Zeitenspiegel Reportagen

Die Ärzte von Mogadischu

Erschienen in "Geo", 2006

Von Autor Philipp Maußhardt

Mogadischu gilt als die gefährlichste Stadt der Welt. Weil seit fast zwanzig Jahren in der Hauptstadt Somalias keine reguläre Regierung mehr für Recht und Ordnung sorgt, hat sich Chaos und Gewalt breit gemacht. Verschiedene Clan-Milizen und Gruppen muslimischer Fundamentalisten haben die Stadt in Kampfzonen eingeteilt. Ihre Kämpfe tragen sie auf dem Rücken der Zivilbevölkerung aus. In dieser Situation haben sich eine Handvoll somalischer Ärzte bereit gefunden, ihre sicheren Posten im Ausland aufzugeben und mitten im Chaos ein Krankenhaus zu eröffnen.

Die Kugel, die am Vormittag des 7. Mai den Hals von Abdil Mohamed durchschlug, war nicht für ihn bestimmt. Der Zehnjährige hatte im umzäunten Hof vor der Wellblechhütte seiner Familie Ball gespielt, als ihn das verirrte Geschoss traf. Wortlos brach er zusammen; den Schrei seiner Mutter hörte er schon nicht mehr. Nun liegt er in Zimmer sieben des Hayat-Hospitals in Mogadischu. Zwei Ärzte wickeln vorsichtig den blutigen Verband ab, und Abdirahman Ahmed, Chirurg und Chef des Krankenhauses, sagt: „Es ist ein Wunder.“ Die Gewehrkugel ist zwischen Halsschlagader und Hohlvene eingedrungen, danach nur um Millimeter an Luft- und Speiseröhre vorbei geschossen und schließlich am anderen Halsende wieder ausgetreten. „Er wird wieder ganz gesund werden“, sagt Abdirahman zur Mutter, die auf dem Bettrand sitzt. Sie weint. Vor Erleichterung, vielleicht aber auch vor Verzweiflung: Weil dieser Krieg nicht aufhören will, weil es in dieser Stadt auch künftig keinen sicheren Ort für sie und ihre Kinder geben wird. Denn die rivalisierenden Banden haben selbst die Vorgärten der Wohnviertel zur Kampfzone erklärt, und die Projektile der Maschinengewehre durchdringen die dünnen Lehmwände der Hütten noch auf drei Kilometer Entfernung.

Auch Faduma Haran hat es getroffen, heute morgen, als sie gerade das Mittagessen kochte. Jetzt liegt sie im Zimmer sieben, zwei Betten neben dem kleinen Abdil, und wimmert vor Schmerzen. Die Kugel steckt noch in ihrem Oberschenkel, doch Faduma muss sich gedulden, sie wird erst am Nachmittag im kleinen Operationssaal der Klinik behandelt. Die Ärzte haben einfach zuviel zu tun. Allein heute sind 14 Verletzte eingeliefert worden, sämtliche 150 Betten der Klinik sind belegt. Im vergangenen Jahr haben die Chirurgen 846 Kugeln aus den Körpern ihrer Patienten geholt; die meisten von ihnen waren Frauen und Kinder. Schussverletzungen gehören zu den häufigsten Einlieferungsgründen, nach Typhus, Malaria und Diarrhoe. Es ist nicht leicht, alt zu werden in Mogadischu. Die Lebenserwartung liegt nicht einmal bei 47 Jahren, jedes vierte Kind stirbt vor Erreichen des sechsten Lebensjahrs.

Drei Krankenhäuser gibt es in Mogadischu; drei für 1,3 Millionen Einwohner. Das Keysaney im Norden und das Medina im Süden der Stadt werden vom Roten Kreuz mit Medikamenten und medizinischem Gerät versorgt. Die Hayat-Klinik dagegen, die etwa auf halbem Wege zwischen beiden liegt, bekommt keinerlei regelmäßige Unterstützung von ausländischen Hilfsorganisationen. Ihre Besitzer sind somalische Ärzte, die bis vor wenigen Jahren im Ausland lebten, in Sicherheit und auf teils gut dotierten Posten. All das haben sie aufgegeben, um in ihre Heimat zurückzukehren. Ihre gesamten Ersparnisse – mehr als eine Million Euro – investierten sie in die Gründung und Ausstattung einer privaten Klinik.

