Zeitenspiegel Reportagen

Ein Schiff wird kommen

Von Autor Erdmann Wingert

Die Fanggründe vor der mauretanischen Küste gleichen einem Schiffsfriedhof. Für hunderte spanischer Fischer ist das Hospitalschiff „Esperanza del Mare“ oft die letzte Rettung.

Kapitän Jorge García-Casilla raucht wieder. Steckt sich sogar beim Frühstück eine an, versenkt vier Löffel Zucker in sein Espressotässchen und starrt aus wunden Augen in die Runde.

Was ist geschehen? Die Esperanza zieht doch wie am Schnürchen über den spiegelglatten Atlantik 200 Meilen vor der mauretanischen Küste. Keine Meuterei oder Seuche an Bord, kein Unwetter, keine Piraten in Sicht, im Gegenteil: Der Blick aus dem Heckfenster der Offiziersmesse zeigt ein friedliches Bild: Auf dem moosgrünen, mit einem gelben Kreis markierten Achterdeck, das in Notfällen dem Rettungshubschrauber als Landeplatz dient, räkeln sich zwei junge Frauen in der Morgensonne: die Ärztin Natascha Feito und Krankenschwester Lorella Rodríguez, während Bootsmann Rubens wie an jedem Vormittag einen Wetterballon mit Helium füllt. Lotrecht steigt der meterdicke Ball mit seinem kleinen, unterm Ventil baumelnden Sender in die Höhe und verschwimmt als weißes Pünktchen im Zenith.

Hat denn ein Dunkelmann unter den dreißig Crewmitgliedern dem Kapitän schon wieder klammheimlich einen Fisch von der Leine geklaut, die er am Heck höchstpersönlich aus dem Bullauge der Kombüse ins Kielwasser ausgelegt hatte. Sein Zorn über diesen Frevel hallte gestern bis ins Hospital des Unterdecks und erschreckte Krankenschwester Carmen Dunia, die zwischen vierzehn noch ungenutzten Betten saß und Nietzsches Zarathustra las.

Vergeben und vergessen, samt aller guter Vorsätze. „Die Russen“, sagt er und steckt sich eine zweite Zigarette ins graue Gesicht„ sie glauben, ihnen gehört die See.“ Die halbe Nacht haben sie ihm geraubt, mit einem hundert Meter langen Fangschiff, das gegen jede maritime Vorfahrtsregel den Kurs der Esperanza kreuzte, so dass er im letzten Moment die Esperanza stoppen musste, die abdriftete und um ein Haar mit dem Russen havariert wäre.

Es hätte das Ende des Schiffs bedeuten können, das so viele Menschen auf See vor einem elenden Ende bewahrt hat. Esperanza del Mar, die Hoffnung des Meeres: achtzig Meter lang, vierzehn Meter breit, 1977 als Containerfrachter vom Stapel gelaufen, vor zwanzig Jahren zum Hospitalschiff umgebaut und seitdem im Auftrag des spanischen Handelsministeriums in den fischreichen Gewässern des Atlantiks zwischen den Kanarischen Inseln und dem Knie von Afrika unterwegs, ein rostendes Relikt, das dem Begriff der christlichen Seefahrt einen Beigeschmack von Wahrheit verleiht.

Schon auf dieser Höhe querab vom Cap Corbeiro gleicht der Meeresgrund einem länderweiten Friedhof. Ein Chronist der Crew hat die Katastrophen mit spitzer Feder auf einer Seekarte skizziert, die an der Wand neben dem Funkraum hängt: Mehr als siebzig absaufende, mit einem Grabkreuz markierte Schiffe zwischen dem 17. und 27. Breitengrad, im Sturm gekentert, bei Nacht und Nebel von Ozeanriesen untergepflügt, von Piraten gekapert, ausgeplündert und abgefackelt. Eine Regalwand voller Krankenakten im Hospital unter Deck erweitert die Chronik um mehr als 60.000 Tragödien, die von zerquetschten Händen, und amputierten Beinen handeln, von gebrochenen Rippen und fingerlangen Angelhaken im Fleisch, aber auch von Säuferwahn und Paranoia, Tripper und Tuberkulose, Malaria und Aids.

