Zeitenspiegel Reportagen

Große Politik im Kleinen

Erschienen in "MUT - Magazin für Lösungen", Oktober 2020

Von Fotograf Uli Reinhardt und Autor Jan Rübel

Von Fridays for Future in den Gemeinderat: Thomas Gönner will das Klima retten. Protokoll eines politischen Einstiegs.

Leichtsinn ist ein Vorrecht der Jugend, heißt es, aber in diesem Moment ist er ein Privileg der Alten. Ein 70-jähriger Lokalpolitiker meldet sich zu Wort – hier im Gemeinderat Baden-Badens, es geht um die Frage, ob Sitzungen auch live übers Internet übertragen werden sollen. Mehr Transparenz soll das bringen, hatte ein Antragsteller aus der letzten Reihe begründet, das Interesse an Politik speziell bei jungen Menschen erhöhen. Doch dann der Auftritt eines SPD-Seniors weiter vorn: „Livestreaming verursacht Klima-Probleme.“

Thomas Gönner, 20, schüttelt über dieses Gegenargument den Kopf. Der Antrag, den er gestellt hat, soll nicht klimafreundlich sein? Der Erwerb einer Kamera und das bisschen Strom für mehr Transparenz und Bürgernähe? Seit knapp einem Jahr sitzt er für die Grünen im Gemeinderat. 160 Termine hat er seitdem absolviert, zehn Anträge und drei Anfragen gestellt, 1500 Mails geschrieben. „Das wird von Fachleuten sehr kritisch gesehen“, raunt der SPD-Senior über Livestreams weiter und setzt sich. Peng. „Unnötig viel Geld“, heißt es vom CDU-Rat Ansgar Gernsbeck, 57. Zack. Und Kurt Hermann von der AfD, 57, fragt: „Wer schaut sich denn unsere langweiligen Sitzungen an?“ Wumm. Antrag abgelehnt. Gönner fühlt sich für einen Moment steinalt.

Gerade die Angst vor dem ökologischen Kollaps hat ihn in die Politik getrieben, war in ihm gewachsen, seit er mit zehn Jahren täglich die „tagesschau“ schaute und sich irgendwann fragte, wo der Schnee im Winter blieb. 2018 zog er schließlich auf die Straße. Die ersten Demos von „Fridays for Future“ in Baden-Baden hatte er mitorganisiert, dann der Entschluss: Die Rettung der Welt beginnt im Kleinen, in der eigenen Kommune. Seinen Straßenwahlkampf bestritt er neben dem schriftlichen Abi, nun ist er jüngster Rat Baden-Badens; der zweitjüngste ist zwanzig Jahre älter. Von den 40 Räten sind derzeit drei unter 40 Jahren, nur 25 Prozent sind Frauen. Die Stadtstruktur spiegelt sich darin kaum.

Tagesordnungspunkt 5, Gönner eilt zum Mikro, setzt seine Maske ab. „Diese Resolution ist kein gigantischer Schritt, sondern ein symbolischer“, begründet er den nächsten Antrag, Baden-Baden zum sicheren Hafen für Geflüchtete zu erklären und sich dem Bündnis „Seebrücke“ anzuschließen, welches sich gegen die Kriminalisierung von Seenotrettung engagiert. Seine Stimme ist tief, knarzt und wirkt überlegt. Dennoch hagelt es wieder Widerspruch.

„Ein Signal an die Schlepperbanden“, sagt ein Mann von der CDU. „Nicht zuständig“, bescheidet ein Freidemokrat. Und von den Rechtspopulisten heißt es knapp: „Es ist aus Sicht der AfD alles gesagt worden.“ Ruhig hört sich Gönner diesmal alles an, den Rücken durchgestreckt, eine Regung verrät sein Gesicht nicht. Nur die ohnehin kleinen Augen verengen sich zu einem Schlitz.