„Hayat“ heißt Leben. Der Preis für ein Leben in Mogadischu beträgt zwischen 20 und 50 Cent. Soviel kostet es, unversehrt eine Straßensperre zwischen den Einflussgebieten zweier Clans zu passieren. Bewaffnete junge Männer bewachen die „Grenzen“, die oft nur ein quer über die Straße gelegter Baumstamm markiert.

Es gibt Zeiten, da tut Mogadischu so, als wäre es eine ganz normale Stadt. Dann füllen die Händler auf dem Bakara Markt im Zentrum ihre Stände auf mit chinesischen Plastikeimern, Shampoo in Literflaschen und Großpackungen Spaghetti – lauter Waren, die über Dubai mit kleinen Frachtschiffen ins Land kommen. Dann ist es nachts so ruhig, dass die Bewohner Mogadischus bis Sonnenaufgang schlafen können. Doch die Ruhe dauert immer nur wenige Wochen, und sie ist stets von Spannung erfüllt, wie die Luft vor einem Gewitter. Unablässig belauern sich die verfeindeten Milizen, die einzelne Stadtviertel, manchmal auch nur drei Straßenzüge beherrschen.

Eine Maschinengewehrsalve am Sonntagnachmittag, niemand weiß, von wem, hat die letzte Feuerpause beendet; und seitdem sind die Menschen längst auf den Beinen, wenn der Weckruf des Muezzins ertönt und die Hähne in den Vorgärten schreien. Beim ersten matten Schimmer, der Hütten und Ruinen als Schemen erkennen lässt, bricht ohrenbetäubender Lärm los; MG-Salven wechseln sich ab mit Einschlägen von Granaten und Mörsern. Die Kämpfe sind heftiger als in den Monaten zuvor, so, als suchten die verfeindeten Gruppen dieses Mal nach einer endgültigen Entscheidung. Die Hauptfront verläuft zwischen Warlords auf der einen Seite und islamischen Milizen auf der anderen. Warlords, „Kriegsfürsten“, nennen sich die durch Drogenhandel und andere Geschäfte mächtig gewordenen Clanchefs. Im Kampf um den Erhalt ihrer Vorherrschaft werden sie seit einiger Zeit von den USA unterstützt. Denn diese befürchten das Vordringen des islamischen Terror-Netzwerks Al-Qaida auf den afrikanischen Kontinent. Hinter den Moslem-Milizen steht jedoch nur eine lose Union aus lokalen Stammesführern, Imamen und Geschäftsleuten verschiedener religiöser Prägung. Längst liegen Radikale und Gemäßigte innerhalb der Union im Streit: Die einen streben die Errichtung eines Gottesstaats an nach dem Modell Saudi-Arabiens oder des Afghanistans der Taliban, die anderen wollen einfach nur den Zustand von Chaos und Rechtlosigkeit beenden, in dem das Land seit mittlerweile 15 Jahren dahinvegetiert.

Nachdem Sturz des Diktators Siad Barre 1991 hörte der Staat Somalia über Nacht einfach auf zu existieren, als wäre er eine unrentable Postfiliale gewesen. Seither kontrolliert kein Stromableser mehr den Zähler, weil es keine Stromversorgung mehr gibt, kein Polizist regelt den Verkehr, weil keine Regeln mehr existieren, und der Müll bleibt dort liegen, wo er hinfällt. Durch die Wasserleitungen ist schon lange kein Tropfen Wasser mehr geflossen. Von den wenigen Brunnen transportieren es die Bewohner in Kanistern mit Eseln oder Schubkarren nachhause. Kaum ein Kind geht noch zur Schule, denn die Lehrer haben sich, notgedrungen, längst andere Jobs gesucht, und die wenigen Ärzte, die im Land geblieben sind, operieren nur noch denjenigen die Kugeln aus den Beinen, die vorher bar bezahlen.

