Zeitenspiegel Reportagen

Go for it, Muslimgirls!

Erschienen in "Neue Zürcher Zeitung", 19. Juni 2018

Von Autor Jan Rübel

Was geht ab an feministischen Bewegungen in muslimischen Milieus Deutschlands? Eine Spurensuche.

Irgendwo dort drüben, die Brunnenstraße weiter hoch, muss die Grenze sein. Eine unsichtbare Trennlinie, die Zana Ramadani nicht übertreten mag. „Als Frau wage ich mich nicht mehr in dieses Viertel“, sagt sie. Drüben habe sie einen Klos im Hals.

Zana Ramadani sitzt im Café St. Oberholz am Rosentaler Platz, dem Epizentrum der Hipsterbewegung in Berlin-Mitte, um sie herum lauter ernste Gesichter, die auf Laptops schauen; Ramadani, Feministin und Autorin, schaut aus dem Fenster. „Dieses Viertel“ – damit meint sie den nördlich an Mitte anschließenden Wedding, ein Ortsteil, dessen Einwohner zu 48,3 Prozent einen Migrationshintergrund kennen, unter ihnen viele Türken und Araber. „Dort verfolgt mich ein Spalier von Augen, das ist unangenehm“, sagt sie. „Die Geschlechtertrennung nimmt dort zu, auch die Anzahl der getragenen Kopftücher.“ Immer mehr würden einem patriarchalischen und fundamentalistischen Islamverständnis folgen. „Ich kenne keine wirklich selbstbestimmte und unabhängige Kopftuchträgerin.“ Das will ich herausfinden.

Stimmt es, dass es einen „islamischen Feminismus“, wie Ramadani meint, nicht gibt? Was geht ab an Frauenbewegungen in den muslimischen Milieus Deutschlands? Diese Spurensuche bewegt sich auf emotional aufgeheiztem Terrain: Islam ist derzeit nicht gerade everybody’s darling. Früher waren ¬¬¬¬¬¬Türken und Araber in Deutschland die „Ausländer“, später eben „Türken“ und heute „Muslime“. „Islam-Kritik“ als Alltagswort hat sich etabliert. Dagegen melden sich immer mehr muslimische Frauen zu Wort, prägen Debatten wie übers Kopftuch – unabhängig davon, wie sie dazu stehen; früher wurden diese Diskurse vorwiegend von weißen Männern geführt.

Ramadani zum Beispiel hat darüber ein Buch geschrieben, „Die verschleierte Gefahr“. Darin kritisiert sie eine „Annexion des öffentlichen Raums“, einen „Toleranzwahn der Deutschen“. Es ist auch ein Buch über sich selbst, ihren Ausbruch aus patriarchalischen Familienstrukturen, ihren Kampf mit der muslimischen Mutter um Selbstbestimmung bis hin zur Flucht ins Frauenhaus. Ramadani engagierte sich bei „Femen“, einer Gruppe, die mit Oben-Ohne-Aktionen gegen Sexismus streitet. „Muslimische Milieus sind wie Glaskästen. Der Druck für das Kopftuch, für die Unterordnung gegenüber dem Mann ist immens groß“.

Also raus aus dem Café, die Straße hoch. Wer den Wedding betritt, tauscht die großen Altbauten Mittes mit modernem Waschbeton. Bunt ist es auf den Bürgersteigen. Auch immer wieder Kopftücher. Sind es mehr als vor zehn Jahren? Mag sein. Erhebungen darüber gibt es nicht. Cafés wie das St. Oberholz gibt es im Wedding ebenso, zum Beispiel das „Kater/Goldfisch“, in dem eine junge Frau in engen Bluejeans mit Kopftuch Ingwertee schlürft. „Ach“, sagt sie, „wer ist denn nun die wahre Feministin? Und ist das hier ein Glaskasten? Sexismus ist doch allerorten.“ Mehr will sie nicht sagen, senkt ihren Blick auf einen Aktenberg.

