Zeitenspiegel Reportagen

Eine schrecklich nette Familie

Erschienen in "Publik-Forum", Juli 2021

Von Autor Jan Rübel

Wie wächst man in der AfD? Unser Autor hat sechs Jahre lang vier junge Aktivisten begleitet. Er stieß zuerst auf Chaos, dann auf Rechtskurs und schließlich wieder Chaos: Wie die Junge Alternative begann und was aus ihren Kadern geworden ist – eine Chronik der Jugendorganisation der AfD in sechs Akten.

Das Buch, mit dem alles anfängt, ist das einzige in einem kahlen Raum. „Deutschland schafft sich ab“ heißt sein Titel, es liegt auf einem leeren Tisch. Umher schneeweiße Wände, als hätten die Abschaffer mit diesen acht Quadratmetern angefangen. Sie sind das neue Reich eines 17-Jährigen – und der Beginn einer Zeitreise.

Januar 2015, Potsdam. Jean-Pascal Hohm streicht über den Buchrücken des Bestsellers von Thilo Sarrazin, den er ausgepackt hat: 2010 war das Buch erschienen und etikettierte erstmals in Deutschland Rassismen, Ängste und andere diffuse Gefühle erfolgreich um in „ernsthafte Sorgen“; eine Blaupause für die Partei mit dem blauen Logo, die sich gerade sortiert und für die Schüler Hohm als „Mädchen für alles“, wie er sagt, in der AfD-Fraktion des brandenburgischen Landtags in Hilfskraftanstellung jobbt. Mit eigenem, anfangs leerem Büro.

Noch dominieren in der AfD marktliberale Funktionäre. Im Osten indes regt sich etwas. Und das liegt an Leuten wie Hohm. Vor einem halben Jahr wurde er zum Gründungsvorsitzenden der Jungen Alternative (JA) Brandenburgs gewählt, der Jugendorganisation; findet gerade seine politische Sprache, gemeinsam mit anderen Mitstreitern in der JA wie Philipp Meyer, Hagen Weiß und Thorsten Weiß – sechs Jahre lang werden sie sich auf den Weg machen, das Protokoll von Märschen in verschiedene Richtungen. Ihre Enden sind ungewiss.

I Gehversuche

„Stimmt alles, in dem Buch“, sagt Hohm, „aber erstmal einen Kaffee“, er schlendert zwei Zimmer weiter zur Küche. Die Fassade des ein Jahr alten Parlaments, ein Nachbau des alten Stadtschlosses, steht ganz im Stil des friderizianischen Rokokos. Innen kontrastieren die langen Flure mit Glastüren und Büros wie Bienenwaben in ihrer Funktionalität. Hohm, von dessen gebürstetem Scheitel und stets schmunzelnden Augen eine Ruhe ausgeht, gefällt dieses stumme Zwiegespräch zweier Zeiten. „Es erinnert uns an unsere preußische Geschichte rund um Friedrich dem Großen und Otto von Bismarck.“ Es werde zu wenig an die positiven Etappen der deutschen Geschichte erinnert, meint er.

In der Parlamentsküche angekommen, lässt sich Hohm von einem Mann tiefschwarzen Kaffee einschenken. Andreas Kalbitz ist Abgeordneter der vor drei Monaten in den Landtag eingezogenen AfD-Fraktion. Noch erahnt der nicht seinen eigenen politischen Aufstieg in der Partei – und seinen tiefen Fall sechs Jahre später. An diesem grauen Januartag 2015 läuft er aufgedreht in der Küche auf und ab, die Arme verschränkt. „Der Antrag muss heute noch raus“, bescheidet er einem Parlamentskollegen, und an eine Referentin: „Die Kopien bitte in Stapeln ordnen.“ Hohm mustert ihn fasziniert. Noch ist Kalbitz nur einfacher Abgeordneter. In der Küche aber ist er der Chef. Beim Hinausgehen ruft er noch ohne sich umzudrehen: „Schreiben Sie nichts Falsches.“

Das Kopieren übernimmt Hohm. An der Maschine sagt er: „Bevor ich bei AfD und JA eintrat, sehnte ich mich nach einer patriotischen Linken.“ Er habe mal bei der Linkspartei reingeschaut, aber die DDR-Vergangenheit der Partei im Osten und die „gewaltbereiten Antifaschisten“ im Westen hätten ihn gestört. In der Zeit seiner politischen Bewusstseinswerdung gab es bisher nur Angela Merkel als Kanzlerin. „Ich würde eher die Linkspartei wählen, bevor ich mein Kreuz bei der CDU mache“, sagt er. Zurück am Schreibtisch ordnet Hohm Ausschusspapiere, es geht um Kommunalfinanzen und Katastrophenschutzneuordnung, aber Hohm hat das ganze Land im Blick, mit Sarrazins Abschaffbuch als Boje: „Natürlich sehe ich die Gefahr einer Islamisierung in Deutschland“, sagt er. „Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Die Geburtenrate von Muslimen ist höher als die eines Christen, Juden oder Atheisten. Ich will nicht, dass dadurch Parallelgesellschaften entstehen und unsere abendländische Kultur mit der Zeit verdrängt wird.“

Das Gespräch strandet an einem toten Punkt, einer Argumentationskette mit Löchern. Geburtenrate, Parallelgesellschaften, Abendland? Glaubt er das? „Das ist eine Exponentialrechnung. In einigen Jahrzehnten könnte es kippen.“ Die Demoskopen schätzen für Deutschland einen Anteil von fünf Prozent Muslimen an der Gesamtbevölkerung. Und das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat festgestellt, dass sich alle Migrantengruppen bei den Geburtenzahlen der deutschen Bevölkerung anpassen – worum geht es Hohm?

Die JA jedenfalls wächst, jede Woche zähle der Brandenburger Landesverband neue Mitglieder, sagt er. Die Zukunft der AfD sieht er nicht im Dasein reiner Anti-Euro-Partei, sondern mit sozialer Ausrichtung als Volkspartei – für Deutsche. Und mit einer kräftigen Note autoritärer Rebellion. Er schaut auf die Uhr. „Sehen wir uns morgen Abend?“

Als sich am nächsten Tag die Konservativen in Berlin zur Revolution aufmachen, in einer Seitenstraße des prächtigen Kurfürstendamm, stehen sie erst einmal Schlange. Ein Ordner hilft den Damen aus ihren Mänteln, man nickt sich zu und schreitet in den Saal der „Bibliothek des Konservatismus“. Rund 60 000 Bände hat eine Stiftung hier zusammengebracht. Heute liest niemand in Büchern. AfD und JA haben zu einem internen Vortrag geladen: „Was ist liberal und was konservativ – und wie soll für die AfD der Weg an die Macht aussehen?“

In der ersten Reihe sitzen JA-Funktionäre und lauschen dem Redner; Hohm hat es aus Potsdam nicht geschafft, ein Termin kam in die Quere. Der Referent hält zwar ein Manuskript in den Händen, redet aber frei. „Es geht in der Politik darum, große Blumentöpfe zu gewinnen“, beginnt Karl-Heinz Weißmann. Er ist eine intellektuelle Führungsfigur der deutschen Konservativen. Um diese war es in den vergangenen Jahren nicht gut bestellt: Die CDU rückt stetig nach links, und rechts davon erstreckt sich unbebautes Terrain. Nach langer Wegstrecke dort steckt die NPD ihr Revier ab. Deren Mitglieder sind aber nicht konservativ, die NPD ist die Partei der Neonazis. Konservative Stimmen fristen ein Nischendasein, sie waren immer da. Aber man hörte sie nicht. Doch plötzlich gibt es die AfD und die Massenproteste von „Pegida“. Und was es mit den Blumentöpfen auf sich hat, führt Weißmann, 56, drahtig, graumeliert-wuchtiger Seitenscheitel, näher aus: „Wenn Sie da rausgehen und Politik machen, geht es um Praktisches.“ Die Erschwerung der Ehescheidung zum Beispiel sei sein Lieblingsthema, „aber von solch einer Forderung auf dem Bundesparteitag würde ich Ihnen abraten, das ist unter den gegebenen Umständen nicht politisch transportierbar.“

Weißmann und die 30 Zuhörer ahnen, dass sich für die AfD eine historische Chance auftut. Im Herbst 2012 als Bürgerinitiative gegen den Euro gegründet, ist sie mittlerweile ins Europaparlament und in mehrere Landtage eingezogen, mischt das Parteiensystem auf. Für die AfD bildet sich im Schatten der vermeintlich islamkritischen, in Wirklichkeit einwanderungskritischen Pegida-Proteste ein Milieu heraus, zu dem die anderen Parteien keinen Zugang haben. Sie macht sich daran, den leeren Platz zwischen Union und NPD in Deutschland zu besetzen. Bloß: Wohin genau in diesem weiten Feld? Der marktliberale und der stramme nationalistische Flügel führen Anfang 2015 einen Machtkampf. Der Sieg entscheidet darüber, ob sich in Deutschland eine Art Wirtschafts-Honoratiorenpartei etabliert, eine Art Schweizer SVP oder ein „Front National“, wie es ihn in Frankreich gibt.