Auch die Behandlung in der Hayat-Klinik ist nicht umsonst, aber immerhin erschwinglich – zumindest für diejenigen, die über das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von 130 Euro monatlich verfügen. Das Honorar für die Sprechstunde beträgt umgerechnet einen Euro und 30 Cent. Wer gar nichts besitzt, kann sich am Freitag nach dem Morgengebet in die Warteschlange für die Armen einreihen: An diesem Wochentag arbeiten die Hayat-Ärzte kostenlos. Behandelt wird jeder, ohne Ansehen der Clanzugehörigkeit. Vor dem Einlass in die Klinik müssen Besucher und Patienten alle mitgeführten Waffen abgeben. Dafür sorgt ein blau uniformierter Wächter, der mit schussbereiter Kalaschnikow am Eingang steht. Die weiße Fassade des Krankenhauses ist immer noch makellos; zwischen den zerschossenen Fronten der Nachbargebäude wirkt sie wie ein Neuwagen auf einem Schrottplatz.

Am Schreibtisch seines kleinen Behandlungszimmers im Erdgeschoss der Klinik sitzt Doktor Abdirahman Ahmed. Ein Lächeln liegt auf seinem runden Gesicht, das gelassene Lächeln eines Menschen, der es gewohnt ist, viele Dinge gleichzeitig zu tun. Vor dem Klinikchef sitzt eine Hochschwangere, die zur Sonographie bestellt ist, neben ihm wartet der Verwaltungsdirektor auf eine Unterschrift, hinter einem Vorhang schreit ein kleines Mädchen, das soeben die Spritze in der Hand einer Krankenschwester entdeckt hat. Und nun steht auch noch diese Frage im Raum.

Warum hat Doktor Abdirahman seine gut bezahlte Stelle in Saudi-Arabien gegen das Chaos von Mogadischu eingetauscht? Für einen kurzen Moment verschwindet das Lächeln aus dem Gesicht des Klinikchefs. Was für eine überflüssige Frage. Warum sollte er etwas begründen, das sich im Grunde von selbst versteht, wenn man ihm nur zwei Stunden bei der Arbeit zusieht?

Er versucht es trotzdem. „Wir haben diese Klinik vor sieben Jahren gegründet, um - “, setzt er an, aber da klopft es schon wieder an der Tür, der Kinderarzt meldet einen Neuzugang mit einer komplizierten Verletzung, „ … um unseren Landsleuten zu helfen“, fährt der Arzt fort, während er die Treppe zum ersten Stock empor eilt, zwei Stufen auf einmal. Aus einem Bett blicken ihm zwei große dunkle Kinderaugen entgegen. Das Interview ist fürs erste beendet, denn nach dem Jungen muss ein Mann mit Elefantiasis an den Hoden operiert werden, der schon unter Narkose liegt, danach die Frau mit dem Steckschuss im Bein. Danach ist die Schwangere an der Reihe, dann das kleine Mädchen. Und im Warteraum der Ambulanz drängen sich noch zwei Dutzend Menschen geduldig in brütender Hitze.

Später, in der Mittagspause, bittet der Klinikchef dann doch noch in seine Privatwohnung, die nur wenige Schritte entfernt auf der anderen Seite des Innenhofs liegt. Zwei Sofas stehen um einen niedrigen Tisch, zwei gelbe Plastikblumensträuße versuchen vergeblich, Heimeligkeit zu verbreiten. Abdirahmans Ehefrau verschwindet im hinteren Teil der Wohnung, noch bevor die fremden Gäste ihre Schuhe ausgezogen haben.

