Zeitenspiegel Reportagen

Die ersten fünf Fälle

Erschienen in „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, 26. April 2020

Von Autorin Sophia Maier

Im Libanon hat ein drakonischer Shutdown die Zahl der Corona-Fälle bisher niedrig gehalten. Doch die Lage der 1,7 Millionen Flüchtlinge, von denen viele unter verheerenden hygienischen Bedingungen hier leben, ist prekär. Sophia Maier hat eine Familie besucht.

Turfa Dali weiß nicht, wie viele Tage ihr noch mit ihrem Mann bleiben. Das Gesicht der Frau durchziehen tiefe Furchen, dabei ist sie gerade einmal 58. Sie sitzt in ihrem dunklen, schäbigen Zelt, irgendwo auf den Feldern im libanesisch-syrischen Grenzgebiet. Turfa Dali ist außer ihrer Würde nicht viel geblieben. Neben ihr kauert Ehemann Assad, der in seiner rechten Hand einen kleinen Inhalator hält. Er hat schweres Asthma. Turfa Dali sagt: „Ich mache mir große Sorgen um meinen Ehemann. Was, wenn das Virus zu uns kommt? Niemand wird uns helfen, da bin ich mir sicher.“

Turfa Dali lebt mit ihrer Familie in einem von hunderten provisorischen Flüchtlingslagern in der libanesischen Bekaa-Ebene. Die Menschen, die seit vielen Jahren hier ausharren, fürchten, dass bald auch bei ihnen Covid-19 seinen befürchteten Auftritt haben könnte. Eine berechtigte Sorge; in einem palästinensischen Lager in der Region wurden gerade erst die ersten fünf Infektionsfälle entdeckt.

Während sich die Menschen in den Industrieländern mit Seifen und Desinfektionsmitteln eindecken, mangelt es in den Flüchtlingslagern schon an ausreichend Wasser, um sich regelmäßig die Hände zu waschen. Ihre Camps dürfen die Bewohner nur in Ausnahmefällen verlassen. Vor dem Eingang patrouillieren Wächter, ausgestattet mit Atemschutzmasken, Handschuhen und Fiebermessgeräten. Im Zelt sitzt Assad Dali und sagt: „Ich war schon seit einigen Wochen nicht mehr beim Arzt.“ Er habe Angst und wisse nicht, wie er sich vor dem Virus schützen soll.

Hilfsorganisationen stellen jeder Familie einen Wassertank wöchentlich zur Verfügung. Die Dalis sind zu neunt, drei Generationen. Turfa und ihr Mann Assad (63), ihr Sohn Mohammad (29), seine Frau Bushra (23) und ihre fünf Kinder. Die Kleinste, Asma, ist gerade mal ein Jahr alt. Mohammad Dali erzählt, dass Mitarbeiter des Libanesischen Roten Kreuzes im Camp waren. „Wir sollen zwei Meter Abstand voneinander halten, haben die uns erklärt.“ Mohammad Dali ist noch immer fassungslos, wenn er daran denkt: „Das Nachbarzelt ist nur wenige Zentimeter entfernt, wir leben hier zusammen auf 15 Quadratmetern.“ Der Vater sammelt Regenwasser mit einer Zeltplane, damit sich die Familie waschen kann.

Mit einer massiven Verbreitung des Virus wäre der Libanon überfordert. Der Mittelmeerstaat steckt in einer schweren Wirtschaftskrise und steht vor dem Bankrott. Seit Oktober vergangenen Jahres protestierte die Bevölkerung auf den Straßen gegen Korruption und Misswirtschaft der politischen Elite. Die Ausschreitungen waren gewaltsam, es gab Hunderte Verletzte. Das Gesundheitssystem ist marode, landesweit fehlt es an Ausrüstung und medizinischem Gerät. Das Personal des Rafik-Hariri-Krankenhauses in Beirut streikt zwischenzeitlich wegen schlechter Arbeitsbedingungen und nicht bezahlter Gehälter. Eine Katastrophe, denn es ist die einzige öffentliche Klinik mit Quarantänebetten im Land.

