Zeitenspiegel Reportagen

Ein Sozialromantiker auf der Suche nach Trost

Erschienen in "Welt am Sonntag", 21. August 2005

Von Autor Jan Rübel

Horst Seehofer darf nicht Minister werden

     Am Mittwoch mittag erlebt Horst Seehofer ein Waterloo. Er sitzt in      seinem Ferienhaus im bayerischen Altmühltal und schmökert in Victor      Hugos “Die Elenden”. Seehofer liest über Napoleons verlorene Schlacht      in Belgien, als Angela Merkel zur gleichen Zeit 500 Kilometer entfernt      in Berlin das Kompetenzteam auf eine Bühne führt, ihre Getreuen, mit      denen sie eine Regierung bauen will. Auch Seehofer würde gern dort      stehen. Aber er darf nicht. Der Sozialexperte blättert im großen      Sozialroman. “Die Büchsenspanner sind immer am Werk”, sagt er. “Da      heißt es, Obacht geben.” Er meint nicht Napoleon, er meint sich      selbst.

     Seehofer ist der letzte große Sozialromantiker der Union. Er redet      langsam und bedächtig, die Hände malen dabei weite Kreise in die Luft.      Seine eigene große Schlacht hatte der ehemalige Gesundheitsminister im      vergangenen Herbst geschlagen und verloren, als er gegen die      Kopfpauschale im Gesundheitskompromiß zwischen CDU und CSU anrannte -      und am Ende auf der Strecke blieb, seines Vize-Fraktionsvorsitzes      beraubt.

     Es ging vor zehn Monaten um eine Richtungsfrage. Die Union rang unter      Merkels Führung um ein Ende der Umverteilungspolitik, wollte die      Eigenvorsorge gegenüber der Staatsvorsorge stärken. Mit Seehofer war      dieser Weg nicht zu gehen. “Gegen die neoliberale Irrlehre ist die      Union auch nicht völlig immun”, wettert er. “In der CDU trauert ihm      niemand hinterher”, kontern Parteifeinde. Also zieht Seehofer durch      die Provinz - zu denen, die zu ihm halten. “Die kleinen Leute”, sagt      er, “sind meine Lebensversicherung.”

     Es ist früher Abend. Der 1,93-Meter-Mann zwängt sich in einen dunklen      Audi und macht sich auf nach Schrobenhausen zu einem Spargelfest in      seinem Wahlkreis. Noch ist er CSU-Vizeparteichef und      Bundestagsabgeordneter. Beides will Seehofer, 56 Jahre alt, bleiben.      Er steht der Arbeitnehmervertretung CSA vor und ist Präsident des      Sozialverbandes VdK in Bayern mit 500 000 Mitgliedern. Einige in der      Union fürchten seine Popularität, seine Kompetenz, seinen möglichen      Rachedurst.

     Seehofer schaut aus dem Autofenster. Bäume ziehen vorbei wie dürre      Striche. Dem Team um Merkel fehle eine authentische Stimme aus dem      Sozialflügel, sagt er. Und überhaupt, der Führungsstil der      Kanzlerkandidatin: “Harmonie geht vor Diskussion. Ich bin einfach ein      zu kritischer Geist.” Seehofer, der Rebell. Der Robin Hood der      Schwarzen. Wird er der Chefkritiker einer Regierung Merkel, ein      Polit-Amokläufer? Seehofer zieht die Augenbrauen hoch. “Gewiß nicht”,      sagt er und grinst. Das Bild scheint ihm nicht zu mißfallen. Draußen      ist es längst dunkel. Aber noch immer hält sich die Sonne bleichgelb      am Firmament.

     Es gab eine Zeit, da mußte Seehofer um sein Herz bangen. Vor vier      Jahren befiel es ein seltsamer Virus. “Ein Tag länger, und ich hätte      es nicht mehr gemacht.” Die Ärzte retteten ihn.

     Seitdem erzählt Seehofer, daß er gelassener sei. Daß er gesünder lebe      und ungebundener sei. Doch bei der Droge Politik ist er wieder voll      drauf. Sein Kalender kennt - wie früher - kaum Lücken. “Die Politik      ist keine Existenzgrundlage mehr für mich”, insistiert er. “Wäre ich      nicht politisch aktiv, würde ich mir sicher eine andere Droge suchen.”      Immer habe er mit Leidenschaft gelebt, die Grenzen seiner      Leistungsfähigkeit getestet. “Es kommt auf die Dosierung an. Endlich      habe ich die richtige gefunden.” Es wird still. Nur der Motor rauscht      wie aus weiter Ferne.

     Die Ruhe nimmt ein jähes Ende, als der Wagen am Rande der      Schrobenhausener Festwiese hält. Vorbei an drehenden Karussells,      flackernden Rummelbuden und einer Geisterbahn, aus der es dunkel      grummelt, schlendert Seehofer zum Bierzelt. Gemächlich und      rhythmischen Ganges, als bewegte er sich gar nicht und nur die Welt um      ihn herum drehte auf, spielte verrückt. Eine Welt, die er durch      Fliehkräfte, die andere Globalisierung nennen, aus ihren Angeln      gehoben sieht und die er festhalten will. Weil er um die Gerechtigkeit      fürchtet, die immer als erste davonschwebt unter den Menschen.

     Im Zelt angekommen, bleiben viele Blicke an Seehofer haften. 2000      Menschen sitzen auf langen, schmalen Holzbänken. Einige prosten ihrem      Abgeordneten zu. “Bleib gesund”, rufen sie ihm zu. Da ertönen      Fanfaren. “Die Römer führen die neue Spargelkönigin ins Zelt”,      kommentiert eine aufgeregte Stimme durch die Lautsprecher. “Ihr Name      ist: Kathrin die Erste.” Feuerwehrmänner in Legionärskostümen tragen      auf ihren Schultern einen Thron herein.

     Keiner schaut mehr auf Seehofer. Gleich wird er Kathrins Krönung      beiwohnen, oben auf dem Podium. Doch jetzt inhaliert er den      Augenblick. Er lächelt. Kathrin, eine 18jährige      Verwaltungsangestellte, hat ihre Karriere als Königin noch vor sich.      Er seine als Minister hinter sich. Doch zum Aufhören ist es zu früh.      Noch ist er General über beachtliche sozialpolitische Regimenter,      deren Reihen gilt es nun zu schließen. Napoleon unterlag in Waterloo,      weil er den Überblick verlor. Seehofer geht zur Bühne. Langsam.