Nach Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr 1991, erzählt der Arzt, war er ins Ausland geflohen, wie fast die gesamte intellektuelle Elite des Landes. Vor allem Mediziner und Ingenieure wurden wegen ihrer guten Ausbildung gerne in den arabischen Nachbarländern aufgenommen. Der Chirurg Abdirahman fand eine Stelle in der staatlichen Gesundheitsverwaltung von Saudi Arabien, mit Dienstwohnung, Dienstwagen und einem Monatsgehalt, für das er in Somalia fast ein Jahr hätte arbeiten müssen. Das Krankenhaus, in dem er bis zu seiner Flucht gearbeitet hatte, stand sowieso nicht mehr. Plünderer hatten die Geräte entwendet, Waschbecken und sogar Türen und Fernster herausgerissen; den Rest zerstörten sie und ließen eine bis heute leer stehende Ruine zurück. „Mehr als die materielle Zerstörung der Krankenhäuser“, sagt Abdirahman und hält dabei seine zweijährige Tochter Sala auf dem Schoss, „hat Somalia der Exodus des medizinischen Personals getroffen. Vor zehn Jahren gab es im ganzen Land nicht einmal mehr 200 Ärzte.“

Viel mehr sind es auch jetzt nicht. Somalia ist eines der medizinisch am schlechtesten versorgten Länder der Welt; auf etwa 33 000 Einwohner kommt ein Arzt. In der Schweiz beträgt das Verhältnis eins zu 300.

Doktor Abdirahman fühlte sich in Saudi-Arabien in Sicherheit, aber nicht glücklich. Während wenige hundert Kilometer von ihm entfernt seine Landsleute litten und starben, saß er im klimatisierten Gesundheitsamt von Jeddah, Abteilung medizinische Statistik, und füllte Listen aus über die Häufigkeit von Masern, Diarrhoe.

Die Entscheidung, zurückzugehen, fiel aus einem nichtigen Anlass. Abdirahman wollte einen Freund in der Hauptstadt Riyad besuchen – und erfuhr, dass er zuvor eine Genehmigung der Fremdenpolizei beantragen musste. Das machte ihm seinen Status als geduldeter Ausländer auf besonders kränkende Weise bewusst. Kurzentschlossen griff er zum Telefon und rief seine Kollegen aus früheren Tagen an. Einen erreichte er in Kairo, einen in Boston, USA, andere in Europa und Kenia. „Einige hielten meinen Vorschlag für einen schlechten Witz. Als sie merkten, dass ich es ernst meinte, haben sie abgewunken und mir alles Gute gewünscht.“ Abdirahman gab nicht auf. Nach einem halben Jahr hatte er genügend Kollegen, aber auch Geldgeber, für den Plan gewonnen, in der gefährlichsten Stadt der Welt, zwischen zerschossenen Ruinen und Wellblechhütten, ein neues Krankenhaus aufzubauen.

Der Herzspezialist Mohammed Hassan, der seit Kriegsausbruch in der kenianischen Hauptstadt Nairobi gearbeitet hatte, warf seine gesamten Ersparnisse in den gemeinsamen Topf für das geplante Krankenhaus: immerhin 125 000 Dollar. In Stockholm verabschiedete sich Abdisamad Hagi, der schon lange vor dem Krieg nach Europa ausgewandert war. 17 Jahre lang hatte er als Kinderarzt in Skandinavien ein gutes Leben geführt, er besaß eine Wohnung und Anspruch auf eine Rente. Es war nicht allein der Wunsch, seinen Landsleuten zu helfen, der ihn zur Rückkehr bewegte. Doktor Abdisamad zitiert aus der 90. Sure des Koran: Und siehe, der Mensch wird maßlos, wenn er sich im Reichtum einrichtet. „Es war nicht meine Kultur, es war nicht mein Volk, es war auch nicht meine Religion“, sagt Abdisamad Hagi. Schon lange hatte er Angst, seine Kinder könnten ihm entgleiten. Sie sprachen besser Schwedisch als Somali. Am Ende waren es acht Ärzte, die sich 1998 in Mogadischu trafen und auf einem ehemals staatlichen Gelände die Klinik errichteten.