Bislang verläuft die Infektionskurve flach: Die Behörden haben 696 Covid-19-Patienten registriert, 22 Menschen sind gestorben. Die libanesische Regierung hat schon in einem frühen Stadium den Notstand ausgerufen und mit strengen Maßnahmen reagiert: Schulen und Restaurants wurden bereits Anfang März geschlossen. Polizei und Militär patrouillieren auf den Straßen. Das öffentliche Leben ist weitgehend lahmgelegt und die Bevölkerung angehalten, zu Hause zu bleiben. Doch in den vergangenen Tagen f lammten die Proteste auf den Straßen wieder auf. Die Menschen fordern eine Lockerung der Beschränkungen, denn diese bedeuten für viele den finanziellen Ruin. Lieber sterben wir an dem Virus als an Hunger, sagen die Demonstranten.

Die schiitische Miliz Hizbullah, die in der Regierung sitzt, inszeniert sich derweil als Retter des kollabierenden Staates, spricht von einem „Krieg gegen das Virus“. Besonders gefährdet: die schätzungsweise 1,7 Millionen Geflüchteten, die im Libanon leben, Palästinenser und Syrer, bei einer Gesamtbevölkerung von knapp sieben Millionen Menschen. Kein Land der Welt beherbergt prozentual zur Einwohnerzahl mehr Geflüchtete. Experten warnen vor den nächsten Wochen. Die WHO Libanon teilt mit: „Angesichts der hohen Anzahl an Geflüchteten im Libanon, von denen viele in überfüllten Zeltsiedlungen leben, haben wir Sorge, dass sich die Ausbreitung des Virus weiter verschärfen wird.“

Jacqueline Flory teilt diese Bedenken. Die 44-jährige Münchnerin unterstützt seit vielen Jahren mit ihrem Verein „Zeltschule“ syrische Geflüchtete im Libanon. Die Organisation baut Schulen in den Camps und versorgt Familien mit Lebensmitteln und Medizin. Flory kennt die Region gut und warnt vor den Folgen einer Pandemie in den Lagern: „Die Geflüchteten stehen ganz unten in der Prioritätenliste, wenn es um die Versorgung Schwerkranker geht. Dass es für sie Intensivbetten und Beatmungsgeräte geben wird, halte ich für ausgeschlossen.“

Die medizinische Versorgung der Geflüchteten war bereits vor der Bedrohung durch Covid-19 katastrophal. Zwar gibt es in der Bekaa-Ebene Medizinstationen, in denen sie sich kostenlos behandeln lassen können – jedoch nur ambulant. Krankenhausaufenthalte müssen sie selbst zahlen. Für die meisten Familien unmöglich. Denn durch die Wirtschaftskrise im Land haben nicht nur Hunderttausende Libanesen ihre Jobs verloren. Auch Syrer finden kaum noch Arbeit als Tagelöhner. Mehr als 70 Prozent der Geflüchteten leben unter der Armutsgrenze.

Mohammad Dali sagt: „Wir haben nicht einmal genug Geld für Brot. Ich habe Angst, dass wir hier verhungern.“ Neben ihm sitzt Turfa Dali. In den vergangenen Wochen haben sie und die Familie das Zelt kaum verlassen. Sie sitzen in ihrem Wohnraum, tagein, tagaus. Besonders die Kinder leiden darunter: Ihnen fehlen Spielsachen, mit denen sie sich ablenken können. Die Großmutter weiß nicht, dass Kinder in der Regel milde Symptome haben, das Virus aber übertragen können. „Ich lasse meine Enkelkinder nicht mehr raus. Sie sollen keinen Kontakt zu niemandem haben“, sagt die Großmutter.

Die Mitarbeiter von „Zeltschule“ haben in den vergangenen Wochen Desinfektionsmittel, Seife und Atemschutzmasken in Lagern verteilt. Außerdem bekommen die Bewohner Informationsblätter mit Hinweisen, wie sich verhalten sollen. Jacqueline Flory ist sich aber auch sicher, dass das allein die Katastrophe nicht aufhalten kann: „Ich halte es für unausweichlich, dass das Virus die Lager er- reicht. Wenn Covid-19 erst einmal ausbricht, wird es in den Lagern zu einem Massensterben kommen.“ Auch Turfa Dali hat Angst, dass Menschen sterben werden. Sie weiß, dass sie aufgrund ihres Alters zu der Risikogruppe gehört. Aber für sie zählt nur das Leben ihrer Familie: „Ich wünsche mir, dass es mich trifft und nicht meine Kinder und Enkelkinder. Sie haben ihr ganzes Leben noch vor sich. Ich hab mein Leben gelebt. Ich kann sterben.