In diesem internen Richtungsstreit der AfD prescht die JA nach vorn. Es sind vor allem die Jungen, die sich in der Partei für einen nationalistischen Kurs einsetzen und den liberalen Führungszirkel um Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel unter Druck setzen. Wer sind diese jungen Männer, die für die Renaissance einer alten und für todkrank gehaltenen Weltanschauung stehen?

II Hauen und Stechen

Zwei Wochen später im tiefen Westen: Hagen Weiß sticht etwas missmutig in ein Schnitzel. „Über Jahrzehnte durften die Ostdeutschen kein Wort über Patriotismus verlieren. Dadurch hat sich ein Nachholbedarf aufgestaut, der sich jetzt auch gelegentlich in Übertreibungen äußert.“ Weiß ist 22, er sitzt im Bundesvorstand der JA und nutzt die Mittagspause des JA-Bundeskongresses in Bottrop für einen Happen. Er und seine Freunde am Tisch kommen aus Nordrhein-Westfalen (NRW). In der JA tobt ein Kulturkampf, ähnlich wie bei der AfD. Zwar insgesamt rechter als die Mutterpartei, streiten auch hier zwei Flügel: Auf der einen Seite die West-Landesverbände, sie haben die JA gegründet und stehen an der Seite Luckes. Und auf der anderen Seite die Verbände Ostdeutschlands gemeinsam mit Baden-Württemberg. Aus den Westverbänden Bayern, NRW und Baden-Württemberg kommen zwei Drittel aller Mitglieder. Noch ist die JA in den Händen der „Gemäßigten“ wie Hagen Weiß. Aber die Nationalisten planen heute den Durchmarsch. Der rechte Flügel ist gut organisiert, „da kommt es zum Showdown“, meint Weiß.

Der Bundeskongress ist kein Delegiertenparteitag, alle anwesenden Mitglieder sind stimmberechtigt. „Bitte tragt keine Krawatten!“, heißt es im Einladungsschreiben des Bundesvorstands. „Bitte tragt am ersten Tag nach Möglichkeit ein weißes Oberteil/Hemd.“ Einer hält sich nicht an die Kleiderordnung. In feinem Zwirn und hellblauer Binde eilt Bernd Lucke zur Begrüßungsrede zum Podium, reißt beide Arme hoch, als wolle er zum Aufstehen bewegen; doch mindestens ein Drittel der JA-Mitglieder bleibt sitzen und verweigert den Applaus. Es ist kein leichter Gang für den AfD-Gründer und Parteisprecher. Bisher hatte er die JA gemieden. Zu rechts ist sie ihm. „Lassen Sie uns verbal abrüsten“, ruft er den Jungen zu, „ich sehe keine Gefahr der Islamisierung.“ Hinter ihm thronen drei Plakate mit Frauen auf der Bühne. Im Saal dagegen sind es wenige: Von den 700 Mitgliedern sind nur zehn Prozent Frauen, und noch weniger sind heute erschienen. Zum Abschied erhalten Bernd Lucke und andere Redner vom JA-Tagungspräsidium eine Pralinenschachtel, „für die Ehefrauen, damit die sich nicht ärgern, wenn Sie immer so spät nach Hause kommen“.

Plötzlich kommt Unruhe auf. Aus dem rechten Lager kommt der Antrag, die Vorstandswahlen vorzuziehen - auf dem Podium wird vor einer „Lastwagen-Demokratie“ gewarnt – der zum rechten Flügel gehörende baden-württembergische Landesverband hat heute mit einem Bus viele Mitglieder für die Fahrt nach Bottrop mobilisiert. Wütende Zwischenrufe. Das Stimmengewirr wächst zu einem Tumult.

Am Rande des Saales lehnt sich Thorsten Weiß lässig ans Geländer. Morgen will er als Vertreter des rechten Flügels für den Vize-Bundesvorsitz kandidieren. „Die Wahl vorziehen zu wollen, macht zwar Sinn wegen der knappen Zeit, die auf solch einem Bundeskongress zur Verfügung steht. Dies so kurzfristig zu beantragen, ist aber unglücklich“, sagt er. „Diese Initiative hat mich überrascht.“ Thorsten Weiß, 31, ist JA-Landeschef in Berlin, der ehemalige Offizier in der Bundeswehr studiert Betriebswirtschaftslehre. Als Schüler war er mal in der Jugendorganisation der CDU. Und seufzt. „Politik ist halt Politik.“

Am nächsten Tag dann die Wahlen. Markus Frohnmaier aus Tübingen, 23, tritt für den rechten Flügel als Spitzenkandidat an. Er ist ein quirliger Netzwerker, in seiner Bewerbungsrede ruft er, AfD und JA würden „nicht an Deutschland leiden, sondern mit Deutschland und wenn es sein muss, auch für Deutschland“. Philipp Meyer dagegen, Kandidat der „Gemäßigten“, ist unbekannt. Sein Auftritt ist blass, bis um vier Uhr morgens hatte er an Argumenten gefeilt, sie aber nicht aufgeschrieben, weil er eh „eine Dynamik erwartete“, wie er später sagen wird. Doch noch halten die alten Bande, er setzt sich mit 105 zu 93 Stimmen durch; das Establishment hat knapp sein Revier verteidigt.

Zwei Wochen später sitzt Thorsten Weiß in Berlin im „Bavarian“, das bayerische Lokal im Keller des Europacenters unweit vom Bahnhof Zoo versprüht holzgetäfelten Charme gegen den Waschbeton rundum. Auf den Bundeskongress in Bottrop ist Thorsten Weiß schlecht zu sprechen. Nach der Niederlage seines Frontmannes Markus Frohnmaier hatte er die eigene Kandidatur zurückgezogen. „Ich weiß ja gar nicht, wofür Philipp Meyer steht.“ Thorsten Weiß streicht sich über den gepflegten Dreitagebart. Er sagt, auf eine Partei wie die AfD habe er lange gewartet.

Hohm und Thorsten Weiss träumen von einer AfD, die nicht nur wertkonservativ, sondern stramm völkisch ist.

Wie das gelingen könnte, hatte Karlheinz Weißmann seinen Zuhörern beim Vortrag in der „Bibliothek des Konservatismus“ skizziert. Der Doyen der Neuen Rechten in Deutschland hielt das Mikro ganz nah am Mund. „Die FDP hatte ihre größten Zeiten in den Vierzigern und Fünfzigern“, deutete er an, „als sie noch einen nationalen Charakter hatte“. Damals forderte eine nationalistische FDP auf Plakaten „Schluss mit Entnazifizierung, Entrechtung und Entmündigung“ der Deutschen. In zähen Machtkämpfen verlor der rechte Flügel an Kraft, die FDP wurde liberal. Nun, so scheint es, ist dieser rechte Flügel wieder da, als wäre er nie weg gewesen. Er macht sich auf den Weg.

