Zeitenspiegel Reportagen

Der neue kalte Krieg

Erschienen im Focus 39/2019 am 21.09.2019

Von Autor Bernd Hauser

Amerikaner, Russen und Chinesen entdecken die strategische Bedeutung Grönlands und buhlen um Einfluss in der Region. Dabei träumen die Inselbewohner von der Unabhängigkeit.

Johannes Heilmann, 71, sitzt in einer Jolle im Hafen von Nuuk und repariert seine Leinen. Die Arbeit geht ihm wie automatisch von der Hand; seit einem halben Jahrhundert ist er Fischer. Seinen Namen verdankt er einem dänischen Kaufmann, der vor 200 Jahren in Grönland siedelte und zum Stammvater aller 600 Heilmanns auf der Insel wurde.

Auch an Wintertagen, an denen sich die Sonne nur vier Stunden lang blicken lässt, fährt der Fischer in seinem offenen Boot hinaus, aufmerksam den Blick zum Himmel gerichtet, ob einer der gefürchteten Stürme aufzieht. Jetzt, im Sommer, sind die grönländischen Küstenfischer fast rund um die Uhr draußen, um das Tageslicht auszunutzen. An guten Tagen gehen Heilmann bis zu 300 Kilogramm Kabeljau an den Haken. Später will er ein Stück den Fjord hinauf, um in der Tundra Krähenbeeren zu sammeln. Die schwarzen Früchte werden getrocknet und sind Vitaminlieferanten in der langen dunklen Jahreszeit. „Das Boot werde ich erst aufgeben, wenn ich todkrank bin“, sagt Heilmann und lächelt mit einem fast zahnlosen Mund. „Für mich bedeutet das Wasser Freiheit: Hier bestimme ich ganz allein.“

Selbst über seine Geschicke zu entscheiden: Das ist grönländisches Lebensgefühl und nicht nur für Heilmann das höchste Glück. Alle maßgeblichen Parteien in Grönland wollen mehr als Autonomie im dänischen Königreich, sie wollen die volle Selbstbestimmung mit eigener Sicherheits- und Außenpolitik.

Doch wie soll das gehen auf einem Staatsgebiet, das sechsmal so groß ist wie Deutschland, aber gerade so viele Einwohner hat wie Frankfurt an der Oder? Die Waffen der Grönländer sind Jagdflinten und Harpunen, wie wollen sie ihre Eigenständigkeit und die 44 000 Kilometer Küsten schützen? Und vor allem: Die Subventionen aus Dänemark machen die Hälfte der Staatseinnahmen aus, wie wollen sie ohne diese Stütze klarkommen?

Egal, für die Grönländer ist die Unabhängigkeit so etwas wie eine Verheißung, die alle Probleme löst, auch wenn sie vielleicht in weiter Ferne liegt. Angebote wie das von US-Präsident Donald Trump vor wenigen Wochen kommen da gar nicht gut an. Amerika könne Grönland doch den Dänen abkaufen, schlug der US-Präsident vor. „Im Grunde wäre es ein großes Immobiliengeschäft.“ Ein Teil der USA werden? „Nein, danke!“, sagt Fischer Heilmann kopfschüttelnd. „Wir sind keine Kolonie. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei.“

Aus seinen Sätzen klingt ein Gefühl der Erniedrigung über Generationen. Symptomatisch war die Reaktion von Pele Broberg, einem Politiker der Partei Naleraq, deren zentrales Ziel die Unabhängigkeit ist: „Werden wir dann auch in Reservate gesteckt wie die Urbevölkerung in Alaska?“

Als die Amerikaner in Thule im Nordwesten Grönlands im Kalten Krieg 1951 eine Militärbasis aufbauten, siedelte die dänische Regierung die lokale Bevölkerung zwangsweise um. Später stellten die USA Atomwaffen auf, ohne die dänische und grönländische Öffentlichkeit zu informieren. Auch Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, zu Besuch in Nuuk, reagierte brüskiert auf Trumps Offerte. Das Kaufgesuch sei eine absurde Diskussion. Trump cancelte daraufhin seinen für September geplanten Staatsbesuch.

