Zeitenspiegel Reportagen

Goldrausch in Kalifornien!

Erschienen in "Geo", Juni 2010

Von Autor Bernd Hauser

Gier ist gut! Wer hätte gedacht, dass diese unchristliche Idee ausgerechnet in den puritanischen USA zum Ideal werden könnte? Dass ausgerechnet ein Mormone zum ersten Dollar-Millionär und Prediger des Reichtums aufsteigt? 1848 nimmt die Geschichte des Landes eine neue Richtung – nur weil Arbeiter einer Sägemühle glänzende Flocken im Fluss entdecken.

Gier ist gut! Wer hätte gedacht, dass diese unchristliche Idee ausgerechnet in den puritanischen USA zum Ideal werden könnte? Dass ausgerechnet ein Mormone zum ersten Dollar-Millionär und Prediger des Reichtums aufsteigt? 1848 nimmt die Geschichte des Landes eine neue Richtung – nur weil Arbeiter einer Sägemühle glänzende Flocken im Fluss entdecken.

Ein kleiner Krämer geht über eine schmutzige Straße in einem Dorf am Ende der Welt. Er ruft einen einzigen Satz – und ein ganzer Kontinent spielt verrückt: Hunderttausende Menschen lassen Frau und Kinder im Stich, riskieren ihr Leben, nur um rasch in dieses Dorf zu gelangen. Einige werden reich. Andere verlieren alles. In kürzester Zeit wird diese Völkerwanderung Zehntausenden Ureinwohnern den Tod bringen. Aber sie wird auch dazu beitragen, das Übel der Sklaverei zu beenden. Das Dorf wird für ein paar Jahre zum buntesten, wildesten, verruchtesten Ort der Erde. Und zum Sinnbild eines neuen Lebensgefühls. Der kleine Krämer wird dabei zum ersten Millionär seines Landes. Sein Name ist Sam Brannan; er ist 29 Jahre alt, trägt einen Gehrock und einen Backenbart. Das Dorf heißt San Francisco. Und der verhängnisvolle Satz, den Sam Brannan am 12. Mai 1848 ruft, während er seinen Hut schwenkt und ein Fläschchen mit gelb-glänzendem Pulver in die Höhe hält, lautet schlicht: „Gold! Gold! Gold vom American River!“

Nichts davon kann Sam Brannan ahnen, als er zwei Jahre zuvor, am 31. Juli 1846, mit einem Segelschiff das Golden Gate passiert. Noch heißt das Dorf in der Bucht „Yerba Buena“, nach dem spanischen Namen für das Pfefferminzkraut, das die Sanddünen überwuchert. Brannan kommt aus New York. Er bringt 230 mormonische Glaubensbrüder mit. Durch ihre Ankunft verdoppelt sich die Einwohnerzahl der Barackensiedlung. Eigentlich hatte Mormonenführer Brannan in dem Dorf am Ende der Welt ein neues, gelobtes Land gründen wollen, weit weg von aller weltlichen Macht. Doch er kommt zu spät. Wenige Wochen zuvor haben die Vereinigten Staaten das Gebiet den Mexikanern entrissen. Zwar ist Kalifornien noch nicht Teil der USA, sondern ein rechtloses Territorium. Trotzdem weht das Sternenbanner über dem Dorf. „Da ist diese verdammte Flagge schon wieder“, knurrt der Mormonenführer. Brannan hat eine Druckerpresse mitgebracht und gibt den „California Star“ heraus, die erste Zeitung in dem Dorf, das bald darauf in „San Francisco“ umbenannt wird. Die meisten Mormonen betreiben Landwirtschaft. Einige arbeiten in „New Helvetia“, einer Ranch des Schweizers Johann Sutter, 120 Kilometer entfernt im Sacramento-Tal. In Sutter‘s Fort, seinem Herrenhof, eröffnet Sam Brannan einen