Zeitenspiegel Reportagen

Die das Feuer in sich tragen

Erschienen in "NZZ Digital" am 05.01.18

Von Autorin Isabel Stettin

Jakob Uunartoq ist einer der letzten traditionellen Jäger Grönlands, der junge Knud aus dem nördlichsten Kinderheim der Welt ist sein Schüler. Beide verbindet eine besondere Freundschaft – in einer Zeit, in der das Eis immer dünner wird. link zur Reportage

Knud lenkt den Schlitten über das Eis. Seine Hunde stieben durch den Schnee, sie rennen im Takt ihres Herzschlags. Der Himmel ist blau an diesem Tag, wie ein gezackter Scherenschnitt ragen Eisberge in die Winterluft. Scharf zeichnen sich die Konturen des Felsens ab, der dieser Insel ihren Namen gibt: Uummannaq. Geformt wie das Herz einer Robbe, bedeutet das auf Grönländisch. Knud lässt den schroffen Berg hinter sich, das Städtchen mit der Schule, der Wirtschaft, dem Supermarkt, der grossen Fischfabrik. Das Kinderheim, sein Zuhause, ist längst nicht mehr zu sehen. Kilometerweise endloses Weiss 600 Kilometer nördlich vom Polarkreis ist die Welt in diesen Wochen grösser. Knud ist auf dem Weg über den gefrorenen Fjord in die Einöde, kilometerweit über das Eis, das im Winter seine kleine Insel mit den umliegenden Siedlungen verbindet. Dann brettern die Grönländer mit Motorschlitten oder Autos durch das endlose Weiss. Nach einer Stunde Fahrt verlieren sich die Reifenspuren. Der Schnee ist so tief, dass der junge Inuk immer wieder seinen Schlitten mit blossen Händen freischaufeln muss, ehe sich die Hunde weiterkämpfen können. Wie können Traditionen in einer Welt überleben, die sich rasend wandelt – und was würde der Verlust bedeuten? Sein Ziel ist Saattut, ein Flecken mit ein paar bunten Häuschen, als Farbtupfer schon aus der Ferne zu ahnen. Er stoppt die Hunde und wickelt seinen grau-braunen Fuchspelz enger um sich, die Zigarette im Mundwinkel. Von einer Wäscheleine am Dorfrand baumeln Unterhemden, geblümte Höschen, fünf silbrig glänzende Felle von Ringelrobben. Der Kopf eines Narwals, das Maul leicht geöffnet, der Blick in den weissen Himmel gerichtet, liegt neben einem kleinen blauen Holzhaus im Schnee. Zwei dicke Welpen mit zerzaustem grauem Fell und die ausgemergelte Mutter nagen letzte Fetzen von der Wirbelsäule, daneben ein zum Eisblock erstarrter Haufen Heilbutt. Jakob Uunartoq Løvstrøm blickt aus dem Fenster und klopft wild dagegen, um die ausgehungerten Hunde vor seinem Haus zu verscheuchen. Løvstrøm, von allen nur Uunartoq genannt, ist 75 Jahre alt, einer der letzten traditionellen Jäger Grönlands, einer der besten dazu. Uunartoq bedeutet so viel wie «der das Feuer in sich trägt». Doch an diesem Tag glimmt es nur. Er ist krank und schnieft, seine Augen tränen. Sie leuchten erst wieder, als sich die Tür knarzend öffnet und ihm Knud, durchgefroren von der Schlittenfahrt, in die Arme fällt. «Da kommt der junge Uunartoq», sagen die Nachbarn, wenn Knud durch Saattut stapft. Knud mit seinen feinen Gesichtszügen ist einer, der nicht viele Worte macht, egal, worum es geht. Grübchen bilden sich, wenn er grinst. Doch in sich trägt er einen Schmerz, der es ihm an manchen Tagen