Stumm hören die drei Kinder Abdirahmans zu, was ihr Vater erzählt. Seit sie nach Mogadischu zurückgekehrt sind, spielt sich ihr Leben ausschließlich innerhalb der hohen Mauern ab, die das Klinikgelände umgeben. Auf der Straße zu spielen, wäre lebensgefährlich. Jeden Vormittag kommt ein Lehrer und unterrichtet die Arztkinder in der Koranschule des Krankenhauses. Die Salven der Maschinengewehre, so hat ihr Vater ihnen erklärt, sind Freudenschüsse für Hochzeitspaare. „Heute haben wieder viele geheiratet“, sagt der vierjährige Mohammed.

Die Kinder sind nicht die einzigen, die der alltägliche Terror de facto zu Gefangenen macht. In einem kleinen Zimmer neben den Abdirahmans haust Professor Warsame Mahmoud, 63 Jahre alt, eine hohe Gestalt mit traurigem Gesicht. Seine Hände zittern schon ein wenig, aber er versieht nach wie vor seinen Dienst im OP-Saal, denn es gibt nicht viele Chirurgen in der Stadt. Zu Beginn des Bürgerkriegs war der Professor über den arabischen Golf in den Yemen geflohen. Dort fand er jedoch keine Arbeitsstelle. Vor zwei Jahren erlöste ihn ein Anruf seines früheren Assistenzarztes aus der Nutzlosigkeit. Der Wunsch, wieder arbeiten zu können, war größer als seine Angst.

Es sind nicht nicht so sehr die Streukugeln der Milizen, die Professor Warsame fürchtet, oder die Überfälle von Banditen. Er sieht sich vor allem von seinen eigenen Patienten bedroht. „Was glauben Sie“, fragt er, „was die Angehörigen eines Patienten in diesem Land mit mir machen würden, wenn ihr Verwandter während einer Operation stürbe?“

Sie würden ihn auf offener Straße erstechen, erschießen oder erschlagen. Und kein Hahn würde nach Professor Warsame krähen, denn er gehört zum Clan der Darood, der in Mogadischu nichts zu sagen hat. Hier herrschen die Hawiye und ihre zahlreichen Unterclans. Ohne einen Clan mit Maschinengewehren und Panzerfäusten im Rücken gilt ein Mensch als vogelfrei. Der Clan hat den Staat ersetzt. Dass es mehr als sechzig Clans und Unterclans in Somalia gibt, macht die Sache nicht einfacher. Warsame hat das Klinikgelände seit seiner Ankunft vor zwei Jahren nicht verlassen. Sein Blick sagt, dass er seinen Entschluss zur Rückkehr längst bereut. Aber das spricht er nicht aus.

Selbst die UN hat Mogadischu zur „Zone fünf“ erklärt - zum unzugänglichen Terrain. Kein Mitarbeiter darf die Stadt ohne Genehmigung betreten. Nahezu alle internationalen Hilfsorganisationen haben die Stadt verlassen, nachdem es mehrfach zu Entführungen kam. Der deutsche Offizier Rolf Helmrich, der für die Sicherheit des UN-Personals zuständig ist, wurde 29. Januar 2004 während einer Kontrollfahrt von Milizen verschleppt. Er hatte Glück: Schon nach zehn Tagen kam er wieder frei. Nach offiziellen UN-Angaben wurde kein Lösegeld gezahlt, und es gab auch keine Verhandlungen mit den Entführern. Es gab nur einen Anruf bei DBG. Die somalische Hilfsorganisation mit Sitz in Mogadischu hat schon in mehreren Entführungsfällen erfolgreich vermittelt; Angehörige des Roten Kreuzes kamen ebenso unversehrt frei wie Mitarbeiter der Organisation „Action contre la faim“.