Dabei stehen gerade die Dänen treu wie kaum eine andere europäische Nation an der Seite der USA. Den Krieg in Afghanistan bezahlte das Land mit dem Leben von 43 Soldaten – mehr als alle anderen Alliierten, gemessen an der Gesamtbevölkerung. Für Grönländer und Dänen ist die Auseinandersetzung mehr als eine abstruse Posse. Sie sehen darin einen Weckruf. Für alle Welt sichtbar, rückt die Insel endgültig ins Zentrum der Geopolitik. Amerikaner streiten mit Russen und Chinesen um Einfluss und Macht in der Arktis. Es ist ein Rückfall in Denk- und Handlungsmuster des Kalten Krieges. „Die Radarstation in Thule ist für die Sicherheit Amerikas sehr wichtig“, erklärt Jon Rahbek-Clemmensen, Politikwissenschaftler an der dänischen Verteidigungsakademie. „Falls es zu einem Krieg kommen sollte, werden die Russen ihre Raketen über den Nordpol hinweg nach Amerika schicken. Die Basis in Thule soll vor diesen Raketen warnen, damit die Amerikaner sie abschießen und Vergeltungsschläge einleiten können.“ Derzeit baut Russland in seinem Teil der Arktis Militärbasen auf, die näher an Grönland heranrücken, darunter Nagurskoje auf den Franz-Josef-Land-Inseln. Von dort aus könnten russische Luftangriffe auf Thule möglich werden und damit eine riesige Lücke in die Früherkennung reißen.

Die Amerikaner wollen deshalb Thule besser schützen, was beispielsweise mit Boden-Luft-Raketen in der Nähe der Basis möglich wäre. „Und es braucht mindestens zwei Flugplätze in Grönland, von denen modernste Kampfflugzeuge operieren können“, sagt Rahbek-Clemmensen. „Bislang können sie nur auf dem zentralen Flughafen in Kangerlussuaq starten und landen.“

Außerdem würden die Russen in einem Krieg gegen den Westen versuchen, US-Konvois mit Nachschub für Europa zu versenken. Deshalb gehe es den USA darum, russische U-Boote überwachen zu können, die durch die Dänemarkstraße zwischen Grönland und Island vorstoßen wollen. Diese Überwachung könnten Flugzeuge übernehmen, die in Grönland stationiert sind. Solche militärischen Investitionen ließen sich leichter realisieren, wenn man sich nicht mit Kopenhagen abstimmen müsste. „Wir treten in ein neues Zeitalter des strategischen Engagements ein (…) mit neuen Bedrohungen für die Arktis (…) und unsere Interessen in der Region“, stellte US-Außenminister Mike Pompeo in einer Rede vor dem Arktischen Rat im Mai dieses Jahres fest.

Mit mindestens so viel Argwohn wie Russland betrachten die Amerikaner mittlerweile das Treiben der Chinesen, auch wenn sich dieses noch auf Investitionen in die Infrastruktur beschränkt. „Schon im Zweiten Weltkrieg war Grönland wichtig für die USA“, sagt Minenexperte Ole Christiansen, 62, im Café des Hotels „Hans Egede“ in Nuuk. Der Geologe, ausgebildet an der Universität im dänischen Aarhus, berät die Gemeinde Sermersooq, die weite Teile Südgrönlands einnimmt und eineinhalbmal so groß wie Deutschland ist. In Grönland gab es ab 1940 eine Kryolith-Mine. Das Mineral war extrem wichtig für die Aluminiumproduktion – und damit für Rümpfe und Tragflächen von US-Bombern und -Jagdflugzeugen.

Viele der wertvollen Rohstoffe schlummern im grönländischen Untergrund. Wenn die Klimaerwärmung weiter voranschreitet und das Eis an den Küsten und in den Fjorden schmilzt, lassen sie sich leichter ausbeuten. Chinesische Investoren beteiligen sich nun an der Prospektion durch internationale Firmen. Und sie boten den Grönländern Kredite für den Bau zweier Flughäfen. „Vielleicht wollten sie einfach sehen, wie weit sie kommen, ohne dass die Amerikaner reagieren“, sagt Ole Christiansen. Noch floss kein chinesisches Geld – die dänische Regierung intervenierte nämlich im vorigen Jahr und gab selbst rund 100 Millionen Euro für den Bau. Schon 2016 versuchte ein chinesischer Investor im Süden des Landes die von den Dänen aufgegebene Militärbasis Grönnedal zu kaufen, angeblich für zivile Zwecke. Die dänische Regierung verhinderte auch diesen Plan.