In einem dem Wedding sehr ähnlichen Viertel ist Reyhan ?ahin aufgewachsen, in Bremen-Gröpelingen. „In Seminaren werde ich zuweilen gefragt: ‚Feminismus und Islam – passt das überhaupt zusammen?’, lacht sie. „Keine Ahnung haben die.“ Und zählt die lange Literaturliste dazu auf, vom 1899 erschienenen Buch „Die Befreiung der Frau“ aus Ägypten bis hin zu zeitgenössischen Autorinnen wie Fatima Mernissi oder Riffat Hassan. „Okay, islamfeministische Kritik steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Aber das emanzipatorische Prinzip setzen hier viele gut ausgebildete Musliminnen in ihrem Alltag um.“ ?ahin, 37, arbeitet an der Uni Hamburg, ihre Dissertation schrieb sie über „Die Bedeutung des muslimischen Kopftuchs in Deutschland“, forschte dann über religiöse Darstellungen junger Musliminnen in sozialen Netzwerken; anderen ist sie unter ihrem Künstlernamen Lady Bitch Ray bekannt, eine Rapperin als Gegenentwurf zu chauvinistischen Rappern wie Bushido, die für türkisch-weibliche Emanzipation reimt. ?ahin rührt in einem Zimttee, sie lehnt sich auf einem Sofa in der Cafeteria des Hamburger Afrika-Asien-Instituts zurück. „Leicht haben es muslimische Frauen nicht, wenn sie ihre Rechte reklamieren. Da gibt es die patriarchalischen Strukturen in den eigenen Reihen, in den Verbänden und Moscheenvereinen. Hinzu kommen die Mainstreammedien in Deutschland, die das Bild der benachteiligten muslimischen Frau reproduzieren und betonieren – und schließlich nichtmuslimische Feministinnen, die den Musliminnen bevormundend klarmachen wollen, wie sie sich zu emanzipieren haben.“

In ihrer Dissertation ist ?ahin, die als Lady Bitch Ray den männlichen Sexismus mit Versen ausknockte wie „Aber Deutschland kann nicht ficken/Ich hab alle deutschen Schwänze ausprobiert“, dem Kopftuch auf den Grund gegangen. Es könne nicht als Unterwerfungsgeste pauschalisiert werden, kam sie zum Ergebnis, dafür seien die Trägerinnen zu divers. Mehr gehe es um eine Gruppenidentifikation oder, gerade bei jungen Frauen in Kombination mit moderner Kleidung, um ein Zeichen muslimisch-feministischer Rebellion. Sie beugt sich vor: „Damit lässt sich prima abgrenzen.“ Gewiss könne das Kopftuch auch ein politisches Symbol sein, „zum Beispiel bei ultrakonservativen bis reaktionären Musliminnen. Gerade von Seiten der Trägerinnen fehlt bisher eine öffentlich sichtbare Patriarchatskritik“.

Frauen, wirbt ?ahin, müssten sich unabhängig von den Verbänden und Vereinen organisieren, „sich miteinander solidarisieren und lauter werden“. Zwar würden sich die meisten Muslime in Deutschland nicht mit der Verbandskultur identifizieren, „die ist meist nah an der Regierung in Ankara und strenger als in der Türkei selbst“, aber die Verbände hätten sich in Deutschland die Wahrnehmung des „Islams“ angeeignet – samt eines patriarchalischen Frauenbilds. Eines sei klar, fügt sie an, „in den muslimischen Milieus gerät etwas mächtig in Bewegung“.

Vorbei die Zeiten, in denen Musliminnen mit Kopftuch schlicht übersehen wurden. Heute wirbt ein Model wie Mariah Idrissi mit Nasenpiercing und Kopftuch für H&M, wird der Spielzeughersteller Mattel in diesem Herbst eine Barbiepuppe mit Tschador ins Programm aufnehmen, der US-Fechterin Ibtihaj Muhammad nachempfunden. Eine Firmensprecherin: „Ibtihaj ist eine Inspiration für unzählige Mädchen, die sich nie repräsentiert sahen…Wir hoffen, dass diese Puppe sie daran erinnert, dass sie alles sein und tun können.“ Andererseits dreht sich immer mehr Reden über den Islam um den Körper der Frau. Wer das Kopftuch ablegt, gilt in Augen von Muslimen als vom Glauben abgewandt, während Nicht-Muslime darin eine Befreiung sehen. In dieser Gemengelage trauen sich einige Frauen kaum, das Kopftuch anzulegen.