Krämerladen. Im Januar 1848 lässt Sutter an einem Seitenarm des Sacramento River eine Sägemühle bauen. Eines Tages sprengt der Zimmermann durchs Tor von Sutters Fort: Beim Graben des Mühlkanals sind den Arbeitern gelb schimmernde Flocken aufgefallen. Der Zimmermann schüttet den Fund auf den Tisch. Sutter bemüht sein Lexikon, träufelt Salpetersäure aus der Hausapotheke darüber – die Säure perlt ab. Mit Hammerschlägen lassen sich die Flocken plätten, bis sie dünn sind wie Papier: tatsächlich, Gold! Sutter nimmt dem Zimmermann das Versprechen ab, zu schweigen. Doch dafür ist die Sache zu groß. Als einer der Farmarbeiter in Sam Brannans Krämerladen eine Flasche Schnaps mit Goldstaub bezahlt, ist die Nachricht in der Welt. Der Krämer eilt mit der Sensation nach San Francisco, ruft dort seinen folgenreichen Satz. Er veröffentlicht die Geschichte in einer Sonderausgabe des „California Star“, von der er 2000 Kopien auf Maultieren in Richtung Ostküste und auf Schiffen in alle Welt schickt. Kurz darauf schreibt die Zeitung: „Fast jede Stadt und jede Ranch ist plötzlich verlassen von Männern, Frauen und Kindern. Über 1000 Seelen waschen bereits jetzt Gold. In einem Monat haben sie schätzungsweise 100?000 Dollar aus dem Boden geholt.“ Dann erscheint die Zeitung nicht mehr: Brannans Drucker sind ebenfalls zur Goldsuche aufgebrochen. Im August 1848 gibt es die ersten Meldungen in der New Yorker Presse: „Männer öffnen dort eine Goldader so abgeklärt wie andernorts ein Kartoffelbeet.“ Sechs Unzen wiegen angeblich die größten Klumpen, die die Goldsucher an Bachläufen ergraben: 187 Gramm. In San Francisco wird diese Menge für 100 Dollar gehandelt. Für Handwerker an der Ostküste ist das der Lohn eines halben Jahres. Zu Tausenden brechen sie nach Kalifornien auf, auch wenn die Reise beschwerlich ist. Von New York aus dauert die Schiffspassage um Kap Hoorn nach San Francisco mindestens vier Monate. Kürzer ist die Fahrt über Panama: 15 Tage per Dampfschiff, zwei Tage mit Maultieren über den Isthmus, dann erneut 20 Tage per Schiff – zumindest in der Theorie. Tatsächlich warten Goldsucher oft wochenlang an der Westküste Panamas auf Schiffe, die sie nach San Francisco mitnehmen. Viele sterben an Malaria und Cholera. Noch strapaziöser: Die Landroute quer durch den nord¬amerikanischen Kontinent. Wagenzüge verirren sich, Reisende verhungern, nachdem die Zugochsen verendet sind. Als letzte Hürde steht die Sierra Nevada den ausgelaugten Trecks im Weg. Die schneebedeckten Bergkämme erscheinen den Einwanderern so feindlich, dass ein Tagebuchschreiber sie als „des Teufels Rückgrat“ bezeichnet. Anders als auf den Heldengemälden, die später vom großen Zug nach Westen gemalt werden, bieten die Reisenden ein erbärmliches Bild: Von Skorbut erschöpfte Kranke liegen auf den Wagen. Frauen mit dick eingepackten Säuglingen wanken durch den Schnee. Bis sie endlich am Ziel sind: am Sacramento River, am American River, an irgendeinem Fluss in den westlichen Ausläufern der Sierra Nevada. Im Goldland, wo die Nuggets seit Urzeiten bereitliegen, aus dem Flussbett geklaubt zu werden.

