Zeitenspiegel Reportagen

Die Geheimnisse meines toten Nachbarn

Von Autor Philipp Maußhardt

Unser Autor hat eine fremde Wohnung entrümpelt, er fand Verstörendes: Sprengstoff, Nacktfotos – und eine geschändete Thorarolle. Rekonstruktion einer Familiengeschichte.

Wir saßen am Frühstück, es war der zweite Weihnachtsfeiertag, und wir hatten gerade „hoch soll er leben, 13 Mal hoch!“ gesungen. Denn unser Sohn feierte Geburtstag. Als es an unserer Wohnungstür klingelte.

Vor der Tür stand eine unbekannte Frau, in der Hand eine Bäckertüte mit frischen Brötchen, und sie sagte: „Können Sie bitte die Polizei rufen, mit Herrn Mayer stimmt etwas nicht. Er macht nicht auf. Er ist sonst sehr zuverlässig.“ Während meine Frau die Polizei anrief, lief ich im Treppenhaus ein Stockwerk höher und klingelte. Aber nichts rührte sich. Herr Mayer lag, das sah ich, als die Feuerwehr schließlich die Wohnungstür geöffnet hatte, nackt auf dem Fußboden und war tot.

„Herzinfarkt“, diagnostizierte die Notärztin. Herr Mayer, mein Nachbar, war 66 Jahre alt geworden.

Gegen Mittag war schließlich der Bestatter eingetroffen, da waren Polizei, Feuerwehr, Notarzt und die Frau mit den Brötchen schon wieder verschwunden. Auch der Bruder von Herrn Mayer, der von der Polizei informiert worden war, hatte nur kurz vorbeigeschaut, einen Blick auf den Toten geworfen und etwas gemurmelt von „nichts mit dem zu tun“. Dann war er schnell wieder gegangen. So stand ich allein mit dem Bestatter vor dem Leichnam auf dem Fußboden und half ihm, den 125 Kilogramm schweren Körper in einen Leichensack zu schieben. Anschließend schleppten wir ihn auf einer Trage vom dritten Stock hinunter zur Straße.

Meine Familie und ich waren erst drei Monate vorher in das Haus am Tübinger Neckarufer eingezogen. Wir hatten das große, alte Gebäude zusammen mit Freunden gekauft. Herr Mayer, der ältere Mieter in der Wohnung über uns, war mir nur ein paar Mal im Treppenhaus begegnet. Er wohnte allein auf 170 Quadratmetern, ein Zimmer seiner Wohnung hatte er an eine Studentin untervermietet. Herr Mayer war mir unsympathisch. Er grüßte nur mürrisch und suchte ständig Streit. Einmal hatte ich seinen Besen im Keller benutzt und mit den Borsten nach unten wieder abgestellt. Ein anderes Mal störte ihn ein Stuhl, den ich in die Gartenlaube stellte. Das sei seine Laube. Er schrieb mir einen vorwurfsvollen Brief, ich wisse wohl nicht, „was man unter guter Nachbarschaft“ verstehe.

Der Nachlassverwalter der Stadt, der immer dann gerufen wird, wenn keine Angehörigen auffindbar sind oder diese das Erbe ablehnen, scannte wenige Tage später die mit Schränken vollgestellte Wohnung. Mit dem Blick eines erfahrenen Viehhändlers suchte er nach allem, was noch einen gewissen Wert versprach. Schließlich verschwanden eine Handvoll Schmuck und die Autoschlüssel in seiner Aktentasche. „Mehr ist da nicht“, sagte er, „den Rest können Sie entsorgen.“ Dafür sei der Staat nicht zuständig.

Aus den Schränken quoll alte, muffelige Wäsche. Eines der Zimmer hatte Herr Mayer als Werkstatt für Modellbau genutzt. Er war Elektromeister und seit vielen Jahren arbeitslos. In seiner Freizeit baute er maßstabsgetreu Panzer, U-Boote und Kampfhubschrauber nach. Überall lagen Kabel herum, in einer Ecke stand, sauber nachlackiert, eine entkernte amerikanische Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg.