DBG steht für „Daryeel Bulsho Guud“, was übersetzt ungefähr „Hilfe für alle“ bedeutet. Ein kaum einzulösendes Versprechen in einem Land wie Somalia. Andererseits zwingt gerade das Chaos zu kreativen Selbstdefinitionen. Wenn es keinen Staat mehr gibt, keine Institution, die sich ums Gemeinwohl kümmert, nicht einmal ausländische Unterstützung - wie soll man da das eigene Aufgabenfeld eingrenzen? Entweder man beschränkt sich auf ein genau definiertes Spezialgebiet, wie es die Ärzte der Hayat-Klinik tun. Oder man versucht, für möglichst viele Menschen in möglichst allen denkbaren Situationen da zu sein.

DBG ist vielleicht die einzige Institution im ganzen Land, die ansatzweise so etwas wie staatliche Aufgaben erfüllt: Wasser- und Stromversorgung, Müllabfuhr, Katastrophenhilfe, Rechtsprechung. Wenn auch nur mit viel Improvisationstalent und immer nur von Fall zu Fall.

Im Büro von DGB klingelt unablässig das Telefon. Ein Flussdeich 50 Kilometer nördlich von Mogadischu ist gebrochen. Könnt ihr Diesel für eine Planierraupe vorbeibringen? Und ein paar Kanister gleich mit? Bewohner eines Stadtviertels wollen eine gemeinsame Stromversorgung mit Generatoren organisieren und benötigen finanzielle Unterstützung. In einem Flüchtlingscamp in der Stadt ist Typhus ausgebrochen, Medikamente müssen her. Ein Dorf will einen neuen Brunnen. An der Küste bei Garacad, 150 Kilometer nördlich der Hauptstadt, sind Giftfässer mit unbekanntem Inhalt angeschwemmt worden. Zwei verfeindete Clans suchen einen neutralen Vermittler für ihren Streit.

Alle kennen die Telefonnummer von DBG, jeder kennt auch das Hauptquartier der Organisation im Norden der Stadt. Es liegt nicht weit vom ehemaligen Fußball-Stadion entfernt, das heute als Lager für Tausende dient, die sich aus umkämpften und verwüsteten ländlichen Gebieten in die Hauptstadt geflüchtet haben. Das vierstöckige Gebäude wirkt mit seinen hohen Außenmauern wie ein Festung: Schwer bewaffnete Männer bewachen das Eisentor, das sie nur aufreißen, wenn sich ein Jeep der Organisation mit lautem Hupen nähert. Mit Vollgas rasen die Fahrer in den von hohen Mauern umgebenen Innenhof, das Tor wird zugeschmettert, Bewaffnete springen von den Wagen herunter und halten noch eine Weile gespannt ihre Gewehre in die Luft, bis alle im Haus verschwunden sind. Das Haus hat als eines der wenigen dieses Viertels keine Einschusslöcher; Das „Erfolgsgeheimnis“ der Organisation, so nennt es DBG-Chef Abukar Sheik Ali, ist die ethnische Zusammensetzung der Belegschaft: Jeder der 40 Mitarbeiter wurde zunächst nach seiner Stammeszugehörigkeit und erst dann nach seiner Qualifikation ausgesucht – so lange, bis alle 20 Clans unter Unter-Clans der Stadt bei DBG vertreten waren. Der Chef selbst ist das beste Beispiel dieser Personalpolitik. Abukar Sheik war „Businessman“, er handelte mit Armierstahl. Vor allem aber gehört er als Mitglied der Abgal zum mächtigsten Clan der Stadt. Das prädestinierte ihn für das Amt des Vorsitzenden. Auch wenn andere besser organisieren, schneller rechnen, sich klarer ausdrücken können - wie etwa Mohamoud Makel Kheyre vom Clan der Mursade. „EmmEmmKei“, wie er sich selbst nennt, ist der eigentliche Kopf von DBG: Als Büroleiter des Diktators Siad Barre korresponierte er früher mit Regierungschefs aus aller Welt. Heute nutzt er seine Erfahrung, um Verhandlungen mit untereinander verfeindeten Milizenchefs zu führen, was noch mehr diplomatisches Geschick erfordert. Etwa dann, wenn Clan A eine Lastwagenladung mit Moskitonetzen bestellt, die durch das Hoheitsgebiet des verfeindeten Clans B transportiert werden muss. In diesem Fall verspricht EmmEmmKei den Vertretern von Clan B eine Ladung Speiseöl gegen sicheres Geleit. Dank seiner Verhandlungskunst erreichen die meisten Transporte auch dann ihr Ziel, wenn die Fahrt durch drei oder mehr Clan-Gebiete führt.