schwermacht aufzustehen. Er teilt ein Schicksal mit vielen grönländischen Jugendlichen. Im Kinderheim von Uummannaq leben all die kleinen und grossen Menschen, auf denen ein schweres koloniales Erbe lastet. Manche in Grönland sagen, es liege am Verlust der Identität, am Wegfall der Tradition, an der erbarmungslosen Moderne, diesem rasanten Wandel, der das Leben sinnlos scheinen lasse. Es ist die Abgeschiedenheit, die wochenlange Dunkelheit, die Depressionen, der Alkohol, der die Probleme erst ertränkt und dann vergrössert. Grönland hat traurige Spitzenwerte, wenn es um Missbrauch von Kindern und um Gewalt gegen sie geht – und eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Jeder in Grönland hat mindestens einen Freund, einen Angehörigen oder einen Nachbarn durch diese Epidemie verloren. Statistiken besagen, dass die Hälfte aller Jugendlichen wie Knud einen Selbstmordversuch unternommen hat.  Knud ist gerade achtzehn Jahre alt geworden und damit volljährig. Er spielt Gitarre und Geige, hat eine Freundin, der er auf Facebook täglich Herzchen schickt. Uunartoq könnte sein Grossvater sein. Doch beide verbindet mehr als Blut. Sie sind Freunde, seit Knud in das Kinderheim kam und Uunartoq zu seinem Lehrer wurde, der ihn lehrte, die Fährten der Schneehasen zu lesen, zu angeln und Fische auszunehmen, ein Lager im Schnee zu bauen und zu erkennen, ob das Eis auf dem Uummannaq-Fjord seinen Schlitten trägt. Uunartoq hat ihm beigebracht, ein Hunderudel zu zähmen. Durch ihn hat er die Welt kennengelernt, der sein Ziehgrossvater hinterhertrauert, wenn Schneemobile statt Hundegespanne über das Eis rattern. Uunartoq hat Knud begleitet, jahrelang. Jetzt ist es an ihm, seinen Ziehgrossvater zu begleiten – bei seinem letzten Hundeschlittenrennen. Für Uunartoq beginnt die Zeit des Abschieds, die Zeit in seinem Leben, in der er viele Dinge, die er liebt, ein letztes Mal tun wird. «Es ist, wie es ist», sagt er. «Es kommt, wie es kommt.» Rosarote Kratzer zeichnen sein Gesicht, Wunden vom letzten Training, als er vom Schlitten fiel und die Kufen in sein Fleisch schnitten. Manchmal ist seine Stimme so brüchig, dass die Tiere nicht mehr auf ihn hören. Doch einmal noch will er kämpfen, um es anderen zu zeigen, vor allem aber sich selbst. Knud wird an seiner Seite sein. Wie können Traditionen in einer Welt überleben, die sich rasend wandelt – und was würde ihr Verlust bedeuten? Das fragt sich Uunartoq, und das fragt sich Knud. Ihre Geschichte zeigt, was das Leben auf und mit dem Eis für die Grönländer bedeutet hat und künftig bedeuten könnte. Denn Grönland ist ein Land, das dabei ist, sich neu zu erfinden. Der Wandel bedeutet Verlust und zugleich Beginn. Uunartoq gehört die Vergangenheit, Knud die Zukunft. Die beiden gehen vor die Tür. Auf der hölzernen Veranda steht eine Gefriertruhe. Ausgeschaltet. Walfleisch ist darin verstaut. Die Harpune, mit der Uunartoq den Wal erlegt hat, hängt an der Tür. Die Truhe enthält den Vorrat für das gesamte Jahr. Uunartoq sägt einen Teil der Rippe ab, säbelt die dicke Haut in Scheiben, dunkles Blut klebt an seinen Händen. Er wischt sie im