Vor 200 Millionen Jahren drückte dort, wo später die Sierra Nevada entstand, Magma in Richtung Erdoberfläche. Aus der Magma stieg Wasserdampf auf, der sich seinen Weg durch Klüfte nach oben suchte. Wo der Dampf erkaltete, lagerte sich Quarz ab, aber auch Gold. Später legten Regen, Wind und Gletscher die Quarzadern mit ihren Goldspuren frei; in Bächen und Flüssen wurden sie talwärts gespült. An Stellen mit geringer Strömung sanken die Goldpartikel auf den Grund – wo es die Goldsucher nun leicht mit Schaufel und Pfanne aus dem Sand waschen können. Doch die Männer merken schnell, dass ihr Geschäft viel schwieriger ist als eine Kartoffelernte. Ihr Profit bleibt meist gering, weil sie allein zu wenig Flusssand waschen können. Deshalb schließen sich die Digger bald zu kleinen Gruppen zusammen und waschen Gold mithilfe von long toms – Holzkästen mit einem groben Sieb über einer geriffelten Rinne: Das Sieb fängt Steine ab, die feineren Sedimente fließen mit viel Wasser das leichte Gefälle der zwei Meter langen Rinne hinab. Der Sand wird über die Riffel gespült, wobei sich die schwereren Goldpartikel in den Vertiefungen sammeln. Bald stauen Arbeitergruppen ganze Flüsse mit Dämmen auf, lenken sie in Kanäle, um im trockenen Flussbett suchen zu können. Dieses river mining macht die Goldsuche zu einem Glücksspiel mit hohem Einsatz: Ob man eine Niete gezogen hat, erfährt man erst nach Monaten, wenn der Damm fertig ist. In der Zwischenzeit müssen sich die Goldgräber von überteuerten Lebensmitteln ernähren. Und leben erbärmlich. Tagelang stehen die Männer in nassen Stiefeln im eiskalten Wasser. Abends essen sie hastig und schlecht; nachts schlafen sie, die klammen Kleider auf dem Leib, in Zelten und zugigen Hütten. Jeder fünfte stirbt schon im ersten halben Jahr seiner Goldsuche. Versicherungen in den Oststaaten stellen bald für Reisende nach Kalifornien keine Lebensversicherungen mehr aus. Die Siedlungen sind provisorisch, sie heißen Hangtown, Angel‘s Camp, Murderers Bar oder Deer Creek Dry Diggings. In Stoutenburgh haben sich deutsche Goldsucher versammelt. Sie wollen die Claims schon wieder verlassen, als ein Mann auftaucht, der behauptet, er könne das Metall mit einem „Goldometer“ orten. Das Gerät zeige an, dass unter einem Gemüsegarten 25 Pfund Gold lägen. Die Männer beginnen zu graben. Als sie Wochen später auf Grundwasser stoßen, ist der Betrüger längst geflohen – wahrscheinlich wurde er von einem Händler bezahlt, der fürchtete, auf seinen Lebensmitteln sitzenzubleiben. Kurz darauf ist Stoutenburgh eine Geisterstadt. Die Goldsucher fordern das Glück nun anderswo heraus.

Sam Brannan bleibt einer der wenigen, die keine Schaufel in die Hand nehmen. Er erkennt, dass es ein viel profitableres Geschäft gibt: to mine the miners – die Goldgräber auszubeuten. Die Eigentumsverhältnisse sind unsicher, Gerichte und Verwaltung nicht eingespielt – bei seinen kriminellen Winkelzügen hat Brannan nichts zu befürchten. Zu Beginn des Goldrausches verlangt er als Kirchenältester zehn Prozent aller Funde der Mormonen. Manche der Glaubensbrüder meinen, es handele sich um den Zehnten für die Kirche. Andere geben das Geld, weil Brannan ihnen sagt, er wolle unanfechtbare Landrechte auf die Claims erwerben – ein Versprechen, das er nie einlöst. Die Mormonen sehen ihr Geld, das Brannans Reichtum begründet, nie wieder. Schließlich legt er sein Amt als Kirchenführer ab wie eine schäbige Jacke. Allein mit seinen Läden in den Goldfeldern verdient Sam Brannan jeden Tag 5000 Dollar. In Sacramento und San Francisco investiert er in Hotels und Warenhäuser; und er betreibt das Konsortium, das