Zeitenspiegel Reportagen

Die mit den Rentieren leben

Erschienen in „natur“, 01/19

Von Autor Bernd Hauser

Rund um die Arktis leben rund zwei Dutzend Völker vom Rentier. Können sie ihre traditionelle Lebensweise trotz Klimawandel und Bebauung der Tundra bewahren?

Der Motorschlitten heult über das Eis zugefrorener Seen hinweg, dann schießt er viele Kilometer weit zwischen Zwergbirken hindurch, aus denen Schneehühner aufflattern. Trotz der Handschuhe schmerzen die Finger am Lenker, das Thermometer zeigt 15 Grad Celsius unter null. Erst als wir den Anschaltknopf der Handgriffheizung finden, wird aus der Tortur ein Vergnügen.

Zwei Stunden dauert die 50 Kilometer lange Fahrt von Kautokeino, einer Stadt im nördlichsten Norwegen, ins Irgendwo der Kältesteppe, bis unvermittelt ein Mann vor dem Schlitten auftaucht. In seinem Daunenmantel erinnert er an das Michelin-Männchen. Über der Schulter trägt er ein zusammengerolltes, orangefarbenes Plastikkabel: sein Lasso. “Ich bin Issat Turi”, sagt der Mann. “Willkommen in unserer Siida.” So nennen die Sámi, das einzige indigene Volk Nordeuropas, ihre zeitweiligen Wohnplätze. Die Vorfahren schlugen hier ihre traditionellen Zelte auf, heute übernachten die Turis in einfachen Holzhütten.

Die Siida der Familie Turi besteht seit 100 Jahren. Heute ist sie das Basislager für Issat Turi, 37, und seinen Onkel Johan, der in einer der beiden Hütten vor 64Jahren zur Welt kam. Von hier aus hüten sie ihre halbwilden Rentiere, es sind mehrere Hundert. Die genaue Zahl will Issat Turi nicht verraten, das bringe Unglück, sagt er und lacht. Der Mitteleuropäer weiß gewöhnlich nicht viel mehr über Rentiere, als dass der Weihnachtsmann sie vor seinen Schlitten spannt, um die Kinder der Welt mit Geschenken zu beliefern. Gar keine so fantastische Vorstellung: Das Ren ist die einzige Hirschart der Welt, die der Mensch domestizieren konnte. Die Dhuka im Norden der Mongolei konnten sie so zahm machen, dass sie als Reittiere genutzt werden. In Skandinavien sind sie scheuer.

Den Indianern Nordamerikas war einst der Bison gleichbedeutend mit ihrer Existenz, bis die europäischen Siedler kamen und es ausrotteten. Das Rentier gibt es noch, und mit ihm zwei Dutzend Völker rund um die Arktis, für die es der Ursprung und die Grundlage ihrer Kultur ist. In der Finnmark in Nordnorwegen leben neben Issat Turi und seiner Familie 1500 Sámi in 200 Siidas von 100 000Rentieren. Zählt man alle Hirten in Finnland, Schweden, Russland, der Mongolei, Alaska und Kanada hinzu, kommt man auf weltweit 100 000Menschen mit 2,5 Millionen Rentieren. Doch wie lässt sich ihre traditionelle Lebensweise angesichts schwindender Weideflächen, Klimawandel und immer niedrigeren Preisen für Rentierfleisch bewahren?

Die Antwort der Samen lautet: das alte Wissen sammeln und austauschen. Sich zusammenschließen. Selbstbewusst auf die eigene Kultur und die Güte des Rentierfleisches aufmerksam machen. Dafür wollen das Sámi University College und der Interessenverband “International Center for Reindeer Husbandry” (ICR) im Sámi-Hauptort Kautokeino sorgen - Institutionen, die sich die Samen im reichen Ölstaat Norwegen erkämpfen konnten. Mit diesen Einrichtungen machen sie sich für die weniger ressourcenstarken Völker vor und hinter dem Ural zu Vorkämpfern der gemeinsamen Sache. Junge Leute aus Nordskandinavien und den Kältesteppen Asiens treffen sich in Kautokeino zu akademischen Seminaren, Simultanübersetzer übertragen die Worte der Dozenten ins Russische und Mongolische. Es geht um arktische Biodiversität, Klimawandel und Business-Ideen.