Baden-Baden erscheint auf den ersten Blick wie ein sicherer Hafen, satt, sonnt sich mit Thermalbädern, Casino und Galopprennbahn unter Attributen wie „kleinste Weltstadt“ oder „Sommerhauptstadt Europas“ – was indes ein paar Adelsgenerationen her ist. Gemessen an der Millionärsdichte und dem Durchschnittsalter liegt die Kurstadt noch immer in Baden-Württemberg an erster Stelle. Andererseits spreizt sich die soziale Schere, gibt es sozialen Wohnungsbau am Rand, die Geringverdiener, welche die Hotels, Restaurants und Seniorenresidenzen am Laufen erhalten; und von den 53.000 Einwohnern sind 8000 Schüler. Die repräsentiert im Gemeinderat am ehesten: Thomas Gönner, jetzt im Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) in einer Kita und parallel Student der Politikwissenschaft an der Fernuni Hagen. Ein rascher Dreivierteltakt bestimmt seine Tage einer 60- bis 80-Stundenwoche.

Um sieben in der Früh verscheucht einsames Kirchturmläuten eine schwarze Katze in Varnhalt, dem südöstlichsten Zipfel Baden-Badens, als Gönner mit einem Becher der Grünen in der Hand aus einem weißen Wohnhaus tritt. Sein Dach reicht tief bis schier zum Boden, als wollte der graue Himmel einem auf den Kopf fallen. Gönner gähnt. Nimmt einen Schluck Kaffee. Setzt sich in seinen Golf Plus und hadert mit der normativen Kraft des Faktischen: „Im Auto unterwegs zu sein, das geht eigentlich gar nicht.“ Ein zentraleres Zimmer aber kann er sich im teuren Baden-Baden nicht leisten, die Kita liegt kaum um die Ecke, und weil er dem Kreisvorstand der Grünen nun beisitzt, sind etliche landläufige Termine zu absolvieren, „der letzte Bus nach Varnhalt startet in der Stadt um 19:15 Uhr“.

Das Gaspedal tritt er durch, Gönner fährt zügig, als gälte es Zeit einzuholen. Gegen halb acht in der Kita geht er seine tägliche Liste durch. „Uni-Vorlesung“, „Tel. Kreisvors.“ – Erledigtes streicht er durch, Wichtiges markiert er rot. „Meine Morgenroutine“, erklärt er, während die ersten Kinder eintrudeln. Rasch wandert das Papier in die Hosentasche. „Reiß bitte nicht gleich alles raus“, ermahnt er ein Mädchen, „Pass bitte auf“, geht an einen Jungen. Gönner sagt schon öfter Nein. Wirkt streng, und ist im nächsten Moment für Spontanlegohausbau zu haben. „Die Kita ist ein krasser Ausgleich zur Politarbeit“, sagt er zwischen zwei Steinen, „das hier gibt mir Kraft.“

Manche wissen früh, was sie wollen. Gönner war 15, als er entschied: Zuhause zieht er aus, raus aus der modernen Industriekleinstadt Sankt Georgen, „meine Heimat im Nirgendwo des Schwarzwalds“, und rein ins Baden-Badener Internat „Pädagogium“, in ein Wohnhaus aus dem 18. Jahrhundert, wo Weltläufigkeit und wertkonservative Bildung aufeinanderstoßen. Ein wenig elitär ist es auch. „Ich hatte in meiner Heimat einen Punkt erreicht, bei dem ich wusste: Weiter geht es nicht. Die Schule inspirierte nicht, alles war eng.“ In der Klasse habe es auch Mobbing gegeben, nicht gegen ihn, aber dennoch. Kurzentschlossen war er dann mal weg.