die erste Kaianlage baut – ein 200?000-Dollar-Projekt. Er organisiert den ersten Überland-Postdienst in die Oststaaten, ist dabei, wenn Versicherungen und Banken gegründet werden. Am 10. Juni 1851 ruft er eine Bürgerwehr ins Leben, die noch in der Nacht ihrer Gründung das Gesetz in die Hand nimmt. Ein Australier hat einen Tresor gestohlen und wurde von den Vigilanten gefasst. Nur zwei Stunden dauert die Verhandlung; gegen ein Uhr früh tritt Brannan hinaus auf die mondbeschienene Straße und verkündet sein Urteil: Der Angeklagte soll hängen. Zwei Polizisten versuchen, den Dieb zu befreien. Doch als sie einschreiten, fühlt einer der beiden einen Pistolenlauf in den Rippen und hört ein Knurren: „Lassen Sie ab, oder ich blase Ihnen das Herz raus.“ Nichts kann die Männer aufhalten: Sie werfen ein Seil über einen Querbalken unter einem auskragenden Dach. Mit der Schlinge um den Hals raucht der Angeklagte seine letzte Zigarre. Er wirkt ruhig. Die Vigilanten zögern. Bis Sam Brannan ruft: „Packt an, wenn ihr Freiheit und Ordnung liebt!“ Nun zerren zwei Dutzend Männer am Seil. Die Leiche des Australiers baumelt bis zum Morgengrauen in der Höhe. Der Polizeichef ist außer sich vor Wut. Doch Sam Brannan lässt sich, nur ein paar Schritte vom Tatort entfernt, in der Bar des „Union Hotels“ feiern. Aus dem kleinen Krämer ist ein Tycoon geworden; sein Kragen ist blütenweiß, die schachbrettgemusterte Weste makellos, der dunkle Frack gebürstet. Er ist erst 31 Jahre alt, nur mittelgroß, aber durch den mächtigen Backenbart wirkt er älter und stattlicher. Die schwarzen Augen unter schweren Lidern verleihen seinem Gesicht einen blasierten Ausdruck. Lächelnd, das Whisky-Glas in der Linken, empfängt er Glückwünsche für sein Urteil als Richter der Bürgerwehr. Spottet über die hilflose Polizei. Sam Brannan weiß: Hier ist er unangreifbar. Er beherrscht die chaotischste, aufregendste Stadt auf dem Kontinent.

San Francisco ist frontier town, liegt direkt an der Grenze zu Wildnis und Indianerland, doch gleichzeitig auch Metropole, bereits 1851 viertgrößter Hafen der USA hinter New York, Boston und New Orleans. In der Bucht schießen Möwen durch einen Wald aus Masten und Rahen. Zeitweise liegen 450 Schiffe verlassen vor Anker. Ihre Heimathäfen sind New York, Valparaíso, Sydney und Bremen. Oft waren sie ein halbes Jahr auf See, aber jetzt verrotten sie vor San Francisco. Die Matrosen sind desertiert, die Schiffe schlagen leck und sinken zum Grund. So viele, dass Arbeiter bald die Zwischenräume zwischen den Wracks mit Sand verfüllen und San Francisco über dem verlandenden Schiffsfriedhof in die Bucht hinein wächst. Als Sam Brannan 1848 den Goldfund verkündete, hatte San Francisco 820 Einwohner, 1849 5000, ein Jahr später 30?000. „Die Luxuswaren und Annehmlichkeiten aller Herren Länder und die Reichtümer aus den Lagerstätten treffen sich hier“, schreibt ein zeitgenössischer Chronist. Noch nie konnte man das Gesetz von Angebot und Nachfrage so gut studieren. Die Händler verkaufen Zelte, Medizin, Whisky, Stiefel, Proviant und Werkzeug mit 400 Prozent Profit. Ein Ei kostet einen halben Dollar, ein Apfel anderthalb, eine Pfanne für die Goldwäsche 16 Dollar. Im Osten der USA verdient ein Arbeiter einen Dollar am Tag; in San Francisco lehnen Ungelernte bei einem Angebot von zehn Dollar ab. Ein Hotelzimmer kostet im Monat 2000 Dollar Miete – dafür kann man im Osten ein Haus mit zehn Zimmern bauen. Oft müssen sich ein Dutzend Einwanderer einen Raum teilen. In manchen Absteigen ist auf Schildern zu lesen, man möge die Decke über den Kopf ziehen, damit einem die Ratten nicht ins Gesicht