Zeitenspiegel Reportagen

Der Notarzt in meiner Brust

Von Autor Erdmann Wingert

Alle fünf Minuten kippt in Deutschland ein herzkranker Mensch um. Ein winziges Wunderwerk sorgt dafür, dass einige wieder aufstehen.

Der Engel, der mein Leben rettete, war unrasiert und sprach gebrochen deutsch. „Wird alles gut!“ sagte er und pumpte mit beiden Händen meinen Brustkorb auf und nieder. Ich lag auf dem Rücken und starrte in die entsetzten Gesichter der Leute, die mich umringten. Hinter ihren Köpfen stand ein Gewitterhimmel, Donner grollte über Hamburg und von der nächsten Kreuzung heulte ein Rettungswagens heran.

„Wirst sehen, bald alles gut“, wiederholte mein Engel, richtete sich auf, klopfte den Straßenstaub von den Knien und verschwand im Bahnhof Sternschanze. Erst jetzt spürte ich die Beule an meinem Hinterkopf, Blut sickerte in meinen Kragen. Ich musste so plötzlich das Bewusstsein verloren haben, dass ich nicht mehr gespürt hatte, wie ich aufgeschlagen war.

Keine Frage, warum es mich umgehauen hatte. Seit einem Infarkt vor acht Jahren stolperte mein Herz, es hatte sich auf ungesunde Weise vergrößert und besaß nur noch eine Pumpleistung, die weit unter dreißig Prozent lag. In solchen Fällen genügt es, wenn man gestresst ist und durch eine Gewitterschwüle zum Bahnhof hastet - schon nähert man sich dem Zustand, der „Sekundenherztod“ heißt und allein in Deutschland jedes Jahr rund einhunderttausend Menschenleben fordert.

Einhunderttausend! Das sind mehr als alle, die an Krebs sterben, ist mit Abstand die häufigste Todesart in Deutschland. Auf eine übersichtliche Zahl reduziert: Alle acht Minuten fällt hierzulande ein herzkranker Zeitgenosse um und ist innerhalb weniger Minuten hin - wenn nicht schleunigst ein Engel um die Ecke biegt, der –wie in meinem Fall– etwas von Herzmassage versteht. Doch solches Glück im Unglück wird den Betroffenen nur in maximal acht von hundert Fällen beschert, wobei sich die Chance zu überleben mit jeder Minute Wartezeit um zehn Prozent verringert.

Mit solchen Risiken vor Augen erhöht sich der Stress und damit wiederum die Wahrscheinlichkeit eines plötzlichen Herztods. Schon vor meinem Sturz spielte Angst mit, wenn ich mit meinen Kindern, dem Enkel oder Freunden unterwegs war. Da genügten ein Schwindelgefühl, ein Druck aufs Brustbein, ein kaum merkliches Herzblubbern, das eine Rhythmusstörung andeutete, schon fürchtete ich, im nächsten Moment umzukippen und meinen Lieben einen Todesschrecken einzujagen.

Der Engel, der mich inzwischen vor Angstpartien dieser Art bewahrt, ist etwas größer als eine Streichholzschachtel und wohnt eine Fingerbreite unter meinem Schlüsselbein. Als ich ihn zum ersten Mal sah, lag er in der Hand von Anselm Schaumann, Oberarzt an der Hamburger Asklepios-Klinik St. Georg. Ein silbrig graues Gerät, unscheinbar und doch im Wert eines Mittelklassewagens. Denn das Ding hat es in sich, ist mehr als nur ein Schrittmacher, der mit regelmäßigen Stromstößen mein lahmendes Herz auf Trab bringt. Das winzige Wunderwerk, das mir Dr. Schaumann in einer dreistündigen Operation einsetzte, kann noch weitaus mehr. Es registriert über drei Sonden, die es mit dem Herzen verkabeln, jede Unregelmäßigkeit, bremst zu schnelle Schläge aus und schießt seine geballte elektrische Ladung ab, wenn das lebensgefährliche Kammerflimmern droht, die „Fibrillatio“ wie’s auf Latein heißt.

Rund zweihundertfünfzig dieser so genannten Defibrillatoren, kurz Defi genannt, platziert Dr. Schaumann pro Jahr in Brustkästen von herzschwachen Patienten, nach siebenjähriger Praxis ein Routineakt. Dennoch klingt immer noch Begeisterung mit, wenn er die Funktionen an Hand eines Kunststoffherzens demonstriert, das sich aufklappen und erkennen lässt, wie er die Sonden vom Defi aus durch Venen und Herzkammern zu den Stellen fädelt, wo sie ihre vorbeugende, im Notfall auch schockartige Wirkung ausüben können.

Da wird`s dem Patienten schon mal ein wenig mulmig, wenn ihm der Doktor die korkenzieherartige Platinspitze der Sonde unter die Nase hält und erklärt, wie man sie in den Herzmuskel dreht. „Einhakeln“, nennt er das und wenn der Patient bei diesem Wort zusammenzuckt, verdeutlicht er ihm an diversen Vorgänger-Modellen, die er aus einem Pappkarton kramt, den segensreichen Fortschritt der Defi-Technik, Groß wie eine Männerhand ist eines der Geräte, das er noch vor ein paar Jahren eingesetzt hat. „In die Bauchhöhle“, erklärt er lächelnd, „und die Sonden haben wir direkt ans Herz genäht.“