Die Weihnachtsferien verbrachte unsere Hausgemeinschaft vorwiegend mit dem Ausräumen seiner Wohnung. Wir trennten Elektroschrott vom Alteisen, warfen die Pornofilme in den Sack für recycelbaren Müll und verschenkten die Möbel. Als wir mehrere, in Plastik eingeschweißte Päckchen fanden, holten wir einen Sprengstoffexperten, der das Kaliumpermanganat und das Magnesiumpulver sachgerecht entsorgte. Herr Mayer war offenbar ein Waffennarr, alle Bücher, die wir fanden, handelten von Krieg und Kriegsgeräten. Die Menge an Sprengstoff, sagte der Experte, hätte genügt, unsere Straße in die Luft zu jagen.

Herr Mayer hatte fast sein ganzes Leben in diesem Haus verbracht. Er war noch ein Kind, als seine Eltern einzogen. Eine eigene Wohnung nahm er nie, er blieb unverheiratet. Als seine Eltern starben, wechselte er nur vom Kinderzimmer in das Ehebett seiner Eltern. Alfred und Hedwig Mayer, die Eltern, hingen als Ölporträts an der Wand des Wohnzimmers. Mit ausdruckslosen Gesichtern schauten sie auf eine Landschaftstapete mit Gebirgssee vor Herbstwald. Vater Alfred, abgebildet in der Uniform eines Wehrmachtssoldaten, dekoriert mit dem Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse mit Schwertern, Mutter Hedwig in Zivil.

Wir nahmen die Bilder von der Wand und sahen auf die Rückseite. Der Maler hatte als Leinwand für beide Porträts das Pergament einer Thorarolle verwendet. Ein Doppelbild: vorne der Nazi, hinten das zweite Buch Mose, Exodus, Kapitel 34: Vor deinem ganzen Volk werde ich Wunder wirken, wie sie auf der ganzen Erde nie geschehen sind. Das Dokument einer Demütigung.

Nur wenige hundert Meter von unserem Haus entfernt, in derselben Straße, liegt der Platz der ehemaligen Tübinger Synagoge. In der Reichspogromnacht ging das jüdische Gotteshaus in Flammen auf, Tübingen, die Stadt des Geistes, war schon früh dunkelbraun. Augenzeugen berichteten, dass die Einrichtung und Kultgegenstände der Synagoge in den Neckar geworfen wurden. Alfred Mayer hatte zu dieser Zeit keine Funktion in der NSDAP. Er war damit beschäftigt, zusammen mit seinem Bruder Fritz ein Elektrogeschäft als „Lichtgestalter und Radiospezialist“ in Tübingen aufzubauen. Dafür, dass er bei der Schändung der Synagoge anwesend war, gibt es keine Belege.

Der eigentlichen „Lichtgestalt“ seiner Zeit kam Alfred Mayer aber bald schon ganz nahe: In den ersten Kriegsmonaten stieg der Gefreite bereits zum Zugführer eines Infanterieregiments auf und durfte – als Hitler im Juni 1940 das besiegte Frankreich besuchte – ihm mit der Kamera ganz dicht folgen. Alfred, der Lichtgestalter, und Adolf, die Lichtgestalt: Immer hatte er seinen Fotoapparat griffbereit im Tornister. In einer Kiste im Flur der Wohnung fanden wir mehr als 600 Bilder von Kriegsschauplätzen, an denen Alfred als „Kriegswerkmeister“ gewirkt hatte.

Auch aus Charkow, einer ukrainischen Industriestadt, die die Wehrmacht im Oktober 1941 nach heftigen Kämpfen einnahm. Rund 15 000 Juden aus Charkow wurden in den folgenden Monaten in einer Schlucht nahe der Stadt ermordet. Die Schrift, so sagten uns Experten, deute darauf hin, dass die Thorarolle aus einer Synagoge in Ost- oder Südosteuropa stamme. Mayer fotografierte auch, wie ärmlich gekleidete Frauen und Männer in Güterwaggons gepfercht wurden. Wahrscheinlich sind es ukrainische Zwangsarbeiter auf dem Weg ins „Reich“.