beißen. Sie sind eine Plage in der Stadt, ruinieren große Mengen Lebensmittel. Als ein Schiff aus Mexiko mit Katzen im Frachtraum eintrifft, zahlen die Käufer zwölf Dollar pro Tier. Mit allem lässt sich Geld verdienen: Um die Wucherpreise der Wäschereien zu umgehen, schicken manche Bürger ihre Hemden per Schiff nach Hawaii und lassen sie dort waschen. Ein deutscher Textilhändler namens Levi Strauss beginnt, robuste Arbeitshosen an die Goldgräber zu verkaufen. Und um die Bewohner der Stadt zu unterhalten – die meisten sind Männer unter 40 – eröffnet das „American Theater“. Am ersten Abend stürmen 2000 Besucher den Saal. Fünf Zentimeter tief sinkt das Gebäude vom Gewicht der Menschenmasse in den Grund ein. Zu Beginn des Goldrausches kommt auf 30 Einwanderer nur eine Frau. Ein Goldsucher notiert in seinem Tagebuch: „Kam zum ersten Mal seit sechs Monaten einer Frau nahe. Bin fast ohnmächtig geworden.“ Ein Mädchen, das einem Goldsucher einen Abend am Spieltisch Gesellschaft leistet, verlangt dafür eine Unze Goldstaub im Wert von 16 Dollar. Eine Nacht im Hinterzimmer kann 200 bis 400 Dollar kosten. Im Jahr 1850 kommen 2000 Französinnen in San Francisco an, die meisten sind Prostituierte. Was für eine Versuchung für die Farmersöhne aus Maryland oder Massachusetts: Ob sie ins Fierce Grizzly gehen, eine Spelunke mit einem angeketteten Bären am Eingang, oder ins Boar‘s Head, wo die Stripperinnen zusammen mit einem lebendigen Eber auftreten – niemand zu Hause wird je davon erfahren. Nur der einsame Straßenprediger erinnert sie an die Sonntagsschule, wenn er vor dem Saloon aus den Sprüchen des Salomon zitiert: „Feine Klugheit schafft Gunst, aber der Verächter Weg bringt Mühe!“ Doch zu Hause fällt es leichter, klug zu bleiben. Dort gibt es keine Frauen, die rauchen, die schwere Parfüms tragen, die den Blick nicht niederschlagen, egal, wie lange man ihnen in die Augen schaut. Sam Brannan wird „wohlbekannt für seine zahlreichen und skandalösen Affären mit den berühmtesten der Mädchen“, so formuliert es ein Geschäftspartner, „deren moralische Standards nicht so erwähnenswert sind wie ihre Schönheit und Extravaganz“. Viele Prostituierte werden zu festen Geliebten und schließlich zu Ehefrauen. Doch für Paare ist diese Stadt zu schnell, zu wild: Die Zeitungen führen zwischen Todes- und Heiratsanzeigen eine eigene Rubrik für Ehescheidungen. Nichts scheint in San Francisco für die Ewigkeit gemacht. Zwischen Ende 1849 und Mai 1850 gibt es fünf verheerende Feuer. Die Flammen rasen durch die Bretterbuden und Segeltuch-Behausungen „wie durch ein Feld mit ausgetrocknetem Getreide“, schreibt ein Augenzeuge. In Minuten brennen ganze Viertel nieder. Nur die Bewohner der neuen Häuser mit Fassaden aus Blech fühlen sich sicher und bleiben. Als die Wände rot glühen, und die Menschen endlich auf die Straße springen wollen, sind die Schlösser der Türen geschmolzen und lassen sich nicht mehr öffnen. Schließlich glühen die Fassaden weiß und fallen zusammen. Die Überlebenden halten sich nicht lange mit den Toten auf. Lumpensammler suchen die Asche nach Goldstaub ab. In manchen Ruinen züngeln noch Flammen, während die Besitzer schon die bereits ausgebrannten Ecken aufräumen, um sofort Fundamente für neue Gebäude und Geschäfte setzen zu können. Manche verlieren dreimal ihre Häuser – und bauen sie mit geliehenem Geld wieder auf, zu horrenden Zinsen, zehnfach höher als in den Oststaaten. Auch Sam Brannan verdient an den Wucherraten. Er hat sich in New York Kredit besorgt und verleiht das Geld in Kalifornien teuer weiter. Die Schuldner zahlen gut: Aus der Sierra Nevada kommt immer neues Gold.