Zwei Wochen später, im Februar 2015, kommt der Wendepunkt für die JA – und auch für die AfD. Bernd Lucke missfallen Ton und Inhalte bei der JA, ihre lauten Parolen und steten Versuche, Grenzen des angeblich Sagbaren zu verschieben. Er bevorzugt eine Jugendorganisation, die nicht nach rechts ausschert; eben braver ist. Am 12. Februar 2015 steigt er gemeinsam mit Parteifreund Bernd Kölmel in Offenburg in den ICE in Richtung Hamburg-Altona. Beide sind Abgeordnete der AfD im Europaparlament, sie kommen gerade von einer Sitzungswoche in Straßburg. Im Bordrestaurant haben sie eine Verabredung mit JA-Chef Philipp Meyer und seinem Vize Hagen Weiß sowie zwei anderen JA-Aktiven. Eigentlich geht es um die Anerkennung als offizieller Jugendverband der AfD, doch Lucke erkundigt sich nach dem Rechtsruck. Weiß macht ihm den Vorschlag einer Ausgründung. Meyer dagegen fühlt sich überrumpelt, distanziert sich davon. „Lucke und Kölmel haben eine Neugründung begrüßt», wird Weiß später sagen, „aber gemeint, wir sollten diesen Plan noch mit Vertretern anderer Parteiflügel wie Frauke Petry und Marcus Pretzell besprechen.“ Philipp Meyer erreicht die beiden Politiker am nächsten Tag zuerst, erzählt von der Zugfahrt. Hagen Weiß wird später sagen: „Um 23 Uhr erhielt ich einen Anruf von Marcus Pretzell. Er sagte: ‚Stell dich kalt, sonst tue ich es.‘“ Jener Mann, der nach Aussage von Hagen Weiß ihm gegenüber geäußert haben soll, er hasse die „Kellernazis“ auch, aber man brauche sie gegen Lucke, hat mit Petry den Anlass zum Aufstand gegen Lucke gefunden. Luckes Umgang mit der JA – ein perfekter Skandal, der ausgeschlachtet werden kann. Jetzt geht alles sehr schnell.

Am 18. Februar 2015 schreiben Landesvorsitzende der JA, unter ihnen Jean-Pascal Hohm für Brandenburg und Thorsten Weiß für Berlin, einen offenen Brief. Philipp Meyer sei, heißt es dort, von Hagen Weiß und den JA-Aktiven hinter- und übergangen worden. Bei der JA kocht es. Hagen Weiß erhält einen Brief, einen anonymen: „Du scheiß Zug-Verräter!!! Tritt sofort zurück und verschwinde aus der AfD, du dreckiges Vieh! Lass dich nie wieder blicken und wenn du auf den nächsten Bundeskongress gehst, schießen wir dich ab!!!“ Weiß erstattet Anzeige. Ein weiterer „Zugfahrer“ der JA erhält anonyme Drohanrufe und einen ähnlich gearteten Brief. Als die beiden diese Briefe online stellen, lösen sie eine Debatte in der JA aus –im Tenor wird die Echtheit der Briefe angezweifelt. Währenddessen wird ein Beisitzer im JA-Bundesvorstand, der den „Verrätern“ beispringt, mit einer Rufmord-Aktion bedacht: Ein Google-Screenshot wird gefälscht, der ihn mit Symbolik der Neonazi-Partei NPD zeigt.

Alle drei treten aus der JA aus. Als Nächstes wird der Bundesvorsitzende Meyer demontiert. In einem „Kommuniqué der arbeitenden Mehrheit im Bundesvorstand“ heißt es, ihm fehle die „nötige Entscheidungsstärke“. Für die JA wird das Jahr 2015 zur Zäsur. Nicht nur verlassen die ersten drei Bundesvorsitzenden die JA aus inhaltlichen Gründen, und mit ihnen 50 Prozent der Gründungsmitglieder: Die Kontroverse rund um die ICE-Fahrt entwickelt sich zum Auslöser für einen ersten finalen Machtkampf in der AfD: Am Essener Parteitag im Juli 2015 wird Bernd Lucke, Gründer und Galionsfigur, abgewählt. Frauke Petry übernimmt. Der im Mai 2015 neu gewählte JA-Chef Frohnmaier forciert den Rechtskurs, knüpft Kontakte zur Jungen SVP in der Schweiz, zu den Jugendorganisationen der Wahren Finnen und der russischen Regierungspartei Einiges Russland. Jetzt wird es völkisch.

III Durchmarschiert

Zwei Jahre später macht ein Mann am Kopf eines Tisches in einem Gasthaus irgendwo im Brandenburgischen keine Umstände, er ist schnell bei der Rettung von Volk und Land. „Die Realität macht die Leute rechter, als wir das durch Propaganda erreichen können“, sagt Jörg Sobolewski. Es ist Mai 2017. Er soll von der Arbeit der Deutschen Burschenschaften erzählen – hier an einem Stammtisch der Jungen Alternative (JA), der Jugendorganisation der AfD, in Trebbin. Es riecht nach Spargel und Sauce Hollandaise. Manche haben Schnitzel oder Eisbein bestellt.

„Selten hatten wir Burschenschaften solch einen guten Zulauf“, sagt Sobolewski, Abgesandter der Gothia aus Berlin. „Und die Zusammenarbeit mit der AfD klappt gut.“ Rechts neben ihm sitzt Jean-Pascal Hohm in weinrotem Feinstrickpulli und Sportweste, er nickt. Sobolewski sagt dann etwas lauter: „Jahrelang haben wir dafür Prügel bezogen.“ Dafür – das ist die nationale Sache, der konservative Aufstand in Deutschland.

Zuerst aber muss Hohm überlegen, wie er aus der brandenburgischen Provinz wieder wegkommt. Er steht an einem leeren Bahnsteig des 10 000-Einwohner-Ortes und will ins nördlich gelegene Potsdam – mit dem Auto wäre es keine halbe Stunde, doch die Bahn fährt dreimal so lang übers nordöstlich thronende Berlin. „Ich mag die Landluft, die Ruhe. In der Stadt denaturiert man, wird dekadent“, sagt er.

Der Sieg der Liberalen in der JA auf dem Bundeskongress im Januar 2015 erscheint im Rückblick wie ein letztes Strohfeuer. „Lichtjahre ist das her“, sagt Hohm. Die „national orientierten“ Verbände gewannen immer mehr Zulauf, allen voran die ostdeutschen; sie setzen eine Satzungsänderung durch, nach der sie selbst entscheiden, wen sie aufnehmen – und nicht der Bundesverband. Damit werden rechten Aktivisten wie Burschenschaftern die Türen geöffnet. „Vor zwei Jahren hätte ich gesagt, dass wir eine liberal-konservative Jugendorganisation sind“, sagt Hohm, als er schließlich in den Zug steigt. „Heute sage ich ohne Problem: Wir sind rechts. Es geht auch um die Rückeroberung eines Begriffs.“ Das klingt nicht nur militärisch, sondern auch handlich, fassbar. Und es erfasst auch schrittweise die AfD. Die Tabubrüche, der erregte und schneidende Ton, sie nehmen seit 2015 langsam zu. Es gibt keinen Raketenstart in der Hasspropaganda der Partei, vielmehr erhalten die Wähler ihre Chance, sich an den schriller werdenden Sound zu gewöhnen; hätte die AfD im Jahr 2015 so geklungen wie nun 2017 – sie hätte verschreckt.

Zwei Tage später und 40 Kilometer nördlich schlägt Thorsten Weiß die langen Beine über und schaut durch die Wandelhalle im Berliner Abgeordnetenhaus. Seit vergangenem September ist er nun für die AfD Mitglied im Berliner Landesparlament. Über das Wendejahr 2015 sagt er: „Das war eine aufwühlende Zeit, die ging uns allen an die Nerven. Aber als so extrem habe ich es nicht empfunden. Vielleicht, weil ich aus der Bundeswehr komme.“ Der Offizier vermisst zuweilen einen respektvollen Ton, sowohl in der JA – „teilweise sehr rau, das kritisiere ich intern“ – als auch im Abgeordnetenhaus: „Viele Kollegen hier grüßen nicht und schauen weg. Als wären wir Aussätzige.“ Als die AfD-Fraktion hier einzog, klebte die Links-Fraktion im Flur gegenüber erst einmal eine Sichtschutzfolie auf die trennende Glastür.

Die „ICE-Affäre“ ist für Thorsten Weiß im Prinzip Hochverrat. Die anonymen Briefe? „Solch einen Brief kann man sich auch selbst schreiben.“ Und der damalige Bundesvorsitzende Meyer? „Nicht fürs Amt geeignet, keine Führungspersönlichkeit.“ Genauer wird er nicht. 2015 verließen 300 von 900 Mitgliedern die Organisation. Heute sind es 1200 – wer nun eintritt, weiß, wo die JA steht. Berufspolitiker wolle Thorsten Weiß nicht werden. Er denke an eine Unternehmensgründung im Sicherheitsbereich, wegen der Erfahrungen bei der Bundeswehr. Das Studium hakt.