Schnee ab. Auf dem wächsernen Tischtuch serviert seine Frau Ane die ölig glänzenden Würfel auf einem Teller. Der Geschmack von Meer und Algen vermischt sich mit Kräutersalz. «Mamakk», sagt Knud seufzend. «Lecker.» Dunkelheit legt sich über das Dörfchen. Nur in einigen Häuschen brennt Licht, viele stehen leer. Nur noch 200 Menschen leben in Saattut. Die jungen Leute fliehen aus der dörflichen Enge und der weiten Natur. Auf dem Eis schlafen die Hunde, Eisberge funkeln im Mondlicht. Im Wohnzimmer von Uunartoq leuchten Kerzen. Draussen ist es 25 Grad kalt, innen 25 Grad warm, weil der Ofen bollert und Ane ständig Töpfe über den Herd und Gebäck in die Röhre schiebt. Aber auch, weil Uunartoq seine Gäste mit Erinnerungen wärmt. Wenn nachts über dem Eis die Nordlichter grün glimmen, erzählt er von den Geistern der Toten, die im Himmel Fussball spielen, und das Märchen vom Kampf des kleinen Knaben Kaassassuk mit den Eisbären. Danach beugt er sich über Knuds Smartphone und sieht sich mit ihm Videos von Sportwagen an. «Meinst du, ich bin auch so schnell mit meinem Schlitten?» Uunartoq lacht sein zahnloses Lachen. Knud legt die Hand auf sein Knie, er seine faltige Hand darüber. Ane sitzt daneben auf der Wohnzimmercouch, im Rücken Kissen, auf denen die pausbäckigen Gesichter ihrer Enkelkinder gedruckt sind, und strickt einen Pullunder aus Moschusochsenwolle. «Den ersten Bären vergisst du nie» Am nächsten Morgen erwacht Knud durch Uunartoqs Husten. Der Alte stützt das Gesicht auf die faltigen Hände. Seine Mundwinkel hängen. Er ist nervös. Es ist der letzte Tag vor seinem grossen Rennen, und er fühlt sich noch immer schwach. Am Küchentisch bessert er mit feiner Nadel die Leine des Hundegeschirrs aus. An der Wand tickt eine Uhr in einem Gehäuse aus Rentierhorn. In einer Vitrine liegt ein Eisbärenschädel, an dünne Lederbänder sind scharfe Krallen geknüpft, polierte Walrosshauer liegen auf dem Schrank. Zu jedem Gegenstand hat Uunartoq eine Erinnerung, jeder Zahn, jede Kralle erzählt eine Geschichte. An der Wand hängt ein gerahmtes Bild, das seinen Sohn Hans-Peter auf Eisbärenjagd zeigt. Das Tier schwimmt im Wasser, angeschossen. Auf dem nächsten Bild liegt es bäuchlings, die Zunge hängt aus dem Maul. «Den ersten Bären vergisst du nie», sagt Uunartoq. «Den letzten auch nicht.» Es fällt schwer, seine Begeisterung angesichts des toten Tiers zu teilen. Doch Jagd, sagt er, liege ihm und den Grönländern nicht nur im Blut, es stecke in den Knochen. «Ich muss raus, um zu atmen, Knud.» Im Hintergrund rauscht der Fernseher.

Seit je jagen die Grönländer, was sie brauchen. Ihr Garten ist das Meer. Die Jagd macht sie unabhängig von teuer importierten Lebensmitteln, sie bedeutet kulturellen Wert und Identität. Es ging nie um Überfluss, es ging ums Überleben. Auch um das Überleben einer Kultur. Knud war zwölf, als er seine erste Robbe gefangen hat, ebenso alt wie Uunartoq bei seinem ersten Fang. Als andere Knaben ihr erstes Bier probierten, die erste Zigarette rauchten, um sich erwachsen zu fühlen, hat Knud seine Hände in das warme, noch pulsierende Fleisch getaucht, das Blut über