50?000 Menschen leben 1853, fünf Jahre nach dem ersten Goldfund, in der Stadt: Chinesen mit langen Zöpfen, schwarze Dandys, Russen in Pelzen und mit Säbeln, Seeleute von den Fidschi-Inseln, Türken mit Turbanen, Malaien, Hawaiianer, Abessinier, Peruaner mit farbigen Ponchos, Juden und Hindus, 5000 Deutsche und ebenso viele Franzosen, die von Amerikanern abschätzig „Keskydees“ genannt werden, weil sie immer fragen: „Qu‘est-qu‘il dit?“ – „was sagt er?“ Man könne in dieser Stadt die Nationen aufgrund ihrer Trinkgewohnheiten charakterisieren, notiert ein Chronist der „Annals of San Francisco“. Die Deutschen tränken am liebsten Bier und seien eine „schwere, phlegmatische, unehrgeizige Rasse“. Die Franzosen, die leichten Wein bevorzugten, hätten „keine Stärke und keinen Charakter“. Der echte Yankee jedoch bevorzuge hochgeistige Drinks, und er sei „ein Gigant, wenn es darum geht, die anderen Rassen an seinen bedingungslosen, anmaßenden Willen zu binden“. Was diese Sätze bedeuten, erfahren die Lateinamerikaner zuerst. Mexikanische Goldsucher werden mit einer „Ausländersteuer“ belegt. Wenn das nicht reicht, um sie von ihren Claims zu vertreiben, werden sie von US-Amerikanern mit Bowie-Messern und Revolvern fortgejagt. Noch schlimmer trifft es die Chinesen. 1854 hebt der Supreme Court ein Urteil gegen drei weiße Männer auf, die einen Chinesen ermordet hatten. Künftig dürfen Chinesen nicht mehr vor Gericht aussagen – für Indianer und Schwarze gilt dies schon längst. Bereits ab 1850 erlaubt ein „Gesetz zum Schutz der Indianer“, umherziehende Ureinwohner in Kalifornien als Vagabunden festzunehmen und als Leibeigene zu verkaufen. Nachdem Indianer kleinere Überfälle begangen haben, löschen paramilitärische Expeditionen der weißen Einwanderer ganze Indianerdörfer aus. Gemeinden setzen auf Köpfe, Skalps oder abgeschnittene Ohren von Indianern Prämien aus. Körperteile von Männern bringen 25 Dollar, solche von Frauen und Kindern fünf Dollar. Der Leitartikler einer Zeitung schreibt: „Es gibt nur einen Vertrag mit den Indianern, der effektiv ist – aus kaltem Blei.“ Ein Reporter des „San Francisco Bulletin“ ist Augenzeuge eines Massakers, das fünf Weiße mit Schusswaffen, Äxten und Messern in einer Indianersiedlung an 60 Ureinwohnern verüben. Der Reporter schreibt voll Horror: „Hier sitzt eine Frau mit einer tödlichen Verletzung, den verstümmelten und ebenfalls sterbenden Körper ihres Kindes umarmend, dort liegt ein zweijähriges Kind, sein Ohr und der Skalp von seinem kleinen Kopf gerissen. Ein Vater ist von Sinnen vor Trauer neben den Leichen seiner vier Kinder und seiner Frau.“ Vor dem Goldrausch gibt es 300?000 Indianer in Kalifornien. Am Ende bleiben 30?000 übrig. Alle anderen werden erschlagen und erschossen, erfrieren und verhungern, sterben an Krankheiten und den Strapazen der Flucht vor den Weißen. Doch so brutal die Kalifornier mit den Ureinwohnern umgehen, so kategorisch lehnen sie die Sklaverei in den Südstaaten ab. Wenn auch nicht aus humanitären Gründen: Ein Südstaatler könnte mithilfe seiner Sklaven viel mehr Gold finden als seine Konkurrenten. Ein scheinbar banaler Interessenkonflikt, der aber die Geschichte der USA prägen wird. 1850 wird Kalifornien als 31. Staat in die USA aufgenommen; selbstbewusst unter dem Motto „Eureka!“ – „Ich hab‘s gefunden!“ Mit jedem Gramm Gold aus der Sierra Nevada wächst das Gewicht des Neulings in der Union. Die Machtbalance zwischen Sklavenstaaten und freien Staaten im amerikanischen Parlament verschiebt sich. Als 1861 der Bürgerkrieg ausbricht, sorgt das kalifornische Gold dafür, dass die Währung in den Nordstaaten stabil bleibt; so trägt das Gold zum Sieg über den Süden und zur Abschaffung der Sklaverei bei.

