Zeitenspiegel Reportagen

Eis mit Stil

Von Autor Erdmann Wingert

Das Kreuz mit der Fahrt: Pinguine, Captain’s Dinner und immer schön Kavalier bleiben.

Am elften Tag auf See fährt Kapitän Oliver Krüß aus der Haut, reckt die Faust, springt in die Höhe und schreit. Wie weggewischt die Maske des charmanten Plauderers auf der Brücke, getilgt die scharfen, von Nachtwachen gekerbten Falten um Mund und Augen. Ein blankes Jungengesicht strahlt zwischen dem Rollkragen des Troyers und der Strickmütze, Jagdfieber in den Augen, das Kinn gereckt und der Schrei: „Blauwal! Blauwal!“

Die Passagiere reißt es herum. Schulter an Schulter stehen sie am Schanzkleid, das den verandaförmigen Vorbau der Brücke rahmt, Fernstecher und Kameras gezückt. Jetzt starren sie entgeistert auf ihren Kapitän, der jubelnd den Zeigefinger über die Reling sticht, in Fahrtrichtung deutet, dorthin, wo sich soeben fünfzig Meter voraus ein Koloss aus den Kabbelwellen gebuckelt hat. Im nächsten Augenblick schwingt die mächtige Schwanzflosse in die Höhe, turmhoch stäubt die Fontäne des Blast in der Luft und eine Brise weht den faulig fischigen Mundgeruch des Tiers herüber. Kameras klicken und schnurren. Doch im nächsten Moment markiert nur noch eine Schaumspur seinen Kurs in die Tiefe. Dahinter taumelt ein kleiner, glockenförmig zusammengeschmolzener Eisberg in der Dünung.

Die Passagiere wandern ab, Richtung Bordrestaurant, wo man ihnen wie jeden Abend ein fünfgängiges Menü bescheren wird. Doch der Kapitän bleibt und bebt immer noch ein wenig. Seit dreizehn Jahren schippert er auf der World Discoverer durch die Weltmeere, davon zum 57. Mal den sechstausend Kilometer langen Törn in die Antarktis. Doch heute ist zum ersten Mal ein Blauwal vor seinem Schiffsbug aufgetaucht. Das größte Tier der Welt, dazu das seltenste der acht Arten, die in der Antarktis vorkommen. Dreißig Meter lang, hundertsiebzig Tonnen schwer, eine kostbare, vom Aussterben bedrohte Rarität. „Kein Zweifel, das war einer“, versichert er, „sieht man sofort an der Schwanzflosse.“ Und nach einer kleinen Denkpause reicht er die bittere Wahrheit nach. „Gibt wahrscheinlich nur noch sechs- bis achthundert davon. Das langt wahrscheinlich nicht zum Überleben. Bevor die Walfänger kamen, schwammen davon Hunderttausende hier rum.“

Ein Ehepaar ist geblieben, lehnt an der Reling, versunken im Angesicht des Sonnenuntergangs, der den Himmel mit Purpurschwaden eindeckt und die Zinnen der Eisberge in Flammen setzt. Als den Beiden der Gegenwind ins Gesicht beißt, weil das Schiff wieder mit voller Kraft Richtung Süd-Orkney-Inseln fährt, flüchten sie in die Brücke und schauen dem Kapitän über die Schulter. Der steht vor dem smaragdgrün glühenden Schirm des Navigationscomputers und rekonstruiert den Kurs, den das Schiff in den vergangenen Stunden auf der Waljagd genommen hat. „Schaun Sie, hier sind wir einen Vollkreis gefahren, danach diese Kringel und dann ist er nach Osten abgehauen. Hat dort vielleicht eine Verabredung. Um diese Zeit sind sie dick und rund gefressen. Umso verspielter sind sie. Wussten Sie, dass so ein Vieh pro Tag mehr als vier Tonnen Krill verschlingt?“

Das Paar wusste es nicht und zeigt sich beeindruckt. Der Kapitän wirft einen Blick durch den dämmrigen Raum, in dem sein erster Offizier und ein philippinische Rudergänger die Stellung halten, neigt den Kopf auf die Schulter und zwinkert die scharfen Wangenfalten zu Lachgrübchen. „Wachoffizier und Wachgänger passen auf, dass wir nirgendwo auflaufen“, erläutert er im Plauderton. „Der Kapitän ist einzig und allein auf der Brücke, um die Passagiere zu unterhalten.“

Da ist er wieder, der Conferencier, der die Brücke zur Bühne macht, den charmanten Kerl rauskehrt und auch äußerlich was hergibt: Mitte vierzig, schlank und hoch gewachsen, das Musterbild eines Kreuzfahrtkapitäns, der sich schon mal selbst auf den Arm nehmen darf, ohne Autorität einzubüßen, und die Antworten parat hat, bevor die Fragen kommen, manche von ihnen zum hundertsten Mal. „Sind ihre Vorfahren auch zur See gefahren?“ fragt ihn am nächsten Tag eine der vielen mütterlichen Damen an Bord. „Ja, mitunter zum Angeln“, erwidert er. „Aber die sind immer so seekrank geworden. Da haben sie lieber bei der Post angefangen.“

