut Brokkoli mit großen ernsten Augen an, hebt in Zeitlupentempo beide Hände und greift nach dem Luftballon, den er aufgeblasen hat. Beide legen ihn sich langsam gegenseitig in die Hände, eine Geschwindigkeit wie ein Ritual. Frau N. neben ihr schreckt plötzlich auf, als sie sich zur Treppe wenden. „Tschüß“, haucht sie. An diesem Spätnachmittag, als sich die Sonne neigt, ist dies für heute ihr erstes Wort. Melanie Stephenson und Jörg Danner verlassen ihre Umkleidekabinen im Keller und treten draußen auf den Vorhof. Die Stoppelfelder im Rücken tragen sattes Gelb, hinauf zum schon bunten Aichwald, und der Herbst beginnt. Rote Blätter fallen, graue Nebel wallen, kühler weht der Wind.