1869 ist die Eisenbahnlinie fertig, die den Boomstaat Kalifornien mit der Ostküste verbindet – der größte Binnenmarkt der Welt entsteht. Weitere Linien werden angebunden. Texas liefert Vieh, der mittlere Westen Mais, der Süden Baumwolle und Tabak. Kalifornien verkauft Obst und Gemüse in die industriellen Zentren im Osten, die Millionen Einwanderer aufnehmen: Zwischen 1870 und 1900 verdoppelt sich die Einwohnerzahl der USA, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts produzieren die Vereinigten Staaten mehr Industriegüter als Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen. Der Goldsucher, der mit Maultier und Waschpfanne durch die Berge zieht, ist zu dieser Zeit schon längst romantisch verklärte Vergangenheit. Bereits 1853, fünf Jahre nach den ersten Funden, verschwindet er fast völlig, als der Abbau mit dem hydraulic mining eine bis dahin unvorstellbare industrielle Dimension erreicht. Wasser von hochgelegenen Seen wird über kirchturmhohe und filigrane Aquädukte aus Kiefernstämmen auf Wasserkanonen geleitet. Diese können einen Strahl von 20 Zentimeter Durchmesser bis zu 150 Meter weit schießen. Der Wasserstrahl ist so mächtig, dass er einen Mann in 60 Meter Entfernung töten kann. Er wird auf den Fuß von Hängen gerichtet, um Erdrutsche auszulösen und das erodierte Material in Dutzende Meter lange, mit Bohlen ausgelegte Rinnen zu schwemmen. In den Ritzen zwischen den Bohlen lagern sich die Goldflocken ab. 35 Kubikmeter Wasser müssen verschossen werden, um einen Kubikmeter Boden abzuschwemmen. 5726 Kilometer Aquädukte verlaufen 1859 durch die Berge, insgesamt wird durch die Abbaumethode achtmal so viel Erde bewegt wie später beim Bau des Panamakanals. Ein Zeitzeuge schreibt zornig: „Die Natur erinnert an eine Prinzessin, der Räuber die Finger abschneiden, um an ihre Juwelen zu kommen.“ Und die Prinzessin rächt sich. Tausende erfolgloser Goldsucher sind Farmer, Milch- und Obstbauern geworden. Wenige Jahre nach den ersten Goldfunden ist Kalifornien ein bedeutender Weizenlieferant für Asien, die US-Ostküste und England. Die Kalifornier pflanzen Äpfel und Orangen, Pflaumen und Feigen, Kirschen und Gemüse. Doch sobald es in den Bergen stark regnet, schwemmt der Schlick, der Abraum der Goldminen zu Tal, deckt die Plantagen oft meterhoch zu und wird betonhart. Quecksilber, das in den Schwemmrinnen die Goldplättchen binden soll, vergiftet die Böden. Etliche Farmen müssen aufgegeben werden. Die Farmer haben in den Streitigkeiten so lange keine Chance, wie Gold das Fundament der kalifornischen Wirtschaft bildet. Erst 1884, vier Jahre nachdem der Wert der Agrarprodukte den des abgebauten Goldes erstmals übersteigt, wird das hydraulic mining verboten. Die Landwirtschaft wird zur neuen, beständigen Goldgrube Kaliforniens.