Die meisten DBG-Mitarbeiter gehörten einst der somalischen Mittelschicht an, einige hatte hohe Posten in Regierung oder Verwaltung inne. Sie waren Oberst im Geheimdienst, Chef des Zollamts, Repräsentant der somalisch-italienischen Fischhandelsgesellschaft, sie haben als Lehrer, Apotheker, Kleinunternehmer gearbeitet. Ibrahim Omar, den alle „Piloto“ nennen, war Leutnant der somalischen Luftwaffe. Er hatte an jenem 17. Oktober 1977 Dienst, als die entführte Lufthansa-Maschine „Landshut“ auf dem Flughafen von Mogadischu landete. Ibrahim Omar zündete damals ein Reisigfeuer auf der Startbahn an, um die Entführer von der Ankunft deutscher GSG 9-Einheiten abzulenken. Wenige Jahre später wurde er wegen Beteiligung an einem Putschversuch gegen Diktator Barre zum Tode verurteilt und später zu „lebenslänglich“ begnadigt.

Heute ist Piloto bei DBG „Experte für Chemieabfälle“. Deutsche Spezialisten haben ihn in einem zweiwöchigen Schnellkurs im Umgang mit rostigen Giftfässern geschult, und weil an der langen Küste Somalias einiges angeschwemmt wird, ist Piloto oft im Einsatz. Dass er gebraucht wird, erfüllt ihn mit Stolz. „Ich will, dass dieses Land eines Tages wieder Teil der Welt wird!“ sagt er strahlend.

Damals, während seiner siebenjährigen Haft, hätte sich der gescheiterte Putschist sicherlich nicht träumen lassen, dass er einst mit dem Bürochef des Diktators Seite an Seite arbeiten würde. Aber wen kümmert das heute? „Die alten Geschichten interessieren nicht mehr“, sagt Piloto wegwerfend. „Wir haben alle Fehler gemacht“, sagt Omar Olad gleichmütig.

So verschieden ihre Karrieren und Erfahrungen sind, eines verbindet die Männer von DBG: Sie gehören zur Generation der über 40jährigen, die sich noch an ein Leben mit allgemein gültigen Regeln und Gesetzen erinnern können. Deshalb blenden sie auch konsequent die Tatsache aus, dass ihre Clans sich draußen auf den Straßen blutige Schlachten liefern. Wenn sie es nicht schaffen, friedlich zusammen zu arbeiten, wie soll es mit der Stadt jemals aufwärts gehen?

Außerdem, auch das geben die meisten freimütig zu, haben sie kaum Alternativen. Lediglich fünf Prozent aller Somalis verfügen über ein regelmäßiges Einkommen. Zwar reicht der Lohn bei DBG nur knapp zum Überleben, aber als Zigarettenhändler, Busfahrer oder Lastenträger wäre man noch schlechter dran. Und der Weg ins Ausland ist den meisten versperrt.

Natürlich hätte ein Mann wie Omar seine Beziehungen nutzen und nach Bella Italia verschwinden können, wo er als Handelsvertreter seine besten Jahre verbracht hat. Mit Büro im Adriahafen Pescara, Blick auf die Strandpromenade und Trattorien ums Eck. „Jeden Mittag spaghetti pomodoro und einen vino rosso.“ Omar seufzt. Er liebt das gute Leben. Aber er hat 14 Kinder, alle von einer Frau. Da macht sich ein Mann nicht einfach aus dem Staub. Jedenfalls nicht einer wie Omar. Der ehemalige Geheimdienstoberst zündet sich eine Royals-Zigarette an und zitiert auf Italienisch die Inschrift zur Hölle aus Dantes Göttlicher Komödie. „Lasciate ogni speranza, voi chi entrate - ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.“ Dann lädt er zu einem Ausflug in sein Viertel.