Von Beginn an dachte die JA manches vor, was die Mutterpartei dann übernahm. Als man Petry zur neuen Chefin wählte, versprach sie noch, die Euro-Rettung werde wichtigstes Thema bleiben, nicht die Flüchtlings- und Asylpolitik. Vom Euro redet heute keiner mehr in der Partei. Und das liegt nicht nur an der Öffnung der Grenzen im September 2015 durch Kanzlerin Angela Merkel. „Für das Land eine Katastrophe», bilanziert Thorsten Weiß, „für uns ein großer Schub.“

Es dunkelte in Brandenburg. Der Regionalzug fuhr mit Hohm entlang der Schatten von Buchen. Denkt er an Deutschland in der Nacht, ist er aufgebracht. So viele „Fremde“, die seit 2015 gekommen sind. Die Vorstellung, in einer deutschen Gaststätte zu sitzen, mit 40 Leuten aus verschiedenen Ländern – das möchte er nicht, sagte er. Es klang wie eine Mangeldiagnose. Selbst den jungen Syrern gestand er nicht zu, hierherzukommen: „Als wehrfähiger Mann würde ich mein Bürgerkriegsland nicht feige verlassen.“ Starke Worte, leicht ausgesprochen. Für und gegen wen gekämpft werden soll, verriet er nicht. Im vergangenen Jahr machte Hohm Abitur, nun studiert er Volkswirtschaft. Den Vorsitz im brandenburgischen JA-Landesverband hatte er niedergelegt, wollte mehr Privatleben. Nun aber engagiere er sich wieder; es sei eine schicksalhafte Zeit.

Eine Zeit, in der Hohm und auch Thorsten Weiß kräftig an politischen Stellschrauben drehen. Beide agieren offen an einer Schnittstelle zwischen der JA und der „Identitären Bewegung“ (IB) agierten – ein Zusammenschluss aktionistischer rechtsextremer Gruppen, die von einer ethnisch homogenen Kultur träumen. Derweil wurde vor einem Monat in ihrer Partei vor einem Monat eine wichtige Weiche gestellt: Andreas Kalbitz, der forsche Befehlshaber in der Kaffeeküche des Potsdamer Landtags von 2015, ist zum Landesvorsitzenden gewählt worden. Auf dem Parteitag beteuert er, mit ihm werde es keinen Rechtsruck geben. Aber Kalbitz ist völkisch pur. Er redet auf Marktplätzen von Deutschen als „indigene Bevölkerung“, „das Bild in unseren Dörfern und Städten hat sich geändert“, er malt ein dystopisches Bild; „Deutschland ist inzwischen Minderheit“, oder: „Deutschland hinkt hinterher in allen Bereichen.“

Mit Deutschland erstmal fertig ist Hagen Weiß. Es ist Juni 2017. „Ich lebe jetzt in Mexiko, die Heimat meiner Ehefrau“, sagt er, das Gespräch findet per Skype statt. Dort arbeitet er im Vertrieb einer britischen Hightech-Firma. „Man hielt meine Frau in Deutschland für eine Türkin oder Araberin, bei der Wohnungssuche hatten wir aufgrund von Vorurteilen gegenüber Ausländern Probleme“, erklärt er. Irgendwann reichte es. Weiß erinnert sich an die an die Zugfahrt im Februar 2015. „Es war kein Verrat“, sagt er. „Wir waren ein Verein und mussten uns gegen Leute wehren, die demokratie- und verfassungsfeindlich auftraten.“ Jetzt braucht er Abstand. Stürzt sich in die Arbeit und in eine neue Heimat.

Auch ins Exil, aber ins innere, ging Philipp Meyer. Zwei Jahre lang hatte der ehemalige JA-Chef gegenüber der Presse geschwiegen. Nun nippt an einer Apfelschorle in einem Gasthaus am Berliner Hackeschen Markt; es ist Juni 2017. „Vielleicht haben die Liberalen und die Konservativen zu früh aufgegeben und den Nationalen das Feld überhastet überlassen“, sagt er über seine fünf Monate an der Spitze der JA. Weihnachten 2014 hätte mancher die JA schon aufgegeben gehabt, dann der überraschende Sieg im Januar 2015 mit ihm als neuem Chef. Meyer definiert sich als liberal-konservativ. Der Thüringer hatte sich ursprünglich bei der Piratenpartei engagiert: „Aber die drifteten nach links.“ Bei der AfD sah er die Chance auf einen Neuanfang. „Mich fasziniert Basisdemokratie wie in der Schweiz.“ Dass der liberale Flügel eine Parallelgründung angestrebt habe, versteht er bis heute nicht. „Das war Selbstmord aus Angst vor dem Tod.“ Für so etwas sei er zu konservativ. Meyer stellte sich in der „ICE-Affäre“ gegen diese Pläne, weihte den rechten Flügel ein. Bald war er, nach dem Rückzug liberaler Vorstandsmitglieder, im obersten Gremium ohne Mehrheit. „Deshalb warfen mir die Rechten Führungsschwäche vor.“ Es war die Zeit, als man mit zehn Leuten noch einen Landesverband übernehmen konnte, auch der rechte Flügel habe an eine Parallelgründung gedacht.

Es dunkelt, Meyer kommt ins Reden, erzählt von Kadern, welche von der „Heimholung der Ostgebiete“ träumen, von Einladungen zu Geburtstagsfeiern, die mit Hakenkreuzen garniert waren. Einmal in Fahrt, kann er sich kaum stoppen. Im Mai 2015 trat er aus der JA aus, im August desselben Jahres aus der AfD.

Das Jahr 2017 markiert einen zweiten Wendepunkt in der Geschichte der JA und der AfD seit jenem ersten von 2015: das politische Ende von Frauke Petry. Über Monate hinweg scheint es, als müsste sich die Bundessprecherin noch mühsam mit der Marschrichtung gen rechts arrangieren: Zwar prescht sie mit einigen Polemiken nach vorn, redet von Schusswaffengebrauch an der Grenze und von „Gehirnwäsche“, hört sich aber an, als wolle sie nur gewisse Erwartungen erfüllen und nicht ihr Herz ausschütten. Petry führt die Partei nicht inhaltlich, ist gehetzt. Während sie mit Blick auf die Bundestagswahl im September 2017 noch für ihren „realpolitischen Kurs“ wirbt, lockert sich ihr Griff auf die AfD. Am schnellsten entgleitet ihr die JA.

IV Früchte des Zorns

Die schickt ihre Kader weiter die Parteistufen hinauf. Es ist Februar 2019. Thorsten Weiß steht vor elf besetzten Tischen eines „Jugoslawischen Grillhauses“ in Berlin-Reinickendorf und erklärt, warum er nach Straßburg will. „Diese Institution muss möglichst schnell abgeschafft werden“, sagt er heiser. Er ist jetzt 35. Der Wahlkampf legt sich auf seine Stimmbänder, hier bei einem AfD-Stammtisch: Weiß ist Kandidat mit Listenplatz 14 für das Europäische Parlament, auf das er nicht gut zu sprechen ist; der Sitzungssaal dort sei voller abgenutztem und abgewetztem Kunstleder, „vielleicht gibt das wieder, was von dieser Institution zu halten ist“. Institution. Er benutzt dieses Wort oft. Es drückt eine Ferne aus. Im Restaurantsaal hier sitzen die 30 Zuschauer auf dickem, roten Stoffpolster. Weiß beginnt eine Tour durch die Gefahrenwelt der AfD, berichtet von „Opfern wegen Werteverfall und zunehmender Migration“, klagt, „dass gerade deutsche Kinder Mobbingopfer werden“. Am Nebentisch bestellt ein Mittfünfziger ein Helles. „Ein Pils?“, fragt der Kellner. „Ich will ein Helles!“, zischt der Mann und seufzt.

Weiß ist Berufspolitiker geworden. Das Studium ruht noch immer. „Es geht um das große Projekt“, sagt er, als er später am Abend das Lokal verlässt, „vieles ist im Werden. Wenn Deutschland und Europa gerettet sind, schau ich mich beruflich weiter um“. Frauke Petry ist in der Partei mittlerweile Vergangenheit, hat ihre eigene gegründet. Viel wird dort gerade nicht. Zwei Tage später ist Weiß‘ Stimme noch heiserer geworden, er steht an einem Wahlkampfstand im Nollendorfkiez, spricht gegen den Chor von Demonstranten auf der anderen Straßenseite an, „Nationalismus raus den Köpfen“, rufen sie, und Weiß sagt: „Der Druck wird immer stärker. Beide Seiten polarisieren sich.“ Der Stand ist prominent besetzt, die Berliner Parteispitzte steht zusammen, man wärmt sich an Glühwein, Flugblätter werden verteilt. Weiß blickt sich etwas nervös umher. Bei einem Knall aus der Ferne zuckt er zusammen. „Ein Kräfteverschleiß hat eingesetzt. Es gibt nicht viele Neu-Mitglieder, immer dieselben Schultern, die mehr tragen.“ Der konservative Aufstand wirkt erschöpft.