Der Goldrausch ist zu Ende, doch er lebt in den Köpfen der Menschen fort: als Idee, als Lebensgefühl. Er hat den Amerikanischen Traum neu definiert. Bis dato war dieser Traum puritanisch gewesen: Sei fleißig und gottgefällig, dann wird der Wohlstand deiner Familie über Generationen langsam wachsen. Wer versagte, hatte selbst Schuld, war offenbar untüchtig, faul und wenig gottgefällig. Im Goldrausch aber gelten völlig andere Gesetze: Wer Glück hat, kann an einem einzigen Tag vom Bettler zum reichen Mann werden, vom Tellerwäscher zum Millionär. Nur wenigen gelingt dieses Wunder - doch wo viele versagen, verliert der Misserfolg sein Stigma. Gehe ein Risiko ein! Bleib nie stehen! Erfinde dich neu! Der Glaube an die zweite und dritte Chance im Leben, die Überzeugung, dass das Geschäftsleben auch ein Glücksspiel ist, Optimismus, Flexibilität – all die Eigenschaften, die für Amerikas Wirtschaft als charakteristisch gelten, werden im Goldrausch geboren. „Mechaniker, Anwälte und Buchhalter machen Pensionen auf und Trinkhallen. Ärzte werden Bierkutscher, Makler zu Metzgern, Händler versuchten sich als Tagelöhner und Tagelöhner als Händler“, schreibt ein zeitgenössischer Chronist in San Francisco. „Jeder Ankömmling wird ein neuer Mensch und ist bereit zu jeder Art von Business.“ Auch Sam Brannan glaubt bis zuletzt an das kalifornische „Alles ist möglich!“ – und erlebt dessen Kehrseite. Wie ein Fürst sein Lustschloss, so beginnt er 1859 an einer Thermalquelle im Napa Valley ein riesiges Resort zu bauen, das er „Calistoga“ nennt. Die Kalifornier sollen staunen! Es gibt einen Swimmingpool, Weingärten mit Reben aus Europa, die größte Branntweindestillerie Kaliforniens, einen Stall für 700 Pferde. Er lässt sogar eine Eisenbahn bauen, sodass die Gäste aus San Francisco sein Resort bequem erreichen können. Doch Brannan verfällt immer mehr den „harten Drinks der Yankees“. Die Lokalpresse schreibt über Tritte und Faustschläge gegen Geschäftsleute und Polizisten. Als sich 1868 Banditen auf seiner Sägemühle in Calistoga verschanzen, marschiert er besoffen mit einer Gruppe Bewaffneter auf die Mühle zu. Von innen erschallen Warnrufe, die Begleiter suchen Deckung. Brannan aber geht unbeirrt weiter und wird von acht Kugeln schwer verletzt. Die Ehefrau, mit der er vier Kinder hat, lässt sich 1870 scheiden, wohl weil sie seine Trunksucht und seine Affären nicht mehr ertragen will. Sie besteht darauf, die Hälfte des Vermögens bar ausbezahlt zu bekommen. Eine Katastrophe für Brannan, der sein Resort und die Anteile an seinen weit verzweigten Investitionen in einem schwachen Jahr weit unter Wert verkaufen muss. Nur eine Million Dollar bekommt er zusammen. Seine Frau investiert ihren Anteil in einer Silbermine in Nevada – und verliert alles. Brannan geht nach Mexiko, wo er hofft, für seine Unterstützung im Krieg gegen die Franzosen belohnt zu werden: Mitte der 1860er Jahre hatte er der mexikansichen Regierung 45?000 Dollar geliehen, um eine Kompanie Soldaten auszurüsten. Doch statt Geld bekommt er Land, das sich als wertlos erweist. Er heiratet eine junge Mexikanerin und trinkt Agavenschnaps. Sein Vermögen verflüchtigt sich. Da erinnert er sich an seine alten Glaubensbrüder und bietet den Mormonen in Salt Lake City die Hälfte seines Landes für 1000 Dollar an. Um das Geld für eine Reise nach San Francisco zusammenzubringen, wandert er mit 68 Jahren von Haustür zu Haustür, um Bleistifte feilzubieten. Er geht am Stock, leidet an epileptischen Anfällen. In San Francisco schläft er in den Hinterzimmern der Saloons und spricht von neuen, großartigen Geschäften, die er plane. Als er 1889 mit 70 Jahren in San Diego stirbt, liegt seine Leiche 16 Monate lang in einer Gruft. Brannan hat kein Geld für eine Bestattung hinterlassen. Schließlich bezahlt ein Neffe die Gebühren. Die Beerdigung kostet 31 Dollar. Für einen Grabstein reicht das nicht. Ein kleiner Holzpflock markiert das Grab des ersten Millionärs von Kalifornien.