Was hilft gegen die Plagen dieser Welt? Altäre und Denkmäler lehren, dass es Heilige und Helden sind, die uns zur Not beistehen. Aber sehen Heilige und Helden aus wie der kleine knorpelige Medico Jose Munoz, der in seitlich geschlitzten Joggingshorts, die Baseballkappe auf dem Kahlkopf, seine Runden über das Achterdeck dreht? Oder Bootsmann Rubens Pérez, der auf dem Kai von Las Palmas sein dreijähriges Töchterchen küsst, das ihren Krauskopf an sein Stoppelkinn schmiegt und zum Abschied Rotz und Tränen über dem Drachentatoo auf seiner kaffeebraunen Schulter weint?

Oder Elektriker Miguel Borin, mit 23 Jahren der Jüngste, mit einmeterneunzig der Längste an Bord, ein Milchgesicht, das immer zu lächeln scheint, selbst im Halbdunkel des fünfzig Meter langen Laderaums, der eine Art kleine Werft mit Werkbänken, Stromgeneratoren, Schweißgeräten und Taucherausrüstungen beherbergt, dazu zwischen Kabeltrommeln und zwei schwarzen Blechsärgen auch sein Gelände-Motorrad. Das Lächeln versiegt erst, als er die Stahlklappen der Kühlkammern öffnet und die Geschichte vom Untergang der Al Coco aus Las Palmas erzählt, die eines nachts von einem russischen Fangschiffkoloss untergepflügt wurde. Die sechs Fischer des kleinen Boots gingen über Bord, drei fischte die Esperanza nach stundenlanger Suche aus dem Wasser, drei die Russen, die gleich darauf ihre Fahrt fortsetzten. Die Schiffbrüchigen auf dem russischen Schiff starben kurz darauf, die Russen deponierten die Leichen in ihrem Kühlraum auf den gefangenen Fischen. „Als wir sie nach ein paar Tagen übernehmen konnten, waren sie tiefgefroren, alle Viere so von sich gestreckt, dass sie nicht mehr in unsre Kühlkammern passten.“

Gegen Mittag erreicht der erste Hilferuf den Funkoffizier Juan Ruano und gleich darauf steigert sich das Getöse in der haushohen Katakombe unter Deck, in der ein fossiler Dieselmotor der alten Esperanza eine Spitzengeschwindigkeit von achteinhalb Knoten aufzwingt. Die neue Esperanza, die vor kurzem in Spanien vom Stapel gelaufen ist, wird doppelt so schnell sein, ein lebensrettender Vorteil, wenn es gilt, einen Unfallort oder Schwerverletzten im 200 Meilen langen Einsatzgebiet anzulaufen. Sie wird sogar Stabilisatoren ausfahren können, die das Schiff auch bei kabbeliger See halbwegs im Lot halten sollen, auch dies ein entscheidender Vorteil, wenn ein Fall Feinarbeit fordert.

Er tritt am Nachmittag ein, nachdem der Kapitän eines kleinen spanischen Fischerboots um Beistand gebeten hat und Bootsmann Rubens auf dem Vordeck einen der drei Zodiaks über einen galgenförmigen Schwenkkran ins Wasser klatschen lässt. Der Wind hat inzwischen aufgefrischt, das Schlauchboot, von einem bulligen Außenborder getrieben, verschwindet bis auf die roten Sturzhelme der dreiköpfigen Crew, hinter Wellen. Der Patient, den Ärztin Natascha zwischen Haufen nasser Netze, toter Fische und rostiger Ketten untersucht und auf die Esperanza expedieren lässt, ist ein Senegalese, der sich eine nähnadellange Gräte quer durch den großen Zeh getreten hat. Eine Viertelstunde polken und schnippeln Medico Jose und Natascha, eh sie den Fremdkörper extrahiert haben - und ausgerechnet jetzt dümpelt die alte Esperanza wie eine betrunkene Matrone in der Dünung.