Eine, die darauf verzichtete, ist Emel Zeynelabidin. Ein Anruf bei ihr in Marburg, in einem Häuschen am Hang. „Ich bekomme gleich Besuch“, sagt die 57-Jährige, „mit einem guten Bekannten will ich meinen neuen Essay besprechen“. Mit zwölf hatte sie das Kopftuch an- und vor 13 Jahren abgelegt. Dazwischen lag unter anderem die ehrenamtliche Arbeit in einem islamischen Frauenverein, Zeynelabidin ist Mitgründerin des ersten islamischen Kindergartens und der ersten islamischen Grundschule Deutschlands; sie ist Tochter des Mitgründers von Milli Görü?, einer mächtigen konservativen islamischen Organisation. „Heute lebe ich als Freigeist, mein eigenes Leben und mit einer angstfreien Beziehung zu Gott.“ 2003, zu Beginn der ersten Kopftuchdebatte in Deutschland, begann sie ihren Glauben zu hinterfragen, suchte nach dem Grund für ihr Kopftuch, studierte die Quellen, „und ich fand, wie unzeitgemäß ein Kopftuch ist, es war damals ein Gebot, damit die Männer Gläubige von Sklavinnen unterscheiden“. Heute aber, sagt sie, gebe es weder diese Sklaven noch sei Verschleierung eine geeignete Antwort auf den Sexismus von heute.

Als ein Vorbild möchte sich Zeynelabidin nicht sehen. „Es ist der persönliche Weg meiner Bewusstseinsentwicklung.“ Der hatte Folgen. Ihr islamisches Umfeld verstieß sie. Und Zeynelabidin spart nicht mit Kritik. „Viele Musliminnen folgen schlicht Vorschriften und denken nicht selbst nach. Und eine Vorschrift wie das Kopftuch ist ein Diktat von Männern. Solange eine Frau es trägt, kann sie sich nicht emanzipieren.“ Dann klingelt es an ihrer Tür, der nächste Essay muss besprochen werden.

Die Zukunft wird auch hier verhandelt – in einem Industriedenkmal Berlins. Früher trocknete unterm Dach der Neuen Mälzerei in Friedrichshain Malz, später, in der DDR, avancierte das Brauhaus zum größten Weinlager des Landes. Heute lauschen hier in einem Seminarraum 14 junge Leute einer Frau mit großen Augen in schwarzer Jeans und Bomberjäckchen. „Wir erleben keinen Kulturkampf, sondern eine Transformationsphase“, sagt Lamya Kaddor, 40, und blickt kurz durchs Fenster. Draußen recken sich Baukräne für ein Neubauviertel in die Höhe. Kaddor ist eine Größe im muslimischen Leben Deutschlands: Sie ist Islamwissenschaftlerin und Publizistin, bildete islamische Religionslehrkräfte aus. In der Neuen Mälzerei tagt die „Junge Islam-Konferenz“ (JIK), eine Plattform für junge Menschen zu islambezogenen Themen, Kaddor ist eine von mehreren Referentinnen und hat gerade ihre neueste Studie zu Islam-Feindlichkeit unter deutschen Jugendlichen vorgestellt. Die Ergebnisse sind ernüchternd, „tut mir leid, jetzt haben Sie schlechte Laune“, beschließt sie ihren Vortrag.

Im Anschluss lehnt sie sich im Foyer an einen Stehtisch. „Bei den jungen Muslimen hat sich ein neues Geschlechterverständnis herausgebildet“, sagt sie, „unabhängig davon, wie religiös sie sind.“ Zuweilen habe sie den Eindruck, dass Kopftuch tragende Frauen besonders selbstbewusst auftreten. „Das sehe ich mit durchaus gemischten Gefühlen, vielleicht gibt es da eine Über-Identifikation mit dem Glauben – die Mehrheitsgesellschaft macht es ja auch nicht leicht, Deutscher zu werden.“ Kaddor hat den Liberal-Islamischen Bund mit gegründet, eine Alternative zu den bestehenden Islamverbänden, die sich unter anderem für mehr Geschlechtergerechtigkeit einsetzt. „Es gibt nun überall mehr Patriarchatskritik“, sagt sie. „Aber wer das tut, muss zeitgleich klarstellen, dass man weder rechts steht noch vom Glauben abgefallen ist.“ Denn oft würden Frauenrechte von deutschen Rechtspopulisten gekapert, um den „Islam“ kritisieren zu können – und radikale Islamisten würden jede Kritik als unislamisch brandmarken. „Wir kommen uns vor wie zwischen Baum und Borke, obwohl die sich gegenseitig bestärkenden Phänomene der Islamfeindschaft und des Islamismus längst nicht eine Mehrheit in der Gesellschaft ausmachen.“