Einer ist erstmal weg, zumindest von der Bildfläche. Hohm meldet sich nicht mehr, bleibt unerreichbar. „Das war fehlendes Fingerspitzengefühl“, sagt diplomatisch Weiß über ihn. Was ist passiert? Hohms Stelle bei einem Bundestagsabgeordneten: Hat er gekündigt. Sein Beisitzerposten im Kreisvorstand Cottbus: niedergelegt. Die Gründe: Zuerst nennt ihn ein Gutachten des Bundesverfassungsschutzes zu extremistischen Bestrebungen mehrfach. Die Agenten bescheinigen ihm eine Nähe zur IB, zu rechten Burschenschaften und rechtsextreme Töne in den Sozialen Medien; eine toxische Mischung. Dann berichtet der „Tagesspiegel“ über einen „Besuch Hohms im Oktober 2018 bei Rechten in Italien. Ein Foto aus den sozialen Netzwerken zeigt ihn mit einem Aktivisten der Bewegung ‚Casa Pound‘ bei Rom“; die „Märkische Allgemeine“ zeigt ihn hierzu auf einem Foto an einem Konferenztisch. Und: Hohm taucht in einem Werbevideo der AfD Mecklenburg-Vorpommers auf. „Mein ganzes Leben habe ich hier verbracht“, sagt darin eine Frauenstimme. „Hier ging ich zur Schule, hier habe ich meinen Mann kennengelernt, hier haben wir ein eigenes Haus gebaut.“ Die nächste Szene zeigt eine Frau mit Hohm samt Kinderwagen, die gemeinsame Tochter und die „Flüchtlingskrise“ seien der Grund für die beiden gewesen, heißt es, der AfD beizutreten. Nur ist Hohm Brandenburger, verheiratet und Vater ist er auch nicht. Verfassungsschutz in Berlin, Neonazis in Rom, Fakevideo in Schwerin – alles ein bisschen viel für den 21-Jährigen. Er meldet sein Profil bei Facebook und Twitter ab. Die kommenden Monate bleibt er unerreichbar. Auch Hagen Weiß meldet sich nicht mehr.

Währenddessen scheint es, dass die Partei eine Sättigungskurve erreicht. Die vielen 2015 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten taugen nicht mehr für Gruselstorys, man lernt sich kennen, die Erfolgsgeschichten nehmen überhand. Zwar schrumpft im Land der Zukunftsoptimismus weiter, die Welt dreht sich auch immer schneller und mit ihr das Bedürfnis, an Altem festzuhalten, ein negatives Gemeinschaftsgefühl zu zimmern; das Abendland indes geht immer noch nicht unter. Es scheint, als arrangierten sich alle mit allem. Für die AfD bedeutet es einen Stillstand auf hohem Niveau, die JA erfährt auch keinen neuen Schwung.

Ein anderer dagegen erfährt gar Gegenwind. Eigentlich ist Andreas Kalbitz in diesen Jahren in der Partei immer nur aufgestiegen: Sein Netzwerk wächst, nun ist er auch AfD-Fraktionschef im Brandenburger Landtag und im Bundesvorstand der Partei. Über seine Vergangenheit war bisher nur zu hören, dass er mal bei den Republikanern gewesen war, und bei einem „rechtslastigen Verein“, wie die Medien schreiben. Doch nun sickert mehr durch. Spuren aus der organisierten Welt der Neonazis: Besuche von Zeltlagern, zuletzt 2007 bei der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ), einer Neonazi-Kaderschmiede. Im gleichen Jahr fuhr Kalbitz mit 13 Neonazis zu einem Aufmarsch nach Athen, darunter der frühere NPD-Parteichef Udo Voigt; auf dem Hotelbalkon hatte jemand von ihnen die Hakenkreuzfahne gehisst. Kalbitz redet all dies klein, gibt nur zu, was ihm bewiesen wird. Aber was sagen die Kameraden von damals?

Berliner Osten, Herbst 2019, im ersten Stock eines gelben Hauses hängen drei Fahnen: die bundesrepublikanische Fahne rechts, die des Kaiser- und des Nazireichs links und in der Mitte die der NPD. „Wir stehen für die ganze Reichhaltigkeit der deutschen Geschichte“, sagt ein Mann zwischen Fahnen und einem Schreibtisch, er steht auf. Zu ihm hatte eine metallene Haustür geführt, dahinter eine Eingangsschleuse und noch eine Metalltür; ein Wächter hatte als erstes einen Energydrink angeboten. Reichhaltig waren die letzten Wahlergebnisse der NPD nicht gewesen, eher karg. „Wir fragen uns auch, wo wir hätten ansetzen müssen“, sagt Frank Franz, der Bundesvorsitzende; ein 40-jähriger Saarländer, sportlicher Typ mit kurzem Seitenscheitel in dunkler Bluejeans, Streifenhemd und Jackett sowie voller wehmütiger Erinnerung daran, wie die NPD einst flott in die Landtage von Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und Sachsen eingezogen war. Das ist vorbei. In Brandenburg hatte man nicht einmal zur Landtagswahl kandidiert, „mehr als 0,5 Prozent wären nicht drin gewesen“, erklärt der Landesvorsitzende Klaus Beier, ein Unterfranke, er sitzt auf einem weinroten Ledersofa neben Franz. Eine karge Raufasertapete klebt an der Wand „Ich will nicht jammern“, sagt Franz, „aber wir haben für die AfD den Wahlkampf mitgemacht.“ An den Ständen hätten die Passanten ihnen zugestimmt, „‘super was Sie sagen‘“, habe man gehört, „‘und daher wähle ich jetzt die AfD.‘“ Die Bürger würden nicht trennen. Und die AfD habe die NPD in der Wahrnehmung weggedrückt.

„Er war in der richtigen Zeit am richtigen Ort und in der richtigen Partei, die lockte halt mit Mandaten“, resümiert Franz den politischen Aufstieg von Kalbitz. Zu seiner Biographie würde er herumlavieren und klare Worte vermeiden. „Ich beurteile Menschen indes nach ihrer Charakterleistung.“ Er zeigt aus dem Fenster. Die Parteizentrale der NPD liegt in der Werner-Seelenbinder-Straße, benannt nach einem Kommunisten, der sich während der Naziherrschaft im Widerstand engagierte und dafür ermordet wurde. „Ein Werner Seelenbinder stand trotz widriger Umstände für seine Einstellung ein, sowas ist bei Freund und Feind zu ehren“, sagt Franz. „Bei Herrn Kalbitz bin ich mir da nicht so sicher.“ Und Beier erzählt, wie man Ende der Achtziger im vorigen Jahrhundert versucht habe, ihn aus der NPD heraus in die CSU zu locken. „Man kann auch Verlockungen widerstehen.“

Das Jahr 2019 endet für die JA, die AfD und für Kalbitz in einer Art Limbo. Auf der einen Seite extrem erfolgreich, auf der anderen voller Ungewissheit, ob der eingeschlagene Weg weiter Erfolg zeitigen wird. Dann kommt Corona.

V Eine Frage der Macht

Der Ausbruch von Covid-19 ab Frühling 2020 erwischt die AfD kalt, denn für eine Oppositionspartei ist schwer zu punkten, wenn die Stunde der Exekutive schlägt, es herrscht Pandemiemanagement. Und das Vertrauen in die Kanzlerin auf Abruf, die unter AfD-Anhängern nicht gerade wohlgelitten ist, wächst in der Bevölkerung. Im Sommer meldet sich Hagen Weiß per Skype aus Mexiko. Vor sechs Monaten sei er in die CDU eingetreten, sagt er, „auch, um mit mir im Reinen zu sein“. Seit vier Jahren nun lebt er in Lateinamerika, „die von Deutschland propagierte Willkommenskultur wird hier gelebt“. Manchmal spaße er mit seiner Frau über seine Zeit bei JA und AfD. „Meine Jugendsünden. Ich bereue es. Ein bisschen.“ Seine damaligen Alpträume hätten sich erfüllt.

