Zeitenspiegel Reportagen

Der Perfektionist aus Baiersbronn

Von Autor Philipp Maußhardt

Harald Wohlfahrt ist Chefkoch in der „Traube-Tonbach“ im Schwarzwald, Deutschlands bestem Restaurant mit drei Michelin-Sternen seit 1992. Sein Küchengerät: die Pinzette.

Trauben wuchsen hier nie. Wie zum Victory-Zeichen ragen die bewaldeten Hänge zu beiden Seiten des Tonbachs hinauf. Ein tief eingeschnittenes Tal, früher nur von Flößern, Köhlern und Waldbauern bewohnt. Dort, wo die schmale Landstraße in einen Feldweg übergeht, frei nur noch „für landwirtschaftlichen Verkehr“, wird es heute für viele der großen Nobelkarossen recht eng beim Wenden. Die „Traube-Tonbach“ im Nordschwarzwald liegt in einer Sackgasse. Hier fährt man nicht zufällig vorbei - man ist am Ziel, wenn man das Hotel in einem Seitental der Murg nahe der Kleinstadt Baiersbronn endlich erreicht hat. Manche haben ein halbes Jahr auf einen freien Tisch an einem Samstagabend in der „Schwarzwaldstube“ gewartet - in Deutschlands bestem Restaurant, zumindest wenn man die Zahl der verliehenen Michelin-Sterne mit den Jahren multipliziert: Harald Wohlfahrt hält seit 1992 die mit drei Sternen höchste Auszeichnung eines Küchenchefs.

Wenn man aber hinauf steigt auf den nahen Überzwercherberg und, sollte es einmal nicht regnen, weit nach Westen blickt, dann sieht man bis ins Land der Trauben. Frankreich, das Elsass, ist nicht einmal 50 Luftkilometer von hier entfernt. „Mein Onkel fuhr fast täglich früh morgens hinunter auf den Markt nach Straßburg, um Gemüse zu kaufen, dessen Namen man hier oben nicht einmal aussprechen konnte.“ Das erzählt Heiner Finkbeiner, Patron der „Traube-Tonbach“. Denn wenn man über Harald Wohlfahrt spricht, muss man zunächst Heiner Finkbeiner sagen. Finkbeiner, der das Hotel 1977 von seinem Onkel übernahm, erbte auch das gesamte Personal. Und in der schon damals sterngekrönten Küche stand zu diesem Zeitpunkt ein junger Kerl im Hintergrund, gerade 25 Jahre alt, von dem Finkbeiner ahnte, dass Großes aus ihm wird. Finkbeiner machte Harald Wohlfahrt zwei Jahre später zu seinem Küchenchef.

Ein Vierteljahrhundert später sind die beiden noch immer ein Gespann: Finkbeiner hat aus dem heimeligen Familienhotel einen modernen Erholungstempel gemacht mit 320 Betten und Wohlfahrt bietet nicht zuletzt vielen Gästen den Anlass dafür, von weit, weit her in das abgelegene Schwarzwälder Tal zu reisen.

Wollte man dem Menschen Wohlfahrt ein charakteristisches Küchengerät zuordnen, die Pinzette würde passen. Der 51jährige ist nicht der quirlige Schneebesen, schon gar kein Fleischwolf. Weder Dampfkochtopf noch behäbiger Rührlöffel. Wenn alles um ihn herum brodelt, wenn die Kellner im Sekundentakt an den Ausgabeschalter zur Küche treten und wenn die Bestellzettel von bis zu vierzig Gästen alle zeitgleich an der Magnetleiste hängen, dann wird Wohlfahrt ganz ruhig. Steht wie fest gewachsen vor der Glasscheibe zum Service. Hat die Lesebrille ganz vorne auf der Nase sitzen. Schaut sich jeden Teller, der die Küche verlässt, ein letztes Mal an. Dann nimmt er aus der Brusttasche seiner Kochweste die Pinzette und legt den Thymianzweig noch etwas mittiger auf die Kartoffelrosette.