das Gesicht geschmiert. Heiliges Blut. Dann hat er ein Stück der rohen Leber abgeschnitten, sie mit Uunartoq und den anderen Jägern geteilt. Jedes Tier verdient Respekt, sagt Uunartoq. Jeder Jäger dankt seinem Opfer, so will es das Ritual. Es geht nicht nur um die Beute, es geht darum, der Gemeinschaft etwas zurückzugeben. Das hat Knud von Uunartoq gelernt. Doch längst sind Walfang und Eisbärenjagd verpönt, der Export von Robbenfellen verboten. Das Leben hat sich verändert, seit kaum noch jemand Robbenfell kauft. Fünf Attraktionen gibt es, mit denen die Grönländer noch immer Touristen locken wollen: Nordlichter, Wale, Hundeschlitten, Schnee und Eis. Von allem hatte Uunartoq sein Leben lang reichlich. Doch das Eis unter seinen Stiefeln aus Eisbärfell wird dünner und dünner. Und mit dem Eis schwindet sein Leben als Inuk. In Siedlungen wie Saattut schlägt der Klimawandel erbarmungslos zu. Die Zeit, in der das Eis zu brüchig für Schlitten, aber noch zu dick für Boote ist, dehnt sich. Oft nur noch acht Wochen trägt es sicher. Früher waren es acht Monate. Einige Fjorde, die Uunartoq noch vor wenigen Jahren mit dem Schlitten durchquerte, frieren nicht einmal mehr zu. Immer längere Umwege muss er in Kauf nehmen. Wo das Eis zu dünn ist, können sich – versteckt unter Schnee – Abgründe auftun. Erst im vergangenen Winter sind ein Jäger aus Saattut und sein Schlitten nicht wieder zurückgekehrt. Doch das Wetter komme, wie es komme, sagt Uunartoq. Es gibt Grönländer, die hoffen, dass das schmelzende Eis lange verborgene Bodenschätze freigibt, dass mehr und mehr Touristen kommen, dass es ein guter Wandel ist. Es gibt Grönländer, die hoffen, dass das schmelzende Eis lange verborgene Bodenschätze freigibt, dass es ein guter Wandel ist.  Früher konnten Jäger wie Uunartoq auf den Schlitten nicht verzichten. Nur mit ihm konnten sie in die Robbenjagd ziehen. Ein Schlitten gleitet lautlos dahin. Lärmende Motorschlitten vertreiben die Tiere, Robben ziehen sich aus Furcht zurück. Hunde schützen ihn bei der Eisbärenjagd, umzingeln die Beute. Heute bedeutet die Pflege für die meisten Grönländer zu viel Arbeit und Risiko. Früher fing er an guten Tagen fünf Robben, jetzt ist er froh, wenn er nach Tagen eine erwischt. Die Eisbären werden immer weniger, der Klimawandel zerstört ihre Lebensgrundlage. Doch es ist nicht nur das Wetter. Mit dem Wandel verändern sich auch die Menschen, sagt Uunartoq. Jungen Leuten wie Knud fehle die Orientierung: In der städtischen Kultur weisser Europäer fänden sich schon die Eltern nur schwer zurecht. Tausend Namen für Schnee Dicke Flocken wirbeln vom Himmel. Keine guten Bedingungen für das Rennen, murmelt Uunartoq. Wenn der Schnee zu tief wird, fällt es seinem Hund immer schwerer voranzukommen. Seit dem Roman «Fräulein Smillas Gespür für Schnee» gehören die tausend Namen für Schnee zu den hartnäckigsten Klischees: weicher Schnee, harter Schnee, Pulverschnee, fallender Schnee, Schnee am Boden. Da Grönländisch eine Bildsprache ist, setzen sich die Begriffe zu ellenlangen Worten zusammen. «Doch Schnee bleibt Schnee», sagt Knud. «So einfach ist das.»