Eine davon: das Ren besser zu vermarkten, es auf die Speisepläne der “Neuen nordischen Küche” zu heben, die Gourmets mit ihrer Forderung nach regionaler Authentizität seit einem Jahrzehnt nach Skandinavien lockt. Also organisieren die jungen Rentierzüchter während ihres Seminars auch ein Food-Festival, um sich gegenseitig ihre traditionellen Speisen zu präsentieren. Issat Turi liefert dafür die Rohware. Mit seinem Motorschlitten fährt er vorsichtig in seine Herde hinein, die Tiere weichen ihm ängstlich aus. Issat steigt ab, macht mit seinen Fellschuhen bedächtige Schritte. Die Rentiere lassen ihn auf Lasso-Nähe herankommen. Die Schlinge des Plastikkabels fliegt durch die Luft und einem Ren ums Geweih. Es bockt und wehrt sich. Routiniert drückt Issat es auf den Boden, und sein Messer sticht am Schädelansatz in den Nacken des Tieres, um es zu lähmen. Dann folgt der Stich ins Herz. Der Hirte durchtrennt die Kehle des Tiers, bindet einen Knoten in die Speiseröhre. “Jetzt warten wir eine halbe Stunde”, erklärt Issat. “Der Magensack kann sich jetzt aufblähen, dann spannt die Haut und lässt sich besser abziehen.”

Zuerst schneidet Issat Turi die Haut entlang der Hinterläufe auf. “Aus der Haut der Beine machen wir unsere Schuhe.” Nichts vom Ren geht verloren. Selbst das Nähgarn liefert das Tier, es besteht aus in feine Streifen geschnittenen Rückensehnen. Der Hirte hat inzwischen die Bauchdecke geöffnet, nimmt die Eingeweide heraus. “Schön warm!”, sagt er. Die Außentemperatur liegt bei minus 18 Grad Celsius, er erledigt seine Arbeit ohne Handschuhe.

Aus den Hütten der Siida sind inzwischen Issats Mutter Kirsten, 70, und Nichte Sara, 15, mit einem weiteren Motorschlitten herangebraust. Kirsten schöpft das Blut mit einer Kelle in einen Eimer und Sara schlägt es mit Birkenreisig, damit es nicht klumpt. Später mischen die beiden Frauen in der Hütte das Blut mit Roggenmehl und Salz und füllen es in die geputzten und umgedrehten Därme. Selber schlachten, das Blut für den Eigenverbrauch verwursten und das Fleisch direkt vermarkten: Für Issat Turis Familie ist das ein Akt des Widerstands gegen die norwegische Agrar-Lobby. Verkrustet seien die Strukturen in Behörden und Schlachtbetrieben, sie bevorzugten die Bauern und benachteiligten die indigenen Rentierzüchter, sagt Issat Turi. So sei der Preis für Ren über die Jahre immer mehr gefallen. Die Subventionen belohnten die Züchter, die Renkälber schlachten. “Was für eine Dummheit”, sagt Issat Turi. “Das Fleisch der Kälber hat viel weniger Geschmack als das von erwachsenen Tieren, die lange durch die Tundra gestreift sind.” Außerdem würden durch die staatlichen Zuschüsse die traditionellen Herden zerstört. Sinnvoll wäre ein widerstandsfähiger Mix aus Hirschkühen, kastrierten Hirschen und Hirschbullen, stattdessen entstünde ein großer Überhang an weiblichen Tieren, denen ihre Kälber zu früh weggenommen werden. “Es wäre viel besser, die Zuschüsse auf das insgesamt produzierte Fleisch zu beziehen, nicht auf die Kälber.”

Außerdem erziehen die industrialisierten Schlachthöfe und Supermärkte den Verbraucher zum Kauf von nur wenigen ausgewählten Fleischstücken. “60Prozent der Tierkörper landen im Abfall”, sagt Issat Turi kopfschüttelnd. Ein Sakrileg für die Sámi, die noch aus den Hufen der Tiere eine Suppe kochen.