Wahrscheinlich muss man ein Pedant sein, um den Platz an der Spitze über längere Zeit zu behaupten. Junge, kreative Köche mit handwerklichem Können erheischen bisweilen schnell mal einen Stern oder etliche Hauben (Guide Millaut). Sie über die Jahre zu halten, ja gar die Höchstauszeichnung ein Jahrzehnt lang nicht wieder zu verlieren, ist eine ganz andere Sache. Seeteufel an Gewürztomatenkompott ist vielleicht nicht das einfallsreichste Gericht auf einer Gourmet-Speisekarte. Aber es ist mit Sicherheit nirgendwo auf der Welt solider hergestellt als eben bei Harald Wohlfahrt. „Einem optimalen Ausgangsprodukt zur höchsten Geschmacksentfaltung zu verhelfen, das ist der Antrieb meiner Leidenschaft“, nennt er das.

Dabei ist Leidenschaft ein Wort, das man dem badischen Küchenchef nicht so ohne weiteres abnimmt. Wohlfahrt ist keiner, der nach Außen sprüht. Eher ein Stiller der Branche: Keine eigene Fernsehsendung, wenige Kochbücher, kaum Werbung. Eine Ausnahme machte er für die Image-Kampagne seines geliebten Bundeslandes: In einem Werbetrailer („Wir können alles, außer hochdeutsch“) läuft er über eine Frühlingswiese und ergötzt sich am Duft der Kräuter. Dabei spricht Wohlfahrt fast dialektfrei die Worte: „Es darf nichts anbrennen.“ Bis auf ein kurzes Zwischenspiel in Eckart Witzigmanns Münchner Restaurant „Tantris“ in den 70er Jahren und einem Abstecher nach Frankreich lernte und arbeitete Wohlfahrt immer in Baden-Württemberg.

Leidenschaft nach Perfektion ist eben eine unspektakuläre Antriebskraft: Wenn die zehn Köche in seiner kleinen Küche hoch konzentriert an ihren Plätzen stehen und nur der klappernde Klang von Messern, Löffeln und Rührbesen die heilige Stille durchbricht, fühlt sich der Meister wohl. Geschwätz bei der Arbeit mag er gar nicht. „Ruhe jetzt!“, ruft er schon mal dazwischen, wenn einer in seiner Mannschaft mit dem Nachbarn zu plaudern beginnt. Nur nicht nachlässig werden! Immer die Höchstleistung bringen! Kochen ist bei ihm vor allem Handwerk, ist Maßarbeit nach DIN. Bevor Wohlfahrt ein neues Gericht auf die Karte setzt, hat er die Zutaten grammgenau mit der Digitalwaage abgestimmt und aufgeschrieben: „Ich habe zunächst eine Vorstellung, wie das schmecken wird. Dann tüftle ich so lange, bis es der Vorstellung am nächsten kommt.“

Wie ein Komponist, der den Klang einer Symphonie schon im Ohr hat, bevor das erste Instrument einsetzt, so entsteht bei ihm der Geschmack einer Sauce noch bevor er den Fond dazu ansetzt. Aus zwanzig Zutaten und mehr setzt sich am Ende so ein Rosmarinjus zusammen, der am Gaumen des Gastes explodiert, wie die Abschlussrakete eines Feuerwerks. „Nur wer sein Handwerk bis ins kleinste Detail beherrscht“, sagt der Perfektionist, „wird dauerhaft Erfolg haben.“

Viele Jungköche wären glücklich, in Wohlfahrts „Schwarzwaldstube“ als Tellerwäscher beschäftigt zu werden. Ein Zeugnis aus seiner Hand ist mehr wert als 1000 Diplome. Wohlfahrt ist inzwischen der Sterne-Produzent der Nation: 36 Sterne ehemaliger Schüler, so hat jemand ausgerechnet, strahlen inzwischen auch auf ihn zurück. Nicht einmal Eckart Witzigmann hat das geschafft.

Wohlfahrts Arbeitstag beginnt um 9 Uhr morgens mit einer Tasse Kaffee und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Während in der Küche der Souschef schon den Fond ansetzt, stimmt sich der Maitre im Vorraum des Restaurants mit den Wirtschaftsnachrichten auf den Tag ein. Das große Menü in der Schwarzwaldstube kostet 130 Euro, Weine noch nicht dazu gerechnet. Da wird aus konjunkturellen Dellen schnell eine Kochtopfbaisse, „obwohl“, wie Wohlfahrt den Preis verteidigt, „wir in Deutschland in der Spitzengastronomie weit unter dem Preisniveau von Frankreich oder den USA liegen.“ Tatsächlich ist mit Hummer, Kaviar &Co. nicht das große Geld zu machen, wenn man bei der Auswahl der Produkte auf höchste Qualität Wert legt. Ohne das Hotel im Rücken wäre wohl auch Wohlfahrt gezwungen, sich als Fernsehkoch zu verdingen oder als Werbekasperle für französischen Streichkäse aufzutreten.