Als er und Uunartoq in ihren gefütterten Overalls auf dem Eis ankommen, jault Uunartoqs Rudel. Hunde in allen Farben, gemustert und gescheckt, eisbärenfarben, cremig weiss, braun und wuschelig, die Augen funkeln grün und tiefschwarz. Unentwegt hat Uunartoq eine Kippe im Mundwinkel hängen, eingeklemmt zwischen die letzten verbliebenen Zähne im Unterkiefer. Nur wenn er husten muss, klemmt er sie für einen Moment zwischen die Finger. Seine Zigaretten heissen King und Prince. «Ohne Rauchen ist Schlittenfahren nichts», auch das hat Uunartoq Knud gelehrt. Zigaretten gehören nun auch für ihn dazu, wie die Ruhe, die Weite, die gleichmässigen Geräusche, das Atmen der Hunde, die durch den Schnee traben. Uunartoq und Knud spannen die zehn Hunde vor Uunartoqs Holzschlitten und befestigen ihn am Motorschlitten. Die Tiere rennen mit dem Motorschlitten mit. Wo früher jede Familie ihre Hunde hatte, parkieren jetzt vor jedem der Häuser die Fahrzeuge – auch vor Uunartoqs Haus. Motorschlitten müssen nicht gefüttert werden. Auch darum gibt es heute in ganz Grönland nur noch knapp 15?000 Grönlandhunde; die Rasse zählt zu den ältesten und reinsten der Welt. Zehn, fünfzehn Jahre zuvor waren es mehr als doppelt so viele. Im Frühjahr lassen viele die Hunde laufen, nachdem sie nutzlos geworden sind. Gibt es zu viele, werden sie erschossen. «Hunde sind unsere besten Freunde und die stärksten Verbündeten», predigt Uunartoq immer wieder. «Aber sie sind keine Kuscheltiere. Sie sind da draussen dein Werkzeug, um zu überleben.» Uunartoq und Knud fahren zum Startpunkt. Neben einem mächtigen Eisberg rammen sie Haken in den Schnee und befestigen die Kette, an der die Hunde bis zum nächsten Tag ruhen. Uunartoq wirft getrocknetes Walfleisch in den Schnee, gierig schnappen die Tiere danach, fressen den blutigen Schnee. Der Eisberg knackt bedrohlich, er leuchtet hellblau in der Mittagssonne. «Bleib immer wachsam», hat Uunartoq Knud gelehrt. Bräche jetzt ein Stück ab, was dann, Knud? «Dann bliebe uns nur noch zu rennen – und zu hoffen.» Beide lachen. Verliere nie den Respekt vor Wasser, Eis und Schnee, heisst es bei den Inuit. Respektiere sie, denn du kannst sie nicht kontrollieren. Es gibt ein Inuit-Sprichwort, das Uunartoq von seinem Vater gelernt hat: Strebe nach Stärke, nicht um grösser als dein Bruder zu sein, aber um deinen grössten Feind zu besiegen: dich selbst. «Hunde sind keine Kuscheltiere. Sie sind da draussen dein Werkzeug, um zu überleben», predigt Uunartoq immer wieder. Die Familie ist am Tag vor dem Rennen ins Haus von Uunartoq gekommen. Baby Vinuuna, ein pausbäckiges Kind mit den blauen Augen des Grossvaters, wird von einem zum Nächsten gereicht. Die Familie sammelt sich um den Tisch. Uunartoqs beide Töchter sind da. Sohn Hans-Peter fischt mittlerweile für Royal Greenland. Der Schwiegersohn ist Polizist, einer von dreien in Uummannaq. Ane zieht Rosinenbrötchen aus dem Ofen und wärmt ein Milchfläschchen für das Baby. Uunartoq liebt seine Enkel, von allen zwölf hängen Fotos an den Wänden. «Junge Leute können der Welt so viel geben. Auch wenn sie nicht jagen.» Vergessen ist die Angst zu versagen, die Angst zu scheitern, die Angst vor dem Ende. Der Eisbär soll Glück bringen Am nächsten Tag drängt sich die Familie auf einen Motorschlitten, um den Start des Rennens zu verfolgen. Die Spuren von fünfzig Schneemobilen zerschneiden die Schneedecke, zweihundert Zuschauer warten hinter der Linie. Achtzehn Hundeschlitten starten, erfahrene Fahrer aus den umliegenden Siedlungen, Uunartoqs Neffe gilt als einer der Favoriten. Uunartoq, der das Feuer in sich trägt, ist mit Abstand der Älteste. Und vielleicht der Nervöseste. Er steckt eine Flasche Cola in die Jackentasche und