In Kopenhagen wie in Washington fürchtet man, dass sich in der Weite des Landes vieles heimlich vorantreiben lässt, wenn man erst mal einen Stützpunkt besitzt. Auch Militärisches. Zudem, glauben die beiden Arktis-Anrainer, könnte China durch relativ kleine Investitionen in Infrastruktur und Arbeitsplätze Einfluss auf die Regierung Grönlands gewinnen. China liegt zwar 1400 Kilometer von der Arktis entfernt, betrachtet die Region aber als Teil der polaren Seidenstraße. Dabei ist Grönland als Schatzkammer noch eine unsichere Wette auf die Zukunft. In Betrieb sind nur eine Feldspat- und eine Rubinmine. China ist an drei Erschließungsprojekten beteiligt, in denen einmal Zink, Eisen, seltene Erden und Uran abgebaut werden sollen. Die Minenentwicklung kommt nicht richtig voran, was nur teilweise an niedrigen Weltmarktpreisen liegt. „Unsere Wettbewerbsfähigkeit ist gering“, erklärt Geologe Christiansen. „Denn in der Arktis ist es wahnsinnig teuer, Minen mit der nötigen Infrastruktur wie Häfen, Straßen und Kraftwerke anzulegen.“ Außerdem haben die Grönländer Angst, von den Ausländern über den Tisch gezogen zu werden. „Umweltschutzauflagen, Arbeitsplätze: Es gibt sehr viele Forderungen an die Firmen, bevor sie einen Betrieb eröffnen dürfen“, sagt der Experte.

Also sind die Grönländer weiter von Shrimps und Fischen abhängig, die 90 Prozent der Exporte ausmachen – und von den Subventionen aus Kopenhagen, pro Jahr rund 500 Millionen Euro. Das trifft den Stolz vieler Grönländer. „Die Dänen denken, dass wir Grönländer bei ihnen schmarotzen“, klagt Kimmernaq Kjeldsen, 39. Als Schauspielerin ist sie am Nationaltheater in Nuuk engagiert, als Popsängerin tritt sie auch im Kopenhagener Tivoli auf. Aber sich deshalb den USA zuwenden? „Auf keinen Fall!“, sagt die Schauspielerin, die den Aufnäher mit der US-Flagge auf ihrem Armeeparka überklebt hat. „Die USA sind so groß, dass sie uns einfach übernehmen würden, wir könnten nur verlieren“, sagt Kjeldsen. „Natürlich bin ich für unseren Wohlfahrtsstaat, für frei zugängliche Ausbildungen, eine gute Krankenversicherung.“ Wer in Grönland ernsthaft erkrankt, wird nach Dänemark geflogen, auch Fischer Heilmanns krebskranke Frau wurde im Kopenhagener Reichskrankenhaus behandelt. Krankenschwestern und Ärzte sind meist Dänen. Die Unterrichtssprache an den Gymnasien ist de facto Dänisch, viele Lehrer kommen aus Dänemark. Wie die meisten Spezialisten in Justiz und Verwaltung. Selbst die Zeitungen, in denen Artikel zweisprachig erscheinen, werden in Dänemark gedruckt und nach Grönland geflogen. So wie jeder Liter Frischmilch und jede Salatgurke. „Wir schaffen es nicht allein“, sagt Kimmernaq Kjeldsen. „Jedenfalls nicht in den nächsten zehn Jahren.“

Für die Dänen ist Grönland jedoch mehr als eine finanzielle Verpflichtung. Es ist auch Symbol der einstigen Größe als Seefahrer- und Handelsnation. Und ein Faustpfand, um im Arktischen Rat von den Mächtigen dieser Welt ernst genommen zu werden. So läuft in Ostgrönland eine Eliteeinheit mit 80 Schlittenhunden regelmäßig Streife, die sogenannte Sirius- Patrouille, auch wenn sie in Zeiten von Satelliten und Überwachungsflugzeugen kaum militärische Bedeutung hat. Doch die Dänen wollen ihren Anspruch auf Grönland als Teil der Reichsgemeinschaft unterstreichen. Schließlich verloren sie schon Island im Jahr 1944.

Vielleicht könne die Insel ja ein Vorbild für Grönland werden, um es irgendwann ohne die Dänen zu schaffen, sagt Heilmann. „Wie die Isländer sollten wir uns auf die Fischerei besinnen. Und auf Tourismus.“ Doch letztlich sind der Fischer und sein kleines Land unberechenbaren Elementen ausgeliefert, in der Natur wie in der Politik. In Washington vertreibt die Wahlhelfer-Organisation der Republikaner NRCC jetzt T-Shirts, auf denen Umrisskarten der USA und Grönlands in den Farben des Sternenbanners gedruckt sind. „Unterstützt Präsident Trump in seinen Anstrengungen, Amerika wachsen zu lassen!“, appellieren die Fundraiser. Der Kampf um die Arktis geht weiter.

Mitarbeit: Bibi Nathansen