Vor eineinhalb Jahren schloss Weiß sein Fernstudium ab, mit dem MBA an der Queen Mary Universität in London. In Mexiko managt er ein Team von 50 Leuten, die ein interaktives Handygame in verschiedene Sprachen übersetzen. „Mein Lebensmittelpunkt ist jetzt hier.“ Dass er sich noch einmal politisch engagiere, könne er sich nicht vorstellen. Arbeitet im Lockdown von zuhause aus, um die 16 Stunden am Tag, und wundert sich über die Abneigung in Deutschland gegenüber Masken. „In Mexiko sind die Leute viel achtsamer und trotzdem locker.“ Für die Auseinandersetzung mit der AfD gibt Weiß auf den Weg: „Sachlich sollte der Umgang sein, ihr keine Blöße zum Angriff geben. Wenn Armut und soziale Ungerechtigkeit bekämpft werden, schadet dies der Partei am meisten.“

Derweil bekämpft sich die AfD zunehmend selbst. Der Bundesvorstand schmeißt überfallartig Andreas Kalbitz aus der Partei; seine rechtsextreme Biografie vor Gründung der AfD, die er verschwieg, droht ihm doch vor die Füße zu fallen. Er wehrt sich gerichtlich. Und gibt Thorsten Weiß ein Facebook-Interview. „Vorneweg“, fragt ihn Weiß, „wie geht es dir eigentlich?“ Kalbitz spricht von „pseudojuristischen Taschenspielertricks“ und einem „persönlichen Vernichtungsfeldzug“, davon, dass er eine dunkle Vorvergangenheit habe: „Ich war auch mal Mitglied der Jungen Union.“ Weiß lächelt. „In der schlimmsten Krise nach 1945“, sagt er mit Blick auf die Pandemie und Grundrechtseinschränkung, „haben wir nichts anderes zu tun, als sich mit uns selbst zu beschäftigen.“

In Berlin kündigt sich ein Gewitter an. Tief hängen die Wolken an diesem Sommertag 2020. Philipp Meyer sitzt wieder am Hackeschen Markt, nippt wieder an einer Apfelschorle. Er ist 37 und wie Hagen Weiß Projektleiter geworden, im Softwarebereich, ebenfalls mit langen Arbeitstagen; die letzten zwei Jahre arbeitete er in Frankreich, die davor in der Schweiz. Das Gespräch, das wir führen, wird er Monate später zuerst schriftlich autorisieren, dann aber im Juli 2021 wieder zurückziehen. Wir reden über den wilden Ritt von durch Rechte übernommenen Landesverbänden, über den Umstand, dass dort Mitgliedsanträge von Leuten mit einer Vergangenheit bei den Piraten abgelehnt werden – Gated Communitys der anderen Art. Meyer macht einen zerknirschten Eindruck, als wurme es ihn, nicht mehr politisch aktiv zu sein.

Das Berliner Abgeordnetenhaus verschanzt sich ebenfalls. Wegen der Corona-Pandemie hängt drei Kilometer südwestlich vom Hackeschen Markt ein weißer Zettel am Portal: „Für externe Besucher nicht zugänglich.“ Mit Hilfe von Thorsten Weiß geht es doch noch hinein, bei der Europawahl vor einem Jahr reichte sein Listenplatz nicht aus, nun residiert er weiterhin unterm Dach des ehemaligen Preußischen Landtags; die Linken-Abgeordneten vom Flur nebenan haben immer noch die Glastür überklebt. Doch Weiß plagen andere Sorgen: Die Fraktion ist zerstritten, es hagelt Misstrauensanträge. „Es geht drunter und drüber“, seufzt er, mittlerweile 37, über die Kabalen. „Im Wesentlichen von Machtfragen getrieben“ sieht er die Konflikte zwischen den „Sozialpatrioten“ wie ihm und den „Marktliberalen“. „Bei uns in der Fraktion gab es nie Auseinandersetzungen strömungspolitischer Natur.“ Im Regal steht die „Bismarck-Medaille“, eine Auszeichnung, die Weiß von Björn Höcke erhielt – der Landesvorsitzende Thüringens ist die schillerndste Figur des mittlerweile aufgelösten „Flügel“ in der AfD, und Weiß war dessen „Obmann“ in Berlin; mittlerweile darf man Höcke nach einem Gerichtsurteil als Faschist bezeichnen. Wo Weiß wohnt, hatten Unbekannte 2017 an die Hauswand gesprüht: „Hier wohnt der Faschist Thorsten Weiß.“ Das habe er nicht publik gemacht, „hab ein dickes Fell“. Der JA mittlerweile entwachsen, unterstützt er sie als Fördermitglied. „Wer in der Jugend als offiziell ‚rechts‘ gilt, muss selbstbewusst sein, die JA hat schon Probleme Nachwuchs zu rekrutieren.“ Ihre Mitgliederzahl stagniert bei 1600.

Haltung ist Weiß wichtig, er drückt den Rücken durch wie vor fünf Jahren, ganz Gentleman, „ich pflege keine persönlichen Feindschaften“, und er verteilt Haltungsnoten: Bei Wortwahl und Duktus nach außen, bei all den Posts und Tweets, würden die „Gemäßigten“ radikaler und rabiater auftreten als das, was der Flügel war. „Die hauen mehr drauf.“ Ein Eindruck, der mit Blick auf Politiker wie Jörg Meuthen, Alice Weidel, Beatrix von Storch und Georg Pazderski nicht von der Hand zu weisen ist. Im Bundesvorstand der AfD herrscht mittlerweile eisiges Schweigen, eine Frontstellung zwischen den Strömungen.

Wenn Weiß die Handschuhe auszieht, zielt er aufs Unpersönliche. Erst am Vortag hat er bei Twitter ein Filmchen hochgeladen, es zeigt wütende Männer, die Baumsetzlinge herausreißen. „Das ist der Islam, den die Altparteien hofieren“, schreibt Weiß, und: „Dabei tritt der Islam Frauen im wahrsten Sinn des Wortes mit Füßen und reißt gepflanzte Bäume aus, weil Allah keine Plantagen erlaubt.“ Nur: Das Video aus Pakistan dokumentiert einen Streit zweier Stämme um ein Stück Land, mit Religion hat der Eigentumsdisput nichts zu tun. Und: In islamischer Theologie und Tradition findet sich kein Hinweis gegen das Pflanzen von Bäumen, im Gegenteil – vor Weiß liegen nun auf dem Tisch mitgebrachte Prophetensprüche, die Baumpflanzen loben.

„Das hat ein Mitarbeiter gemacht“, sagt Weiß zum Tweet. „Das ist die Problematik, eben der Islam, die wir haben. Und Twitter ist ein Medium, um Stimmung zu transportieren.“

Hat er jemals wütende Muslime im Berliner Tiergarten gesehen, die an Bäumen rütteln?

„Nein, das müsste dann kenntlich gemacht werden.“ Eine Pause entsteht. „Es ist nicht meine Aufgabe, das in der Tiefe auszuleuchten.“ „Das“, „Stimmung“, „Problematik“ – worauf will er hinaus? „Provokation ist das Schwert des Schwachen. Es bringt mehr Klicks. Das ist ein System, das sich selbst bedingt.“ Fotos von sich und seinem kleinen Sohn am Nordseestrand hätte man 22 Mal geteilt, das Pakistanvideo bereits über 700 Mal. Im Netz ist Weiß populär, avisiert seine erneute Kandidatur fürs Abgeordnetenhaus im kommenden Jahr. Das Studium verfolgt er nicht mehr.

Und plötzlich, bei einem Routineanrufversuch, meldet sich Jean-Pascal Hohm. „Ich bin wieder da“, scherzt er. Klar, man könne sich treffen.

Wie viele AfD-Mitglieder schaut Hohm für einen kurzen Moment verdutzt, als man nicht seine ausgestreckte Hand drückt, hier am Bahnhof Berlin-Friedrichstraße, sondern den Ellenbogen-Check anbietet; noch immer herrscht in Deutschland jene Pandemie, welche die AfD längst für beendet erklärt haben wollte. Über seinen persönlichen Tauchgang vor eineinhalb Jahren indes ist genügend Gras gewachsen, „es war eine Kurzschlussreaktion“, fasst er zusammen, als er an einen Cafétisch setzt. „Es gab so viele Anrufe und Anfragen, da fragte ich mich, was das alles wert ist.“ Er habe Ruhe gewollt, sitze immer noch an seinem Studium, jetzt Rechtswissenschaften, und arbeite als Mediengestalter für die Partei und für Unternehmen; mittlerweile leitet er das Wahlkreisbüro eines Landtagsabgeordneten. Er ist 23.