Zu Hause in Tübingen saß die frisch vermählte Ehefrau von Alfred mit ihrem ersten Sohn. Ein Foto seiner Frau trug Alfred immer bei sich, es diente als Vorlage für das Ölporträt, wie auch sein eigenes Porträt von einem Foto stammt. Gut möglich, dass er sie in Charkow anfertigen ließ. Jedenfalls fehlt jeder Hinweis darauf auf den Bildern. Alfreds Schwester, die heute in einem Altenheim in Tübingen lebt, kann sich nicht erinnern, die Gemälde jemals in der Wohnung ihres Bruders gesehen zu haben. Nur das Kindermädchen, das nach dem Krieg hin und wieder auf die beiden Buben von Alfred und Hedwig aufpasste, sah sie im Schlafzimmer der Eltern hängen. Dann verschwanden sie wohl für längere Zeit im Schrank. Erst Sohn Heinrich holte sie wieder heraus und hängte sie an die Wand.

Und nun hatten wir Hauseigentümer dieses Bild „geerbt“, den Nazi auf der Thorarolle. Was damit tun? Auf den Müll werfen? Der nächsten Jüdischen Gemeinde übergeben? Das Stadtmuseum informieren?

Unser Fund hatte sich schnell herumgesprochen. Wenige Monate später wandte sich Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) an uns und leitete die Bitte des orthodoxen Landesrabbiners weiter, die Thorafragmente an die Jüdische Gemeinde auszuhändigen, „damit sie nach jüdischem Ritual beerdigt werden können“. Wir beschlossen, die Bilder dem „Haus der Geschichte“ in Stuttgart zu schenken. Von dort werden sie im September nach Krakau ausgeliehen, zu einer Ausstellung im Jüdisch-Galizischen Museum unter dem Titel „On the back of the Torah“ – auf der Rückseite der Thora. Der US-Ausstellungsmacher Jason Francisco stellt die Bilder dabei in einen Zusammenhang zu den Textstellen der Thora auf der Rückseite und hat teilweise konträre Statements dazu in Videosequenzen zusammengestellt. Wobei schon die Frage, was Vorder- und was Rückseite ist, eigentlich unzulässig ist. Sie hingen nur 70 Jahre falschherum. „Juden können beim Anblick dieser Bilder tiefen Schmerz empfinden“, sagt Jason Francisco, „aber sie schaffen ein ungewöhnlich starkes Erlebnis, um den Opfern der Shoah zu gedenken.“

Wie er so dalag, tot und nackt, war mir ein Fotoapparat aufgefallen, der in der Mitte des Zimmers auf einem Stativ stand. Ich kehrte nochmals in das Zimmer der Studentin zurück, die in den Weihnachtsferien war, drückte die Menütaste des Fotoapparats und sah auf dem Display die Bilder von Heinrich Mayers letzten Minuten. Wie er sich nackt im fremden Bett wälzt. Wie er sich grinsend eine Paprika vor sein Geschlechtsteil hält. Es sind Fotos, die vor nichts Halt machen, die keine Scham und keinen Respekt erkennen lassen.

Der Inhalt von Mayers Computer, der nun mir gehörte, war ein einziger Übergriff. Jeder seiner Untermieterinnen hatte er, säuberlich nach Namen sortiert, einen Ordner gewidmet und die Fotos, die er in ihrer Abwesenheit in ihrem Zimmer machte, in Listen aufgeführt. Ein Ordner hieß „allgemein“ und enthielt Fotos, die Mayer nackt auf öffentlichen Plätzen in der Stadt oder in Parkanlagen zeigten. Mal sieht man ihn entblößt auf dem Parkdeck, mal lässt er mit heruntergelassenen Hosen einen Kampfhubschrauber im Stadtpark kreisen. Mitten am hellen Tag steht Mayer splitternackt in unserem Hauseingang bei offener Türe.

Plötzlich war ich in das Leben meines Nachbarn hineingeschlittert, war in einer Mischung aus Neugier, Ekel und Entsetzen immer weiter in die Privatsphäre dieses Mannes eingedrungen, der selbst keine Privatsphäre achtete. Ob die Respektlosigkeit, mit der Vater Mayer sich in Uniform auf eine Thorarolle malen ließ, ob sich diese Verachtung auf den Sohn übertrug? Wie oft und wie laut wird man im Hause Mayer wohl darüber gelacht haben, wenn Alfred oder Heinrich die Porträts mal wieder von der Wand genommen und umgedreht hatten?

„On the back oft the Torah: Wartime Portraits from Tübingen, Germany“ ist vom 6. September bis 6. November im Jüdisch-Galizischen Museum in Krakau zu sehen. Mehr Infos unter www.de.galiciajewishmuseum.org sowie www.jasonfrancisco.net.