Die Altstadt Mogadischus wurde von den Italienern ihrer Schönheit wegen „Perla di Somalia“ genannt. Heute ist sie weitgehend zerstört. Der Toyota-Pickup mit den Leibwächtern auf der Ladefläche biegt in eine Straße ein, deren kolonialen Namen jemand mit schwarzer Farbe auf der Fassade einer Ruine gepinselt hat: Via Roma. „Nehmen wir einen Espresso“, sagt Omar. Er verschwindet in einer Art Höhleneingang, der zu einem engen Raum führt. Darin steht ein Mann in zerschlissenen Kleidern und werkelt über einem offenen Feuer mit rußgefärbten Aluminiumkannen. „Aber bitte vero italiano“, sagt Omar, als spräche er mit einem Kellner auf dem Markusplatz in Venedig.

Es hat sich bereits herumgesprochen, dass zwei Europäer im Viertel aufgetaucht sind. Luc Aci, eine ehemalige Nachtclubsängerin, hat sogleich ein Brusttuch über ihren rosaroten Kaftan geworden und ist ins „Café Roma“ geeilt. Jetzt stellt sie sich an der Theke in Positur und singt – so wie früher, als sie noch vor Diplomaten und Geschäftsleuten auftrat. Einer der Leibwächter legt seine Kalaschnikow wie eine Gitarre, die anderen klatschen im Takt. Luc Aci wiegt ihren Körper, beugt sich hinunter zu der falschen Gitarre und singt: „Warum hast du meinen Mann umgebracht? Ich hasse dich.“ Während Omar und seine Leibwächter im Café Roma ihren Espresso schlürfen, wird in der Hayat-Klinik Erste-Hilfe-Unterricht erteilt. Dass die Ärzte schon bald mit selbst ausgebildeten Pflegekräften werden arbeiten können, verdanken sie DBG. Denn natürlich unterstützt die einzige somalische Hilfsorganisation auch das einzige private Krankenhaus von Mogadischu. Mit Geld der deutschen „Diakonie Katastrophenhilfe“ und „Brot für die Welt“ hat DBG den Bau einer Krankenpflegeschule organisiert. Für das seltene Privileg einer Berufsausbildung nehmen die 100 jungen Männer und Frauen auch den lebensgefährlichen Schulweg in Kauf. Manche müssen auf dem Weg zum Unterricht mehrere Hoheitsgebiete verfeindeter Warlords durchqueren, deshalb zählt Lehrer Hanafi Adam jeden Morgen nach, ob alle seine Schüler heil angekommen sind. Heute führt er einen Film über die Erstversorgung von Verletzten im Schockzustand vor: Den Kopf zurücklegen, um die Atemwege frei zu legen, Mund-zu-Mund-Beatmung, dann 15mal kräftig auf den Brustkorb drücken, wieder beatmen und wieder drücken. Die richtige Stelle am Brustkorb erkennen die Schüler mithilfe eines Skeletts, das neben dem Lehrer im Klassenraum steht. Hanafi hat den Knochenmenschen in einem Koffer aus Kairo mitgebracht. Vor einem Jahr tauschte er sein ruhiges Leben und seinen guten Verdienst gegen eine lebensgefährliche Existenz in Mogadischu. Am Hayat-Hospital bekommt er 300 Dollar im Monat, „das ist etwa fünf Mal weniger als in Kairo, dafür aber 100mal gefährlicher“, scherzt der Lehrer.

„Aber“, fügt er ernst hinzu, „um keinen Preis würde ich hier wieder weg gehen.“