„Das Selfie war dumm und naiv“, erinnert er sich an das Foto, das ihn und drei andere mit einem italienischen Aktivisten des faschistischen Casa Pound zeigt; „Deutsche Kameraden in Ostia“ hatte der es auf Instagram betitelt. „Es war keine politische Reise, sondern ein Pärchenurlaub“, sagt er. In einer Strandbar habe man ihn getroffen, „ich hatte ihn nicht kontaktiert, kannte ihn auch vorher nicht“. Wer das getan habe, sagt er nicht. „Wir haben mit dem Typen einen Aperol Spritz getrunken, und das war’s. Aber ich verstehe die Aufregung: Wenn sich ein Linker mit einem Stalinisten träfe, würde ich das auch ausschlachten.“ Und das Foto mit dem Konferenztisch? „Ist nicht Italien, sondern Ludwigsfelde.“

Der Werbefilm für Mecklenburg-Vorpommern, der sei auch „unüberlegt“ gewesen. Man habe keine echten Schauspieler gefunden und ihn gefragt. „Das war halt Werbung, da ging es nicht um Realität. Parteien sind im Wettstreit miteinander.“

Und dann ist die Vorspiegelung falscher Tatsachen erlaubt?

„Okay, würd ich nicht nochmal machen.“

Er rührt in seinem Cappuccino. Sein Lebensschwerpunkt ist nun Cottbus, „da ist es ruhiger, man grüßt sich auf der Straße – in Potsdam dagegen nicht.“ Grüßt er denn alle, etwa auch einen Menschen mit schwarzer Hautfarbe? „Nein, ich gehe davon aus, dass er mich nicht versteht, weil er Ausländer ist.“ Das sei ein Gefühl. Er gehöre nicht zur „natürlichen Gemeinschaft“.

Einen Ostfriesen, fern der niederlausitzschen „Gemeinschaft“, würde er den grüßen?

„Der ist doch Deutscher.“

Und einen Deutschen mit schwarzer Hautfarbe, der in Cottbus geboren ist?

„Ich kann doch nicht erkennen, ob er vielleicht doch hier geboren ist und meine Sprache spricht.“

Er stockt. Jeder Mensch sei doch in einem gewissen Maß oberflächlich, sagt er, Vorurteile seien auch notwendig, um sich zu schützen. Manchen Leuten gibt Hohm einfach keine Chance. „Ja, das ist hart, aber bei uns gibt es eine Grundskepsis. Wir haben keine positiven Erfahrungen mit Migranten, vor 2015 gab es ja keine.“ Und damit er diese nicht macht, grüßt er sie auch nicht.

Hohm, der als „Nachwuchshoffnung“ der AfD beschrieben wurde, dränge es nicht mehr nach vorn, sagt er. „Es geht zwar in meine Richtung“, sagt er über die Entwicklung seiner Partei. „Dass indes viele intellektuelle Köpfe die AfD verließen, schmerzt.“ 2015 habe er noch etwas verändern wollen, „heute aber gibt es keinen Wettstreit der Argumente mehr, nur noch Anfeindungen, eben Links gegen Rechts.“ Dabei wisse er gar nicht mehr, ob er sich als „klassisch rechts“ bezeichnen würde. Das bedingungslose Grundeinkommen zum Beispiel, das fände er gut. Er klingt müde. Und als ob ihm die schnellen Antworten abhanden gehen könnten. Als er aufsteht, sagt er, vielleicht werde er doch demnächst einmal einen „Schwarzen“ auf der Straße grüßen. Hohms politische Entwicklung der vergangenen fünf Jahre mäandert, tritt hier und da über die Ufer, ist unstet.

Die Verhärtungen, welche die AfD nach oben brachten, zeitigen Verschleiß. Junge Erwachsene wie Hohm und Thorsten Weiß, denen es an Selbstbewusstsein und Transparenz nicht mangelt, hinterfragen langsam das Dauergeschrei der Partei – Weiß auf der Bühne mit Blick nach vorn, Hohm mehr im Maschinenraum. Hagen Weiß dagegen will von politischem Aktivismus nichts mehr wissen, während Philipp Meyer mit seiner parteilichen Heimatlosigkeit hadert. Vier Personen, und keine von ihnen politisch wirklich glücklich.

VI Weichenstellungen

Für einen anderen droht auch kein Happyend. Für einen, der immer eine Hand über die JA hielt, im AfD-Bundesvorstand für sie zuständig war, Kader wie Thorsten Weiß förderte. Es ist dunkel in den massigen Fluren des Landgerichts in Mitte. Andreas Kalbitz strengt einen Eilantrag an, gegen den Rausschmiss aus der Partei. Doch anwesend ist er nicht, an diesem Freitag Ende August. Nur Alexander Gauland, der 79-jährige Ehrenvorsitzende, schlendert einsam vorbei. Einen Kommentar zum Zustand der JA weist er zurück, als bitte man ihn um einen Salto. „Es kann nicht festgestellt werden“, beginnt der Richter, „dass der Beschluss des Bundesvorstandes der AfD vom 15. Mai 2020 zur Beendigung der Mitgliedschaft von Herrn Kalbitz in der AfD evident rechtswidrig gewesen sei“.

In den Augen der „Gemäßigten“ ist Kalbitz ein Bauernopfer, das ihnen den Verfassungsschutz auf Abstand halten soll. Von draußen scheint die Sonne grell in den kalten Steinbau. Gauland hat sich durch einen Seitenflur zurückgezogen. Durch die Historie der AfD unterschiedlich geschlagene Wunden zeichnen Hagen und Thorsten Weiß, Jean-Pascal Hohm, Philipp Meyer und JA-Mentor Andreas Kalbitz. Aber eines haben sie alle gemeinsam: Warm ist es unter dieser Sonne nicht.

Im Herbst wehrt sich Kalbitz weiterhin. Zwar ist er nur noch einfacher Landtagsabgeordneter, zieht aber umher, wird eingeladen, zum Beispiel von Pegida. Im November 2020 steht er in Dresden auf einer Bühne, er ruft der Menge aus selbst ernannten Abendlandrettern zu: „Wir sind auf dem Weg zur Corona-Diktatur!“ Nach konfusem Schweigen zu Beginn der Pandemie hat die AfD ein neues Thema gefunden, endlich wieder eines zum Aufregen: Infektionsschutzbestimmungen. „Widerstand“, unterbricht die Menge Kalbitz, sie skandiert „Lügenpresse“, dann „Ausmisten“. Kalbitz spricht die Demonstranten direkt an: „Wir, auch die AfD, wären nie so weit gekommen, wenn es diese Mut-Bürger nicht gegeben hätte!“ Eine Woche später lädt er dorthin, wo diese Geschichte begonnen hat.

Zum Apsisbild des Apostel Andreas führen sieben graue Stufen in der Potsdamer Nikolaikirche. Doch gleich gegenüber, im brandenburgischen Landtag, geht es zu Andreas Kalbitz bis ganz hoch unters Dach. Der Apostel schultert in der Seccomalerei das Kreuz, das ihn binden wird. Der Politiker dagegen zeigt sich im nüchternen Fraktionsbesprechungsraum der vierten Etage wie befreit. „Ich hab ja jetzt Zeit“, scherzt er. „Die vergangenen Jahre waren ein wilder Ritt nach oben. Nun kann ich das erstmal auch sacken lassen und reflektieren, bevor es weitergeht.“ Auf die Frage, ob das nun ein Karriereknick sei, antwortet er nach einem Moment. „Nominell ja, aber da bin ich schmerzfrei.“ Kalbitz war zwölf Jahre Fallschirmjäger bei der Bundeswehr, er bemüht gern Militärisches. „Ich sehe es als Gefechtspause.“ Gelassener habe ihn „die Aktion mit mir“ gemacht, die „teilweise krassen menschlichen Erfahrungen mit Anderen“. Ab Januar wird sich das Gericht endgültig damit befassen, ob der Parteiausschluss rechtens war. Falls ja, „ist juristisch das letzte Wort auch noch nicht gesprochen“. Es ist der Griff nach einem Strohhalm, begleitet von einer Note Pathos: „Aufgeben war für mich nie eine Option im Leben.“ Das Leben, in den Worten von Kalbitz bleibt es ein Kampf. So vieles feindlich. Er schiebt hinterher: „Ich habe vier Jahre Zeit.“ Der 48-Jährige sagt es mit der Gewissheit, dass die AfD in diesen sechs Jahren immer in seine Richtung gewandert ist. Der jetzige Rempler gegen ihn – ein vorübergehender Kollateralschaden, bald behoben, als gäbe es dafür eine Werkstatt. „Die AfD von Lucke war so konservativ, wie die CDU es 20 Jahre zuvor gewesen war. Mehr war da nicht.“ Kalbitz aber wollte mehr. Nur über seine eigene Vergangenheit will er nicht viel sagen. In seinem Umfeld wird gern der Vergleich mit Joschka Fischer bemüht, der sich in seiner linksradikalen Jugend mit Polizisten kloppte und dem man das heute kaum vor die Nase hält. Nur besuchte der keine Zeltlager der Hitlerjugend. Und Fischer redet abendfüllend darüber. Kalbitz dagegen weicht aus.

