Zeitenspiegel Reportagen

Die Leere von Erfurt

Erschienen in "Die Welt", 26. April 2003

Von Autor Jan Rübel

Heute vor einem Jahr erschoss Robert Steinhäuser 16 Menschen: Rache für seinen Schulverweis. Wie wird eine Stadt damit fertig? Die Trauer, fand unser Reporter, geht sehr verschiedene Wege

Ronny, du bist mein Held” - in Mädchenschrift geschrieben, in ein Schulheft. In Plastikfolie liegt es am Grab. Daneben drücken kleine Muscheln ein R in die trockene Erde. Der Hügel, unter dem Ronny Möckel liegt, ähnelt einem wohl geordneten Flohmarktstand. Matchbox-Autos, die an einem Patronengurt parken. Vor dem Grabkreuz aus Holz posieren drei Teddybären. Ein Grab, das auffällt unter all den Granitsteinen und Stiefmütterchen auf dem Erfurter Hauptfriedhof.

Ronny sei halt anders gewesen, sagt ein Junge vor der Gutenberg-Schule. Irgendwie individuell, ein Vorbild. Der 14-Jährige versenkt seine Hände in breiten Rapper-Jeans, beugt sich nach hinten, als suche er Abstand zu diesem Gymnasium, an dem er zum ersten Mal seit einem Jahr vorbei geht. “Ronny war mein Freund”, sagt er, und jetzt zieht seine Freundin ihn weg. Ronny starb vor einem Jahr, als der vomGymnasium verwiesene Robert Steinhäuser es betrat und in zehneinhalb Minuten zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin, einen Polizisten und schließlich sich selbst erschoss.

Wer Spuren des Amoklaufs sucht, findet sie in schriftlichen Mahnmalen, die den Jugendstilbau, der seit der Tat leer steht und saniert wird, überziehen. Ein stummes Zwiegespräch zweier Zeiten: Schulgründerzeit - Schulmörderzeit. Das “Lerne um zu leben” von 1908 in den grauen Sandstein gemeißelt - und nun das blaue Graffiti-Menetekel: “Schande für Erfurt”. Drinnen im Hauptflur Lichtenberg in Fraktur: “Mehr als das Gold hat das Blei die Welt verändert, und mehr als das Blei in der Flinte das Blei im Setzkasten.”

Unter dem im Lauf der Jahrzehnte vergilbten Zitat steht Uwe Pfotenhauer, der Hausmeister, und rührt in seinem Kaffeebecher. Hört nicht auf zu rühren. Der Löffel kreist und kreist. Man muss sich die Trauer als konzentrische Kreise vorstellen. Es gibt in Erfurt verschiedene solcher Ringe des Trauerns. Im äußersten regiert die Normalität; dort ist ein Jahr danach der Schrecken dem Alltag gewichen.

Andere mühen sich noch heute mit dem, wofür unsere Zeit ein Wort aus dem sozialtechnischen Baumarkt hat: Trauerarbeit. Sie kämpfen mit ihren Erinnerungen an Tod und Verlust. Und dann gibt es noch die, welche mit den Folgen jener zehneinhalb Minuten überhaupt nicht zurecht kommen. Solche wie Uwe Pfotenhauer, der ausschaut wie ein Didi Hallervorden, dem die Späße abhanden gekommen sind. Das ist der innerste Kreis des Unglücks. Keiner, der sich darin bewegt, müht sich um Alltag und Aufarbeitung. Uwe Pfotenhauer nennt, was er täglich tut, den “Rosenweg”.

Still ist es hier. Er steigt in den zweiten Stock. Aus den Klassenräumen dringen keine gedämpften Stimmen, kein Stuhl knarrt. Zur Pause wird es nicht klingeln. Die Schüler sind für die Zeit des Umbaus ans andere Ende der Stadt gezogen. Nur in psychologischer Begleitung dürfen sie hier herein. Der Hausmeister blieb allein zurück.

Pfotenhauer begrüßt seine Toten, wie jeden Morgen. Er redet jetzt im Raum 206 mit Yvonne-Sofia Fulsche-Baer, Lehrerin für Französisch und Klausuraufsicht am 26. April. Sie starb im 206. Hier hinterließ Pfotenhauer eine Rose - damals. Im Raum gegenüber erwischte es Ronny Möckel. Er war der Klassenälteste, hielt die Tür zu und rettete seiner Lehrerin das Leben. Steinhäuser, eigentlich nur auf Lehrer aus, jagte Ronny durchs Holz sechs Kugeln in den Bauch. “Bei einem schlechten Tag dauert mein Gang zu allen Tatorten recht lang”, sagt Pfotenhauer. “Die Schule ist für mich ein Magnet.” Das ist eine von den Sachen, die er nicht versteht. Eine andere ist, dass der Hausmeister mit seinen großen Augen und seinen großen Ohren damals nicht die Schüsse aus dem Sekretariat hörte. Obwohl er nur ein paar Meter entfernt in seinem Büro saß. “Ich komme auch nicht mit der Zeit zurecht”, sagt er. Wie oft ist er mit der Stoppuhr die Todesstrecke des Robert Steinhäuser abgelaufen - und nie unter eine Viertelstunde gekommen. Der 40-Jährige ist noch in Therapie. Seinen täglichen Rosenweg hat sie nicht beenden können. “Das ist mein Ritual.”