Ein leichter Fall, mit gutem Ausgang. Jeder auf der Esperanza weiß Schlimmeres vom lebensgefährlichen Dasein der Fischer zu berichten, die zu Hunderten ihre Netze vor der mauretanischen Küste auswerfen. Allen voran Bootsmann Rubens, der seit 1982 an Bord ist und von daher als Autorität in Fragen maritimer Katastrophen gilt. Rubens baut in seinen Freiwachen detailgetreue Modellschiffe und fotografiert, was als Opfer an Bord gehievt wird. Was die blutigen Bilder, die er in der Röntgenstation entwickelt, nicht zeigen, schildert der kleine Kerl mit den sanften Augen in dürren Worten. Zum Beispiel, wie Polisario-Piraten, die sich als Fischer getarnt hatten, einen portugiesischen Frachters umzingelt und beschossen hatten. Die Esperanza, im letzten Moment per Seefunk zur Hilfe gerufen, schickte ihre Zodiaks aus, übernahm sechzehn Passagiere, darunter acht Tote und fünf Verletzte und versuchte, das leck geschlagene Schiff auszupumpen. Umsonst, der Kahn ging in Flammen auf und sank.

Oder die Bescherung am Heiligen Abend vor zwei Jahren, als ein großer US-Frachter eine Segelyacht unterpflügte, die mit Ruderschaden durch die pottfinstere Nacht trieb. Der Frachter fischte drei der sechs Segler aus dem Wasser und fuhr weiter, obgleich er verpflichtet gewesen wäre, drei Tage nach den anderen Schiffbrüchigen zu suchen. Tatsächlich lebten noch zwei, als die Esperanza am Unglücksort erschien. Ein Mann und ein Mädchen, beide schwer verletzt, das Mädchen, das beide Beine verloren hatte, starb im Operationssaal der Esperanza.

Am Abend liegt die Sonne wie ein blutiges Bullauge auf dem Horizont. Schwärme fliegender Fische schwirren über die Bugwelle, hinter ihnen buckeln zwei Delphine aus dem Wasser. Der Kapitän, ein Stückchen Süßholz statt der Zigarette zwischen den Zähnen, verschwendet keinen Blick an das schöne Bild. Er fixiert zwei rostige Riesen, die backbord voraus dicht an dicht ankern: Ein Fangschiff, das monatelang vor Ort gefischt hat und jetzt seine Fracht einem so genannten Mutterschiff übergibt, das ihm gleichzeitig Treibstoff und Proviant liefert. „Russen!“ knurrt der Kapitän und spuckt sein weich gekautes Hölzchen über das Schanzkleid der Brücke.

Aber es sind nicht die Russen allein, die ihm das Leben schwer machen. Auch Japan, Korea, Taiwan und Polen, ja selbst sein Heimatland Spanien gehören zu den Ländern, die Flotten von Fangfabriken zu weit entfernten Gewässern schicken und damit weltweit neunzig Prozent der Hochseefischerei bestreiten. Mit ruinösen Methoden wie Schleppnetzen, die so groß sind, dass man mit ihnen spielend den Reichstag verhüllen könnte und achtzig Meilen langen Schleppleinen, die mit 3000 Haken bestückt sind.

Anders als die kleinen Fischer, oft Familienbetriebe, in denen der Vater am Ruder, die Mutter am Herd und die Söhne an Deck stehen, können die Großen bis zu 200.000 Pfund Fisch auf einen Schlag an Bord ziehen, ein Raubbau, der dazu geführt hat, dass in weiten Teilen der Weltmeere mehr als die Hälfte aller Fischbestände vollständig ausgebeutet oder überfischt sind.