Der See verbunden war allerdings jeder von ihnen. Helgoland, wo er zur Welt kam und aufwuchs, ist kaum mehr als ein geräumiger Felsen aus Buntsandstein, der siebzig Kilometer vor der Elbmündung aus der Nordsee ragt. Atlantis soll in dieser Region gelegen und in sagenhafter Vorzeit versunken sein. Verbürgt ist, dass sich vor sechshundert Jahren der Seeräuber Störtebeker auf Helgoland einnistete und von hier aus die Koggen der Hamburger Pfeffersäcke kaperte.

Aber neben Piraten, Strandräubern und Postbeamten bot und bietet die Insel auch anderen Spezies ein Auskommen. Auf Segeltouren zu den Sandbänken vor Helgoland beobachtete der junge Oliver Krüß die Kolonien der Delphine, Robben und Trottellummen, ließ sich unter Vogelschwärmen treiben, die zur Zugzeit den Himmel über den fruchtbaren, vom Golfstrom erwärmten Watten bewölken und beschloss, Ornithologe oder Meeresbiologe zu werden. „Den Entschluss, zur See zu gehen, hab ich erst kurz vorm Abitur gefasst“, erzählt er. „Und nie bereut, weil ich alles mochte, was mit dem Meer zu tun hat. Wasser und Wind. Und Schiffe.“

Besonders dieses hier, die World Discoverer, auf der er als Souverän über hundertsechzig Passagiere und hundert Crewmitglieder herrscht. Darunter ein Dutzend Naturwissenschaftler, die den Gästen in Referaten und auf Exkursionen die antarktischen Attraktionen näher bringen. „Ein wenig stolz bin ich schon, dass ich manchmal mit ihnen konkurrieren kann, wenn es darum geht, eine Vogel- oder Walart zu benennen,“ gesteht der Kapitän, dem sich in dieser fast menschenleeren und vor Leben wimmelnden Gegenwelt der Jugendtraum erfüllt. Da gibt es Strände, auf denen sich hunderttausende von Königspinguinen drängen, dazwischen Pelzrobben, die Revierkämpfe vor ihrem Harem bestreiten, Gipfel, über denen die seltenen Graumantel-Albatrosse kreisen, stille Paradiesbuchten, in denen sich die zerklüfteten Steilwände der Gletscher spiegeln, und immer wieder bizarr verformte Eisberge, kristalline und kathedralenhohe Wunderwerke, himmelblau durchglüht und gelegentlich von Pinguinen gesprenkelt. Es ist eine privilegierte Klientel, mit denen er auf seine Traumreise geht. Leute der Luxusklasse, die auf den branchenüblichen Kreuzfahrt-Klamauk der Animateure und Eintänzer pfeifen und für die achtzehntägige Tour vom Südzipfel Argentiniens bis tief in die Weddellsee ein Heidengeld zahlen. Als Ökö-Touristen und Botschafter für den weißen Kontinent preist er seine reichen und einflussreichen Gäste. „Eines Tages wird die Industrie nach den Bodenschätzen der Antarktis greifen“, prophezeit er. „Ich hoffe, dass dann unsere Passagiere dafür sorgen, dass die Natur hier erhalten bleibt.“

Inzwischen jedoch greift der Tourismus nach dem Erlebnisschatz, den der weiße Kontinent birgt. Zwei Dutzend Kreuzfahrtschiffe, darunter Massenmenschfrachter mit 1400 Passagieren, versuchen jede Sommersaison, ihren Gästen das Gefühl zu verleihen, unberührte Gefilde zu erobern. Mit steigender Tendenz. Da sie alle denselben Kurs nehmen, fällt es den Kapitänen zuweilen schwer, Begegnungen zu vermeiden, die das Bild der Exklusivität stören würden.