eine Tafel fast gefrorene Schokolade in die Eisbärenhose. Für den Notfall, dass er zu schwach wird. «1995 habe ich diesen Eisbären erschossen», sagt Uunartoq und klopft auf die Taschen. Jetzt soll er ihm Glück bringen. Vergangenes Jahr starb ein junger Fahrer aus dem Dorf, er wurde erst nach dem Rennen gefunden, auf dem Schlitten liegend, innerlich verblutet. Die Hunde warteten bei ihm. Es ist eisig kalt, hat noch mehr geschneit. Uunartoq hat Kopfschmerzen. Der Wind treibt ihm Tränen in die Augen. Er wischt sich die Nase, schnieft. Die Tropfen rinnen über seine Narben. Noch einmal prüft er seinen Schlitten, streicht über die Kufen, klopft gegen das Holz, kontrolliert, ob alle Hunde angespannt sind. Noch einmal wirft er einen Blick auf den Eisberg. Gestern hat er bedrohlich geknackt, heute glänzt er in der Sonne. Uunartoq atmet tief durch. Er ist bereit, die Zügel fest in der Hand. Der Rennleiter schwenkt die rote Flagge: auf die Plätze! Die gelbe: fertig! Die grüne: los! Uunartoqs Peitsche aus Robbenfell pfeift durch minus zwanzig Grad kalte Luft. Seine Hunde drängen sich aneinander, verheddern sich, überschlagen sich fast. Wenn sich die Leinen verwirren, bleibt nichts anderes übrig, als sie mit seinem Schweizer Taschenmesser zu durchtrennen. Dann müssen weniger Hunde die Last ziehen. Die Fahrer entfernen sich in Sekundenschnelle, werden zu Punkten. Der kleine Fleck, der Uunartoq ist, wird langsamer kleiner als die anderen Schlitten. Angespannt steht Knud da, feuert Uunartoq und seine Hunde an. Er lacht und schaut zugleich besorgt. Knud weiss, was Uunartoq das Rennen bedeutet. «Ich hoffe, dass er unter den ersten fünf landet», sagt er. «Glauben kann ich es nicht.» Er kennt das, was Uunartoq jetzt gerade erlebt: Die beissende, scharfe Kälte am Gesicht, der Fahrtwind, die Stille – auch wenn um ihn die anderen Schlitten fahren. «Du bist allein, nur du, die Natur, rundherum nichts als Eisberge.» Knud hat mit neun Jahren gelernt, den Schlitten zu lenken. Die Stille, die Ruhe ist es, die er braucht. Als wäre er der Erste Die Zuschauer brettern auf ihren Motorschlitten in Richtung Ziellinie. Nach einer guten Stunde taucht der erste Punkt aus der Ferne auf, der erste Fahrer. Einer nach dem anderen fährt über die Zielmarkierung, unter Johlen und Jubeln der Familie, wird mitsamt Schlitten in die Luft gehoben. Zwanzig Minuten später erkennt Knud ihn endlich: Die blaue Jacke mit dem Eisbärpelz kommt näher. Uunartoq erreicht als 13. das Ziel. Es ist egal. In dem Moment zählt nur Baby Vinuuna, das ihm seine Tochter in den Arm drückt, dass Knud die Daumen hochreckt, dass eine Horde auf ihn zustürmt, um seinen Schlitten in die Luft zu heben, als wäre er der Erste. Dass er es geschafft hat. Noch einmal. Zwei Tage später treffen sich Uunartoq und Knud wieder. Gemeinsam mit Kindern aus dem Heim ziehen sie los in eine einsame Hütte im gefrorenen Fjord. Uunartoq liegt auf dem Bett, die Augen zur Decke gerichtet. Das Rennen steckt ihm in den Knochen. Noch viel mehr die Feier danach. Bis vier Uhr morgens hat er getanzt. Ane hat sich ihren Schmuck aus Narwalknochen um den Hals gelegt und an die Ohren geklippt. Bald, das glaubt Uunartoq, wird Knud seinen Platz einnehmen, die ersten Schlittenrennen hat er hinter sich. Doch fragt man Knud, wird der still. Er weiss nicht, wo er im nächsten Jahr sein wird. Student in Kopenhagen, Automechaniker in Nuuk, der Hauptstadt, als Musiker mit den Kindern aus dem Heim auf Tour durch Europa? «Es ist, wie es ist», sagt Uunartoq. «Was wir mit Sicherheit wissen, ist einzig, dass das geschehen wird, was geschehen soll.» In der Sprache der Inuit gibt es kein Wort für Zukunft. Nur das Heute zählt. Und manchmal der Blick ins Gestern.