Am nächsten Tag verarbeiten junge Arktishirten Issat Turis Ren, das er selbst nach Kautokeino transportiert hat, beim Food-Festival zu vielen traditionellen Speisen. Leberpfannkuchen zum Beispiel. “Man schneidet die Leber so klein wie möglich und mischt sie mit Milch und Eiern”, erklärt Svetlana Koryakina, 25, vom Volk der Even in der Nähe von Jakutsk. “Ich gebe auch gerne ein bisschen Knochenmark dazu.” Mit ihrem Mann und ihren drei und fünf Jahre alten Söhnen zieht sie zusammen mit zwei weiteren Familien durch die Kältesteppe. “Insgesamt haben wir derzeit 912 Tiere. Die Zahl ändert sich aber täglich, denn manche verlieren wir an Räuber - an Wölfe, Bären und an Wilderer.”

Die Männer in der Familie von Yana Sidorova, 19, vom Volk der Ewenken in Jakutien, gehen regelmäßig auf die Wolfsjagd. Doch gegen die größten Gefahren helfen keine Gewehre, sondern höchstens Gesetzestexte. Minengesellschaften mit ihren Bergwerken, Ölfirmen mit ihren Pipelines, neue Stromleitungen, Straßen und Siedlungen fragmentieren und verkleinern das althergebrachte Weideland aller Rentierzüchter-Ethnien. Die Rentiere versuchen menschengemachte Infrastrukturen zu meiden. Doch die Flechten, die sie fressen, wachsen pro Jahr nur einen Millimeter und jedes Tier braucht davon zwei Kilogramm pro Tag - die Weidegebiete müssen riesig sein. “Deshalb möchte ich in Moskau Jura studieren”, sagt Yana Sidorova. “Ich werde dafür kämpfen, dass wir unsere Weiden behalten können.”

Bayarmagnai Ganbold braucht Feuer für sein Hunguun, das Brot der Dukha aus der Mongolei. Er kniet auf Rentierfellen im eigens errichteten Nomadenzelt und legt vorsichtig den Teig aus Weizenmehl und Rentiermilch in die Glut. Sein Brot ist geformt wie ein großer Donut. “Früher war meine Familie allein in der Wildnis, konnte Beeren sammeln und auf dem Rücken der Rene zur Jagd auf Elche gehen. Jetzt werden wir von den vielen illegalen Goldsuchern gestört”, erzählt der 23-Jährige. “Die größte Herausforderung für uns ist aber der Klimawandel: Die Sommer sind nicht mehr so trocken, deshalb gibt es viel mehr Mücken und Fliegen. Wir ziehen immer an die kühlsten Orte, aber auch dort ist jetzt alles verseucht mit den Insekten. Nichts hilft - außer getrockneter Rendung im Feuer.” Auch draußen in der Siida von Issat Turi scharen wir uns abends ums Feuer, der Kälte wegen. Brust und Rückenstücke vom Ren simmern in einem rußschwarzen Topf, der an einer Eisenkette über den Flammen hängt. Wasser und Salz sind die einzigen Zutaten, später gibt Nichte Sara noch die Blutwurst in den Eintopf. Der Topf wird draußen im Schnee auf einen Holzschlitten gestellt. Es ist bereits dunkel, als Tischbeleuchtung fungieren die Scheinwerfer eines Schneemobils und am Himmel tanzende Nordlichter. Das Fleisch schmeckt leicht süßlich, die Blutwurst mineralisch, am besten mundet uns die kräftige Bouillon, die in den Tassen dampft. Wir übernachten in einem traditionellen Zelt, das Issat Turi für uns aufgestellt hat. Der gefrorene Boden darunter ist bedeckt mit Birkenreisig und darübergebreiteten Fellen, in der Mitte steht ein benzinbetriebener Ofen. Trotzdem ist am Morgen das Wasser in den Flaschen am Rande des Zeltes gefroren.

Issat Turi sieht müde aus. Er war den zweiten Teil der Nacht draußen bei der Herde. Die trächtigen Muttertiere sind unruhig, sie wollen zu den angestammten Plätzen an der Küste ziehen, wo sie ihre Jungen gebären, 300Kilometer entfernt. “Wir mussten verhindern, dass sie loslaufen und sich mit den Herden unserer Nachbarn vereinigen”, erklärt Issat Turi. Noch 1500 Menschen leben von der Rentierwirtschaft in der Finnmark, das sind nur zehn Prozent der samischen Bevölkerung. Warum ist Issat Turi einer von ihnen, lebt als Junggeselle in der Tundra? “Ich weiß es nicht”, sagt der 37-Jährige nachdenklich. “Nicht ich habe dieses Leben gewählt. Es hat mich gewählt!”