Die Folge sind auch auf der Esperanza zu spüren, die ihre Runden im Bereich der 200-Meilen-Zone vor der mauretanischen Küste zieht, wo Scharen kleiner Fischer ums Überleben kämpfen, darunter allein 800 spanischer Herkunft. Der Konkurrenzdruck durch die schwimmenden Fangfabriken zwingt die Fischer auf den kleinen Schiffen, fast ununterbrochen zu arbeiten, nachts schlafen sie ein paar Stunden wie die Toten unter Deck, während das Schiff nur mit einer trüben Funzel markiert, vor seinen Netzen treibt. Die Strapazen schlagen sich in den Krankenberichten des Ärzteteams nieder: „Manchmal meldet sich so ein armer Teufel mit irgendeiner Lappalie krank, nur damit er mal ausschlafen kann“, erzählt Natascha. „Wir schicken sie dann unter die Dusche, geben ihnen ein sauberes Bett und lassen sie pennen - im Schnitt schlafen sie zwei Tage und Nächte durch.“

Die Zustände an Bord der kleinen Schiffe sind beängstigend. Einmal sollte Miguel in einem engen Maschinenraum ein gebrochenes Teil der Triebwelle schweißen. „War hoher Seegang, wie in der Achterbahn meterhoch rauf und runter, tierische Hitze und Gestank nach Diesel und totem Fisch“, erinnert er sich. „Hab nur noch gekotzt, aber die Leute an Bord müssen es Wochen und Monate aushalten.“

Manche halten es nicht aus, versuchen, Stress und Erschöpfung mit Alkohol und Drogen zu dämpfen, zuweilen bricht Aggression durch. Mit Schaudern erinnert sich das Hospitalteam an den Seemann, der nach einer Messerstecherei mit einer klaffenden Schnittwunde quer über den Bauch an Bord der Esperanza gehievt wurde. „Er hielt seinen Magen und einen Großteil des Gedärms in beiden Händen,“ erzählt Medico José, „stundenlang haben wir gebraucht, um ihn zusammenzuflicken, aber er hat überlebt.“

Solche Erfolge trösten ein wenig darüber, dass es Fälle gibt, in denen nicht mehr zu helfen ist. Havarien gehören dazu, von großen Schiffen wie Tankern, Containerfrachtern und Fangschiffen verschuldet, die kleine Boote nicht bemerken, vor allem diejenigen, die aus Holz sind und auf dem Radar nicht erscheinen. Die eiligen Ozeanriesen rammen mit hohem Speed die Nussschalen in den Grund oder zerfetzten die Netze. Geht jemand über Bord, hat er kaum eine Chance. Die Statistik besagt, dass in diesen Fällen nur fünf Prozent rausgefischt werden. Dreiviertel aller Fischer können nicht schwimmen, obgleich die internationale Seeordnung ein Freischwimmer für Matrosen vorschreibt. Rubens berichtet von einer Aktion, die recht harmlos begann und tragisch endete: „Als wir mit unseren Tauchern unter einem Fischerboot die Schraube befreien wollten, in der sich ein Netz verheddert hatte, ging einer der Fischer über Bord. Obgleich das Schiff vor Anker lag und wir sogar unter Wasser zur Stelle waren, haben wir ihn nicht finden und retten können.“

Auch in dieser Nacht stampft die Esperanza unter einem sternlosen Himmel durch den Atlantik, umgeben von Dutzenden Fischerbooten, deren Lichter in der dunstigen Atmosphäre verschwimmen. Dann und wann der turmhohe Schatten eines Ozeanriesen, von Positionslichtern gekrönt, die schnell näher kommen und wieder verschwinden. Der Kapitän auf der Brücke starrt in die Nacht und kaut auf einem Streichholz. Beim Frühstück am nächsten Morgen wird er wieder rauchen - das kleinere Übel in einem Meer voller Plagen.