Kapitän Krüß sieht es mit Sorge. Es gibt sogar kurze private Momente, in denen es scheint, als sei er es müde, Jahr für Jahr den Erlebnisbedarf seiner Gäste zu bedienen. Er wird dafür gut bezahlt, mit Sympathien überschüttet und beteuert, dass ihm diese kleine insulare Gemeinschaft an Bord das Gefühl vermittle, zu Hause zu sein. Doch Bindungen wie in seinem Heimatdorf sind bei der fluktuierenden Gästeschar kaum möglich. Eher schon innerhalb der Crew, auch wenn es die Position des Kapitäns erschwert, sich zu verbrüdern. Immerhin hat er auf dem Schiff seine Frau kennen gelernt, die den Hotelbetrieb an Bord leitete, heute allerdings an Land lebt. „Bei Hamburg, nicht auf Helgoland“, sagt er leichthin. „So ein Inselleben, das ist auf Dauer nichts für sie.“

Seemannslos. Wenn er davon erzählt, verdunkelt sich sein Gesicht, ebenso seine Kabine, in der er dann zum Kettenraucher wird. Neun Monate pro Jahr auf See und das seitdem er denken kann, da lassen sich kaum haltbare familiäre Verhältnisse herstellen. Seine zwei Töchter, die heute im Teenageralter sind, kennt er kaum, mit ihren beiden Müttern liegt er seit Geburt der Kinder überkreuz. „Früher hab ich mich nie um Familienfeste und dergleichen gekümmert“, sagt er. „Heute bin ich bei jeder möglichen Gelegenheit dabei.“

Hinzukommt der Stress, Jahr für Jahr rund um die Uhr die Verantwortung für Mann und Maus an Bord zu tragen. Das Titanic- Trauma seines ersten Kommandos als Kapitän verfolgt ihn. Die Katastrophe ereignete sich vor drei Jahren in der Südsee. Auf einer engen Passage zwischen zwei Inseln des Salomonarchipels riss ein Korallenriff, das auf keiner Seekarte verzeichnet war, ein Leck in den Schiffsrumpf, durch das vierzig Tonnen Wasser pro Minute stürzten. Der Alptraum jedes Kapitäns wurde Wirklichkeit: Er musste die Passagiere evakuieren. „Keiner kam zu Schaden, aber danach blieb mir nichts anderes übrig, als das Schiff auf den Strand zu setzen, um zu verhindern, dass es sinkt.“

Das Manöver, mit dem er die Chance wahrte, das Schiff zu bergen, führte zu einer neuen Tragödie. Dass der Schiffsbug eine Palme fällte, die im Weg stand, war zu verkraften. Schwerer wog die Phalanx der schiffbrüchigen Passagiere an Land, die es sich nicht nehmen ließ, die Rettungsaktion in allen Phasen zu filmen. Am verhängnisvollsten jedoch war, dass bewaffnete Desperados aus allen Teilen des Archipels das Schiff überfielen und bis auf den Rumpf ausweideten. Die alte World Discoverer war verloren. „Ein Abenteuer jagt das nächste“, verkündet der Kapitän, während er die neue World Discoverer durch die enge, von Untiefen gespickte Passage in die lavagraue Bucht der Deception-Insel lotst. Auf den Klippen an Backbord rostet das Wrack eines ehemaligen Walfangschiffs. Den Kratersee, in dem der Kapitän vor Anker geht, säumen verkohlte Ruinen der alten Walfangstation, von vergletscherten Steilwänden wehen eisige Winde zu Tal. Vor vierunddreißig Jahren brach der Vulkan zum letzten Mal aus, spuckte tonnenschwere Brocken in den kochenden Kratersee und auf die Forschungsstationen am Strand. Heute gehört es zum Standardprogramm jeder Kreuzfahrt, die Passagiere in knietief ausgeschaufelten Mulden am Strand baden zu lassen – den Hintern in vierzig Grad heißem Wasser, das die unterirdische Thermik liefert. Wenn sie sich eine Stunde danach unter der Dusche ihrer Luxuskabine den Lavasand abspülen, wird der Kapitän sein Schiff wieder durch das Nadelöhr der Passage fädeln, und ein paar Tage später wird er seinen Gästen auf der Brücke die drei Phasen der Seekrankheit schildern: „Zunächst fürchten Sie zu sterben, dann wollen sie sterben und schließlich fürchten Sie, nicht sterben zu können.“

Die Reaktion ist ein leicht gequältes Lächeln, denn es hat sich herumgesprochen, dass ein Sturm auf der Rückfahrt über die Drake-Passage nach Kap Hoorn droht. Die Stimmung wird mulmig, als der Kapitän eigenhändig die seitlichen Fensterfronten der Brücke mit Stahlplatten verkleidet und vom Unglück des Kreuzfahrtschiffs Bremen berichtet, dem eine Sturzwelle ein Brückenfenster zerschlug und die Elektronik in der Kommandozentrale unter Wasser setzte. Die Folge war, dass das Schiff tagelang steuerlos durch die Wellen torkelte.

In den nächsten Tagen ist das Bordrestaurant nur dünn besetzt, erst in den ruhigen Gewässern der Magellanstraße füllt es sich wieder. Als der Kapitän zum letzten Abenddinner vor der Ausschiffung den Saal betritt, prasselt ihm Applaus entgegen.

Er neigt den Kopf auf die Schulter und setzt sein jungenhaftes Lächeln auf. Eine scharfe Falte mehr im Gesicht.