Zum Stehtisch kommt eine Jugendliche. „Darf ich ein Selfie mit Ihnen machen? Ich bin ein Fan von Ihnen!“ Kaddor lächelt leise. Sie „empowert“ junge Musliminnen, wirbt bei islamischen Eheschließungen für das Festlegen des Rechts auf einseitige Scheidung auch für Frauen. Vom klassischen deutschen Feminismus zeigt sich Kaddor zuweilen genervt. „Ich respektiere Alice Schwarzer, die viel für Frauenrechte erstritten hat. Es gibt bei ihr aber einen Denkfehler: Feminismus fordert freie Selbstbestimmung der Frau, während Schwarzer für Frauen Bedingungen formuliert: zum Beispiel auf das Kopftuch zu verzichten.“

Ob zwischen Baum und Borke oder nicht: Islamische Patriarchatskritik bohrt tiefe Löcher. „Das traditionelle Islamverständnis von Muslimen ist nicht immer islamkonform“, fasst Kaddor zusammen. Der Koran oder die Prophetenüberlieferungen ließen sich nicht als vermeintlich neutrale Rechtfertigung dafür heranziehen, dass Frauen weniger wert seien, weniger Freunde haben oder abends zu einer bestimmten Uhrzeit daheim sein sollten. Es klingelt, die nächsten Workshops rufen, und die 100 Teilnehmer der JIK verteilen sich auf die verschiedenen Räume des fünften Stocks.

Theologische Quellen hat der islamische Feminismus also auch anzugehen. Daran arbeiten Frauen wie Dina El Omari. Die Westfälin forscht an der Uni Münster zu einer Kommentierung des Korans, und zwar aus feministischer und zeitgenössischer Sicht, „an einer geschlechtergerechten Lesart“, wie sie am Telefon sagt. „In der koranischen Schöpfungsordnung sind Mann und Frau gleich, und dennoch schimmern im Koran hierarchische Strukturen durch, etwa im Vers, dass Männer den Frauen in der Verantwortung vorstehen.“ Die islamische Theologin durchleuchtet den historischen Kontext – und deutet diesen Vers zum Beispiel als eine Ermahnung zur finanziellen Absicherung der Frau zur damaligen Zeit. „Wir können bereits in den frühen Quellen eine ganze Reihe an emanzipatorischen Bemühungen sehen, auch von bekannten muslimischen Gelehrten und Exegeten - diese werden aber totgeschwiegen.“

El Omari, 35, hat die patriarchalischen Strukturen in muslimischen Milieus im Blick. „Mein Anteil daran, dies zu ändern, ist die wissenschaftliche Arbeit. Deren Erkenntnisse können Diskussionen anstoßen, in Familien und Moscheen.“ Eine dieser Debatten ist für El Omari jene übers Kopftuch. „Das Thema ist innerislamisch stark umstritten. Für die einen ist es eine religiöse Pflicht und für die anderen nicht, da der Koran das Thema ‚Bekleidung‘ nur in drei Versen anspricht, die zudem sehr offen formuliert sind.“ Problematisch werde es dann, wenn Mädchen innerhalb der muslimischen Communities unterstützt würden, das Kopftuch aufzusetzen, aber Druck erführen, wenn sie es wieder absetzen. „Hier wünschen sich viele muslimischen Mädchen und Frauen, die sich gegen ein Kopftuch entscheiden, deutlich mehr Rückhalt in der Community, so dass es wirklich eine selbstbestimmte und freie Entscheidung sein kann.“

El Omaris Entscheidung für das Kopftuch war eine spirituelle. „Für mich ist das Kopftuch eine Form der Erinnerung an eine Demutshaltung gegenüber Gott. Durch das Tuch fühle ich mich stets daran erinnert, diese Demutshaltung in den Alltag einfließen zu lassen, was mich wiederum in meiner Bindung zu Gott stärkt.“

Einfach ist die Lage also nicht. Frauensolidarität endet zuweilen, wo sie beginnen sollte: von den Feministinnen à la Schwarzer und von Frauen in Islamverbänden. Dazwischen kämpfen Frauen für die Freiheit, sagen zu können, was sie denken und ohne vereinnahmt zu werden. Wie geht das?

Eine Antwortmail von Reyhan ?ahin, der Aktivistin des „progessive Bitch-Rap“. „Patriarchat kennt keine Farben und Konfessionen. Ich bin jeden verfickten Tag davon betroffen“, schreibt sie. „Musliminnen sollten mehr auf ihren eigenen Menschenverstand vertrauen und ein eigenes Wissen zum Islam erarbeiten. Selbst ist die Frau! Wir können alle in unserem eigenen kleinen Rahmen feministisch agieren und damit etwas bewirken. Go for it, Muslimgirls!!“