Ob genäht oder verhakelt, auch bei den modernen Mini-Defis gilt, dass man in den ersten Wochen nach der Operation keine Klimmzüge und ähnlich heftige Überkopfübungen machen darf, weil dadurch die Sonde aus ihrer Verankerung gerissen werden könnte. Eine gruselige Vorstellung! Sie ist vergessen, sobald der fünf Zentimeter lange Schnitt unterm Schlüsselbein vernarbt ist und man wieder soweit im Gleichgewicht ist, dass man sich aufs Rad schwingen darf. Oder wenn einem beim Treppensteigen nicht schon nach fünf Stufen schwarz vor Augen wird, bei Stress und Gewitter allenfalls ein Kribbeln in der Brust andeutet, dass der freundliche Fremdkörper überm Herzen eingegriffen und möglicherweise das Schlimmste verhütet hat. Aber selbst bei einem unkontrollierten Herzrasen mit bis zu fünfhundert Schlägen pro Minute hätte er ja noch ein letztes Mittel in der Reserve gehabt: Den Elektro-Schock, der mir bisher zum Glück erspart geblieben ist.

Man kennt diesen Effekt aus Horrorfilmen à la Frankenstein, meist aber aus Notarztserien: diese bügeleisenartigen Geräte, mit denen ein beherzter Doktor eine geballte Stromladung ins flimmernde Herz eines Bewusstlosen jagt. Inzwischen gibt es in Deutschland rund zehntausend externe Defibrillatoren, sie gehören zum Standard jedes Rettungswagens, hängen in Flughäfen, Bahnhöfen und vielen Kaufhäusern herum. Sogar im Freiburger Münster steht eines bereit - offenbar hat auch das Gottvertrauen der Kirche seine Grenzen.

Leider werden diese lebenswichtigen Geräte in Deutschland viel zu selten genutzt, wahrscheinlich weil kaum einer weiß, dass es sie gibt. Anderswo haben sie sich vielfach bewährt, unter anderem in den Kasinos von Las Vegas, wo sie an allen Ecken und Enden präsent sind, dazu Personal, das mit ihnen umgehen kann. Jeder zweite vom plötzlichen Herztod bedrohte Besucher wird dort per Elektroschock gerettet und somit als dankbarer Kunde erhalten.
Jedoch im Gegensatz zu meinem implantierten Defi mit seinem direkten Draht zum Herzen, müssen externe Geräte den Widerstand von Haut, Fleisch und Rippen überwinden und deshalb mit einer Stromstärke zuschlagen, bei der eine Haushaltssicherung durchknallen könnte. Entsprechend heftig gestaltet sich die Reaktion des Betroffenen, der sich unter den handtellergroßen Elektroden wie bei einer Teufelsaustreibung windet. Einschlägige Ratgeber warnen davor, ihn zu berühren, während er unter Strom steht. Dreihundertsechzig Joule – die dreißigfache Ladung eines Elektrozauns – könnten sogar einen Ochsen flachlegen.

Der kleine Notarzt über meinem Herzen käme mit dreißig Joule aus, wenn er überhaupt jemals eingreifen muss. Gut möglich, dass er weiterhin nur Bereitschaftsdienst schiebt, nicht zuletzt, weil ich ein braver Patient bin, der sich das Rauchen abgewöhnt hat und täglich eine Handvoll Pillen schluckt, die Pulsfrequenz und Cholestrinspiegel senkt, Blut verdünnt und Gefäße erweitert. Aber der wichtigste Schutzfaktor scheint mir die Tatsache zu sein, dass mein Defi ein minutiöses Tagebuch führt und lernfähig ist. Das grenzt an Zauberei, die ich alle halbe Jahr in der Ambulanz des Doktor Schaumann erlebe, wenn ich in bequemer Rückenlage neben seinem Monitor ruhe und eine ringförmige Apparatur auf meiner Brust die Daten aus dem winzigen Computer des Defis abruft, um sie in sein Programm einzugeben. Es heißt „Merlin“, wie der Mythen umwobene Magier, und bietet meinem Arzt die zauberhafte Möglichkeit, jede Rhythmusstörung der vergangenen Monate zu erkennen und zu analysieren, darunter auch solche, die ich gar nicht wahrgenommen habe. „Jeder bringt andere Störungen mit“, erklärt er, während er seinen Cursor durch endlose Datenreihen jagt. „Die Kunst besteht darin, den Defi auf jeden Patienten individuell einzustellen. Einer braucht mehr Stimulation, der andere weniger.“

So eingestimmt erkennt mein gelehriger Defi inzwischen ziemlich genau, ob der Aufstieg über vier Treppen oder eine krankhafte Störung meinen Pulsschlag erhöht hat, wartet ab, ob sich der Kreislauf beruhigt und schreitet erst ein, wenn die Frequenz über die kritische Marke von hundertachtzig Schlägen pro Minute steigt. In diesem Fall leitet er ein verblüffendes Überholmanöver ein: Mit genau dosierten Stromstößen erhöht er die Pulsfrequenz auf hundertneunzig und bremst sie aus dieser Führungsposition auf das Normalmaß von sechzig herunter.

Es lässt sich leben mit einem so klugen Kerlchen in der Brust, das nicht nur den Kreislauf, sondern auch das seelische Gleichgewicht stabilisiert. Denn das Herz ist ja mehr als nur ein Muskel, ist das Organ, dem wir Empfindungen aller Art zuordnen. Dankbarkeit gehört dazu, nur: wie dankt man einem grauen Kästchen, das im Verborgenen wirkt? Stattdessen würde ich lieber meinen Lebensretter ans Herz drücken, das unter seinen Händen wieder auferstanden ist. Doch wie’s mit Engeln so geht: Er ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Nur seine Prognose hat Bestand: „Wird alles wieder gut!“