Gegenüber der Gutenberg-Schule wirbt Renate Rügers Bäckerei mit dem Slogan: “Seid klüger, kauft bei Rüger”. Seit nur noch Hausmeister Pfotenhauer seine eremitischen Runden durch die Schule dreht, ging der Umsatz um die Hälfte zurück. “Ihr sorgt dafür, dass die Wunden nicht verheilen!”Ihr - das sind die Reporter. “Wir sollten diese Tragödie vergessen.”

Das wollen die Jugendlichen von “Schrei nach Veränderung” ganz sicher nicht. Johannes Sobko kratzt sich den nackten Fuß. “Robert hat eine Glaskugel zerschossen, die über der Stadt lag. Aber die Bürger haben schnell eine neue aus Ritualen gebaut - um nicht zu fragen, was Robert zu seiner Tat trieb.” Die Gruppe gründete sich nach dem Anschlag. Seitdem suchen die Jugendlichen jeden Montagabend in offenen Debatten nach Antworten. Alle haben sie Schule oder Studium geschmissen. Nun renovieren sie eine heruntergekommene Fabriketage aus rotem Backstein. Sie wollen dort gemeinsam wohnen “und verändern”. “Jeder von uns hat in der Schule Aggressionen entwickelt, diese Angst vorm Versagen wie Robert gehabt.” Ludwig sagt das und schüttelt seine braunen Rasta-Locken. Die Schule sei eine Erziehungs-Anstalt. Tugenden verlerne man da. Aber das wolle ja keiner “da oben” hören.

“Da oben” arbeitet Detlef Baer, der persönliche Referent des thüringischen Sozialministers. Momentan steht er unten, im Foyer des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt, und schaut in einen Holzbottich mit Hunderten Briefen. Die Gutenberg-Schule stellt einige der 18 000 Beileidsbekundungen aus, die sie erhielt. Baer hält in seiner rechten Hand eine rote Rose. Sein Blick kommt nicht los von jenem braunen Umschlag von der Columbine-Schule aus Littleton, USA. 1999 - auch ein April - erschossen dort zwei Schüler zwölf Mitschüler und einen Lehrer. Von fern scheint Detlef Baer frohen Mutes, interessiert. Beim Gespräch zittern die Mundwinkel um die roten Lippen und werden nur von zwei Pausbacken gestoppt.

In den ersten sechs Wochen nach dem “26. 4.” habe er nicht wissen wollen, wie seine Frau gestorben sei. Keine Zeitungen gelesen, kein Fernsehen. “Ich wollte nicht auf dem falschen Fuß erwischt werden.” Außerdem gab es die dreijährige Frieda, der er erklären musste, dass ihre Mutter nun vom Himmel auf sie herab blicke. “Frieda ist glücklich”, sagt Baer und lächelt ein wenig ungläubig. Er braucht keinen Rosenweg. Er habe sich, sagt der 38-Jährige, “freigeschwommen”. Vorbei die Zeiten, in denen er im Supermarkt Blicke im Rücken spürte, Blicke auch von Bekannten, die seinen Augen auswichen. Er selbst durchbrach die Isolation vorerst nicht. “Nach einem halben Jahr begann ich dann, größere Kreise zu ziehen. Ich redete über den Tod meiner Frau.” Übrig blieb ein Gefühl von Sinnlosigkeit. “Es gibt keinen Grund. Schluss.” Nun sehnt er den Jahrestag herbei, diesen Sonnabend - damit der endlich vorüber ist. Danach - er ist sich sicher - werde einiges anders sein und sein Leben vielleicht jene “langfristigen Dimensionen wiederfinden”, die es nach dem Tod der geliebten Frau verlor. “Noch lebe ich von Wochenende zu Wochenende.”

Arthur Wild ist einer, der ihm Mut zusprach. Der Pfarrer eilte am Tag des Amoklaufs zur Schule und blieb an Baers Seite. Als Stunden später, am frühen Abend, die Erfurter Polizei endlich die Namen der Toten preisgab, führte Wild seinen Bekannten in einen Raum und sagte: “Ich muss dir eine traurige Mitteilung machen ” Dann umarmten sie sich. “Wir konnten nur schweigen, um uns zu verstehen”, erinnert sich Pfarrer Wild heute. Die 200 000 Einwohner Erfurts seien an jenem Tag ohne Worte gewesen. Stattdessen eilten sie in die vielen Kirchen der Stadt, wie damals, als die Mauer fiel. Nur jeder fünfte Bürger ist Mitglied einer Kirche. “Der Drang nach Spiritualität war sehr groß. Man spürte den Tod.” Wild, ein hagerer Mann mit hohlen Wangen und silbrigem Haar, dachte damals doppelt an den Tod: Er war schwer krank, sein Leben hing am seidenen Faden. Nun seien die Kirchen wieder so leer wie gewohnt. “Es gibt aber eine Lehre aus den Schüssen. Die Leute reden mehr miteinander, besonders die Jungen mit den Alten.”

Am Haupteingang zum Gymnasium liegt eine abgerupfte, blässliche Löwenzahnblüte. Daneben ausgebrannte Teelichte. Vor dem Portal grünen zwei mächtige Buchen, ganz an den Enden ihrer dürren Äste. Detlef Baer will einen Urlaub planen. Und Arthur Wild hat seine Krankheit überwunden. Heute ist der 26. - das Jahr, das auf Erfurt gelegen hat wie ein Stein, ist vorüber. Das Trauerjahr. Niemand hat es ausgerufen. Es war einfach da. Sehr mächtig, keinen Widerspruch duldend. Morgen ist der erlösende 27. Alles neu macht der Mai.