Ein Sozialromantiker auf der Suche nach Trost
Am Mittwoch mittag erlebt Horst Seehofer ein Waterloo. Er sitzt in seinem Ferienhaus im bayerischen Altmühltal und schmökert in Victor Hugos “Die Elenden”. Seehofer liest über Napoleons verlorene Schlacht in Belgien, als Angela Merkel zur gleichen Zeit 500 Kilometer entfernt in Berlin das Kompetenzteam auf eine Bühne führt, ihre Getreuen, mit denen sie eine Regierung bauen will. Auch Seehofer würde gern dort stehen. Aber er darf nicht. Der Sozialexperte blättert im großen Sozialroman. “Die Büchsenspanner sind immer am Werk”, sagt er. “Da heißt es, Obacht geben.” Er meint nicht Napoleon, er meint sich selbst.
Seehofer ist der letzte große Sozialromantiker der Union. Er redet langsam und bedächtig, die Hände malen dabei weite Kreise in die Luft. Seine eigene große Schlacht hatte der ehemalige Gesundheitsminister im vergangenen Herbst geschlagen und verloren, als er gegen die Kopfpauschale im Gesundheitskompromiß zwischen CDU und CSU anrannte - und am Ende auf der Strecke blieb, seines Vize-Fraktionsvorsitzes beraubt.
Es ging vor zehn Monaten um eine Richtungsfrage. Die Union rang unter Merkels Führung um ein Ende der Umverteilungspolitik, wollte die Eigenvorsorge gegenüber der Staatsvorsorge stärken. Mit Seehofer war dieser Weg nicht zu gehen. “Gegen die neoliberale Irrlehre ist die Union auch nicht völlig immun”, wettert er. “In der CDU trauert ihm niemand hinterher”, kontern Parteifeinde. Also zieht Seehofer durch die Provinz - zu denen, die zu ihm halten. “Die kleinen Leute”, sagt er, “sind meine Lebensversicherung.”
Es ist früher Abend. Der 1,93-Meter-Mann zwängt sich in einen dunklen Audi und macht sich auf nach Schrobenhausen zu einem Spargelfest in seinem Wahlkreis. Noch ist er CSU-Vizeparteichef und Bundestagsabgeordneter. Beides will Seehofer, 56 Jahre alt, bleiben. Er steht der Arbeitnehmervertretung CSA vor und ist Präsident des Sozialverbandes VdK in Bayern mit 500 000 Mitgliedern. Einige in der Union fürchten seine Popularität, seine Kompetenz, seinen möglichen Rachedurst.
Seehofer schaut aus dem Autofenster. Bäume ziehen vorbei wie dürre Striche. Dem Team um Merkel fehle eine authentische Stimme aus dem Sozialflügel, sagt er. Und überhaupt, der Führungsstil der Kanzlerkandidatin: “Harmonie geht vor Diskussion. Ich bin einfach ein zu kritischer Geist.” Seehofer, der Rebell. Der Robin Hood der Schwarzen. Wird er der Chefkritiker einer Regierung Merkel, ein Polit-Amokläufer? Seehofer zieht die Augenbrauen hoch. “Gewiß nicht”, sagt er und grinst. Das Bild scheint ihm nicht zu mißfallen. Draußen ist es längst dunkel. Aber noch immer hält sich die Sonne bleichgelb am Firmament.
Es gab eine Zeit, da mußte Seehofer um sein Herz bangen. Vor vier Jahren befiel es ein seltsamer Virus. “Ein Tag länger, und ich hätte es nicht mehr gemacht.” Die Ärzte retteten ihn.
Seitdem erzählt Seehofer, daß er gelassener sei. Daß er gesünder lebe und ungebundener sei. Doch bei der Droge Politik ist er wieder voll drauf. Sein Kalender kennt - wie früher - kaum Lücken. “Die Politik ist keine Existenzgrundlage mehr für mich”, insistiert er. “Wäre ich nicht politisch aktiv, würde ich mir sicher eine andere Droge suchen.” Immer habe er mit Leidenschaft gelebt, die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit getestet. “Es kommt auf die Dosierung an. Endlich habe ich die richtige gefunden.” Es wird still. Nur der Motor rauscht wie aus weiter Ferne.
Die Ruhe nimmt ein jähes Ende, als der Wagen am Rande der Schrobenhausener Festwiese hält. Vorbei an drehenden Karussells, flackernden Rummelbuden und einer Geisterbahn, aus der es dunkel grummelt, schlendert Seehofer zum Bierzelt. Gemächlich und rhythmischen Ganges, als bewegte er sich gar nicht und nur die Welt um ihn herum drehte auf, spielte verrückt. Eine Welt, die er durch Fliehkräfte, die andere Globalisierung nennen, aus ihren Angeln gehoben sieht und die er festhalten will. Weil er um die Gerechtigkeit fürchtet, die immer als erste davonschwebt unter den Menschen.
Im Zelt angekommen, bleiben viele Blicke an Seehofer haften. 2000 Menschen sitzen auf langen, schmalen Holzbänken. Einige prosten ihrem Abgeordneten zu. “Bleib gesund”, rufen sie ihm zu. Da ertönen Fanfaren. “Die Römer führen die neue Spargelkönigin ins Zelt”, kommentiert eine aufgeregte Stimme durch die Lautsprecher. “Ihr Name ist: Kathrin die Erste.” Feuerwehrmänner in Legionärskostümen tragen auf ihren Schultern einen Thron herein.
Keiner schaut mehr auf Seehofer. Gleich wird er Kathrins Krönung beiwohnen, oben auf dem Podium. Doch jetzt inhaliert er den Augenblick. Er lächelt. Kathrin, eine 18jährige Verwaltungsangestellte, hat ihre Karriere als Königin noch vor sich. Er seine als Minister hinter sich. Doch zum Aufhören ist es zu früh. Noch ist er General über beachtliche sozialpolitische Regimenter, deren Reihen gilt es nun zu schließen. Napoleon unterlag in Waterloo, weil er den Überblick verlor. Seehofer geht zur Bühne. Langsam.