„Ich kann doch eh erzählen, was ich will“, sagt er. „Das Narrativ ist gesetzt, in der Schublade bin ich drin.“ Eindimensional einzuordnen sei er dennoch nicht. Wer ist das schon? Und sagt am Ende andeutungsvoll: „Ich hab mich sicherlich entwickelt.“

Das tat die AfD auch.

Beim Hinausgehen schwärmt er von französischem Käse und Wein, von Literatur. Die freie Zeit wolle er nutzen, um in Émile Zolas Zyklus „Les Rougon-Macquart“ zu schauen – immerhin 20 Romane. „Da ist in den letzten Jahren viel auf der Strecke geblieben, was hilft jenseits der ‚Politikblase‘ Abstand zu halten und den Horizont nicht zu verengen. Und einen Sarrazin würde ich eher nicht zur Bettlektüre nehmen. Das reicht mir am Tag.“ Viel unterwegs sei er, es gelte zu mobilisieren. „Runter vom Sofa, raus auf die Straße, neben der parlamentarischen Arbeit, das ist das Gebot der Stunde.“ Draußen, zwischen Landtag und der Säulenkolonnade der Kirche, steht kein Mensch.

Zwei Tage später flimmern Livebilder überm Bildschirm, Kalbitz baut sich unweit des Reichstags in Berlin vor einem Wasserwerfer der Polizei auf und gibt Interviews, inmitten der „Corona-Proteste“. „Wehret den Anfängen“, sagt er, „gegen die schleichende Entdemokratisierung“, und den Spruch mit dem Sofa rezitiert er auch. Polizisten mit Schilden laufen an ihm vorbei. In diesem Moment macht Kalbitz weniger auf Connaisseur und mehr auf Apo. Er wirkt wie ein linker Anwalt, der Staatsgewalt anprangert, aber die Demonstranten hier sind eher eine wilde Mischung – Corona-Zweifler, die im vom Bundestag beschlossenen Infektionsschutzgesetz ein „Ermächtigungsgesetz“ sehen. Mit Nazivergleichen sparen sie kaum; dabei sind auch etliche Funktionäre der NPD in der Menge. Eindimensional sind die Rollen von Kalbitz sicherlich nicht.

Zeitgleich ein Anruf von Jean-Pascal Hohm. „Das ist doch verrückt“, regt er sich über die Proteste auf. „Dieses Diktatur-Gerede ist Quatsch.“ Den Erlass könne man kritisieren, aber nicht mit dem Ermächtigungsgesetz gleichsetzen. Hohm hat etwas zu verkünden: Er plane eine Kandidatur für den Bundestag, in Cottbus. Er, der im Maschinenraum bleiben wollte, der anfing zu zweifeln? „Das ist eine Abwägungssache. Wie stellen wir uns im Wahlkreis auf? Das sieht gerade personell eher mau aus, ein Riesenproblem.“ Er fühle Verantwortung für die Region, sagt er. Für einen 23-Jährigen klingt es ein wenig alt. Und die Vergangenheit, die dann wieder öffentlich wird, die Bilder und Posts? „Dem muss ich mich dann stellen. Ich hab eine Entwicklung durchgemacht.“ Die Wasserwerfer der Polizei legen nun los. Kein harter Strahl senkt sich auf die Menge vorm Brandenburger Tor, sondern ein feiner Sprühnebel. Er legt sich auf die Jacken, zieht ein in jede Faser und die Leute schimpfen, wenden sich ab. Abendrot zeichnet sich ins Firmament. Warm ist es unter dieser Sonne nicht.

Doch für Hohm und Thorsten Weiß geht es voran, in mühsamem Schneckentempo. Zwar wird es nichts mit der Bundestagskandidatur, sagt Hohm im Juni 2021 am Telefon, „mein Chef wollte auch kandidieren, da zog ich natürlich zurück“ – jener Landtagsabgeordnete, dessen Wahlkreisbüro er leitet. Stattdessen wurde er zum Vorsitzenden des Cottbusser Kreisverbands gewählt, der Maschinenraum wird größer; eine Chance, sich zu empfehlen, „seitdem haben wir die Zahl unserer Mitglieder um zehn auf 70 erhöht“. Und Weiß arbeitet sich für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September voran, von Listenplatz 9 im Jahr 2016 diesmal auf Platz 7. Kalbitz tourt derweil in diesem Frühsommer als Wanderprediger durch Ostdeutschland, tritt wieder bei Pegida auf, mal bei Kundgebungen der AfD. Seiner Mitgliedschaft und seinen früheren Ämtern kommt er damit nicht näher. Kalbitz sammelt Getreue an der Basis, aber andere beginnen ihn zu vergessen. Auf Facebook schreibt er: „Aller politischen Unbill und dem real existierenden Irrsinn, der aktuell unser Land zu beherrschen scheint zum Trotz, wünsche ich frohe, besinnliche und kraftschöpfende Pfingsttage!“

Eine Tendenz tut sich auf. Ein Straßenaktivist wie Hohm strebt gen Parteistruktur und Parlament, ein Berufspolitiker wie Kalbitz dagegen auf die Straße. Beide starten durch auf ihre eigene Art; die Wege, von der AfD geschlagene Wunden verheilen zu lassen, sind nicht gleich. Die Partei frisst ihre Kinder. Und manche beißen zurück. „Eigentlich gehe ich sehr positiv durchs Leben“, sagt Hohm, „aber in den Parteien gibt es machttaktische Spiele. Da hat sich bei mir eine Grundskepsis gegenüber Menschen entwickelt.“ Sein Studium hakt. „Politik und Job haben aktuell Priorität.“ Und Thorsten Weiß bilanziert in einer Mail: „Ich habe mir im Laufe der Jahre ein sehr dickes Fell zugelegt. Das ist im Kampf mit dem politischen Gegner und auch innerhalb der eigenen Partei fast schon überlebenswichtig. Politik ist ein hartes Geschäft.“ Fell. Kampf. Geschäft. Sechs Jahre lang. Wie Baumringe ziehen sie größere Kreise, diese Jahre. Doch der Ton drumherum wird schrill und der Atem kurz.

Im Juli 2021 macht Thorsten Weiß erstmal Urlaub, zum „Luftholen“ vor dem Wahlkampf. Hohm ebenfalls. Kalbitz dagegen tourt stoisch weiter, „alles wie bisher“, sagt er. Philipp Meyer will nach einem längeren Gespräch und der Zusendung der Zitate nichts mehr autorisieren, auch bereits Bewilligtes, und zieht sich zurück. Und Hagen Weiß expandiert mit der Mobile-Gaming-Industrie von Mexiko aus, „obwohl ich weiterhin sehr gern über Politik lese“, schreibt er, „vermeide ich politische Diskussionen weitgehend, da sie meist zu Streit führen, und um so mein persönliches Glücksempfinden nicht zu gefährden“. Denn: „Ich bin sehr glücklich mit meinem Leben.“ Seine persönliche Erfahrung sei gewesen, dass man als junger Mensch in der Politik als Pfandgeld für politische Interessen genutzt werde, „sei es als Token für ältere Politiker, um sich als Verfechter der jungen Generation darzustellen, oder lediglich als weitere Stimme für Partikularinteressen“.

Die einen geben sich die stete Dosis. Für ihre Sache oder das eigene Fortkommen, vielleicht beides, und leicht weg kommt man von dem Zeug auch kaum, von der eigenen Welt, die langsam rundherum erwachsen ist und man selbst ja auch, vom hohen Puls und der kalten Verhöhnung. Etwas schleift sich ein, das geht nicht mehr rasch weg.

Und die anderen entgiften sich.