Ab 11 Uhr werden nur noch wichtige Lieferanten auf Wohlfahrts Telefon in der Küche durch gestellt. Jetzt läuft der Motor allmählich auf Grundtouren und der Chef kontrolliert noch einmal die Tischreservierungen für das Mittagessen. Mit 35 Plätzen ist die Schwarzwaldstube das Gegenteil einer Massenabfertigung, macht rein rechnerisch einen Koch auf dreieinhalb Gäste. Wer zweimal im Jahr kommt, gilt hier bereits als „Stammgast“, von denen die Vorlieben und Unverträglichkeiten bekannt sind. „Kein Weizen“ steht auf der Reservierung von Tisch 7. Schade. Nie wird dieser Gast ermessen, welch Aroma die Ravioli von Sankt-Jakobsmuscheln in Safranbouillon mit Gemüse und Pistou entfalten.

Was jetzt in der Küche passiert, hat mit Kochen nichts mehr zu tun: Jedenfalls nicht mit dem, was ein Hobbykoch darunter versteht: Wie in einer Schwarzwälder Kuckucksuhr läuft ein Räderwerk ineinander. Ein Dutzend Teller wandert von hier nach dort, der eine wird vom Entremetier mit karamellisiertem Rotkohl belegt, während der Saucier aus vierzehn vorbereiteten Saucen schon den Wacholder-Pfefferjus aufnimmt, daneben brutzelt ein Hirschrücken-Medaillon und der Poissonier konzentriert sich auf seinen mit Blattpetersilie gebratenen Nagelrochen. Das ganze erinnert mehr an eine aufeinander abgestimmte Choreographie von Tänzern als an Handwerkerroutine.

Zwei mal am Tag, zur Mittags- und Abendzeit geben sie Vollgas in der Küche. Die meisten Köche sind jung, unter dreißig jedenfalls und sie alle träumen vom eigenen Stern dereinst im eigenen Restaurant. Dafür quälen sie sich – auf 60 Arbeitsstunden die Woche kommen sie leicht. Kein Wunder, dass die beiden Söhne Wohlfahrts nicht in Vaters Fußstapfen traten. „Die haben von klein an gesehen, was das heißt. Die haben mich ja kaum Zuhause erlebt.“

„Der Gast“, schrieb ein Kollege Wohlfahrts vor nicht lange Zeit, „ist der natürliche Feind des Kochs.“ Da lacht er. Obwohl… Auch er hat schon erlebt, dass sich Gäste beschwerten. „Meist über die Menge von Salz. Den einen war’s zuwenig, den anderen zuviel.“ Dann tritt er selbst an den Tisch, hört sich die Klage an und spricht ein Urteil. „Man muss selbstkritisch bleiben“, sagt er, „aber man muss sich als Koch auch nicht alles gefallen lassen.“ Einer von hundert frischen Hummern sei zäh, erzählt er. „Das kann man optisch nicht erkennen und hinein beißen kann ich ja auch nicht.“ Also nimmt er in diesem seltenen Fall den Teller mit dem Ausdruck des Bedauerns und einer Erklärung über die Natur des Hummers zurück und bietet Ersatz. Nur einmal habe eine Gästin auch dann noch nicht aufgehört zu meckern. „Als sie das fünfte Mal und immer lauter sagte, ‚der Hummer war aber zäh’, habe ich sie gebeten, nie wieder in mein Restaurant zu kommen.“ Erwartungshaltung und Demut sind Brüder, die einen beide beim Besuch der Schwarzwaldstube begleiten sollten.

Wenn der Küchenchef gegen 23 Uhr die Honneurs im Restaurant gemacht, das Lob eingesammelt und sein Kochhemd gegen den zivilen Sakko ausgetauscht hat, läuft Wohlfahrt noch mit seinem Hund eine kleine nächtliche Runde durchs Tonbachtal. An was er dabei denkt? „Es ist vielleicht ein Defekt von mir, dass ich nicht leicht zufrieden bin. Ich denke sehr oft darüber nach, was wir noch besser machen könnten.“ Aber manchmal fällt ihm dazu dann einfach nichts ein.