Es ist früher Nachmittag, der Kitadienst für heute beendet, und Gönner steuert sein Lieblingscafé an, unweit des „Pädagogium“. Der Schulbau thront über der Stadt, die engen Gassen und alten Häuser erinnern an Italien. Die Schönheit nehme er mit, sagt er nebenbei, „ich bin Pragmatiker“. Sein Internatszimmer, hatten Mitschüler geunkt, versprühe Krankenhauscharme. „Ich mag es eher leer.“ In Baden-Baden verspürte er die Chancen sich einzubringen, wurde zum Schülersprecher gewählt. Genoss die Weite. Die Gebühren fürs Internat zahlte er mit Rücklagen, die sein Opa geschaffen hatte – eigentlich fürs Studium gedacht, aber Gönner zog sie vor, wie einiges in seinem Leben. Überhaupt der Opa: Mit ihm hatte er in einem Haus gewohnt, mit ihm als Bub „tagesschau“ geguckt und diskutiert, über die nicht mehr geltenden Bauernregeln beim Wetter und warum er in hohem Alter mit Winfried Kretschmann erstmals einen Grünen wählte. „Meine Eltern sind eher unpolitisch, und sie waren viel weg zum Arbeiten“, erinnert er sich. Die dänische Mutter ist Steuerberaterin, der badische Vater Physiotherapeut. Gönner der erste in der Familie, der studiert. Gönners Opa aber hatte in einem Ortsrat Sankt-Georgens gesessen, und dessen Opa war Bürgermeister in Singen gewesen. „Opa wollte auch unbedingt, dass ich den Führerschein mache, und den Golf drängte er mir auf, es hatte wohl mit Freiheit und Unabhängigkeit zu tun“; jedenfalls ließ sich Gönner, als Großvater vor zwei Jahren starb, das Todesdatum auf die rechte Schulter tätowieren. Als er das erzählt, bei einer hastigen Tasse Kaffee, steht die Welt still. Ist an ihm gar nichts pragmatisch, leer oder streng.

Bis zum nächsten Telefontermin ist eine halbe Stunde Zeit, Gönner steigt den Hügel herab zum Zentrum Baden-Badens. Die Kurallee schlängelt sich durch die Altstadt, von weitläufigen Grünflächen umrahmt, deren Rasen niemand betritt. „Verboten“, zuckt Gönner mit den Achseln. Die Weite der Stadt fühlt sich für ihn in solchen Momenten heute eng an. „Das Ordnungsamt ist hier auf Zack, das kostet 20 Euro.“ Baden-Baden sei zum Anschauen, wie ein Museum, „und für die Jugend gibt es einen einzigen Treffpunkt draußen, wo man kein Geld ausgeben muss“. Initiativen, dies zu ändern, scheiterten bisher.

Das Handy vibriert. Am anderen Ende ist Jessica Stolzenberger, sie ist bei Fridays for Future auf Landesebene aktiv – die beiden sprechen sich ab zu den aktuellen Klimaschutzplänen der Stuttgarter Regierung. „Es fehlen Anreize für Unternehmen, bis 2025 auf eigene Photovoltaik umzusteigen“, sagt sie. „Wir brauchen schlicht eine Pflicht“, bilanziert er. Nötig sei mehr Druck auf den grünen Ministerpräsidenten, „dessen Klimaziele sind nicht ambitioniert genug“, sagt sie. Er: „Gehen wir an.“

Gönner ist einer, der den Mund aufmacht, den es aber nicht dazu drängt. Einige mahnen dennoch zu mehr Geduld. „Zuweilen bringt er unnötige Hektik in die Kommunalpolitik“, sagt Oberbürgermeisterin Margret Mergen (CDU) über ihn. Zum Beispiel seine Anträge zum Haushalt kurz vor Toresschluss, „sowas braucht mehr Vorbereitung im Ausschuss. Unmittelbar vor der Beratung im Gemeinderat ist eine Grundsatzdebatte kaum möglich.“ Er habe sich aber ansonsten schnell Respekt verdient. „Es gibt da eine frische und wohltuende Seriosität bei ihm.“ Und Roland Seiter, Pressesprecher der Stadt: „Wir hätten gern mehr junge Leute wie ihn.“

Die zweite Reihe liegt ihm. Das Organisieren und Koordinieren, der Glaube, das Leben der Menschen verbessern zu können. Sein nächstes Ziel: Wahlkreiskandidat für den Bundestag. Schon vor Monaten hatte er das bekannt gegeben. „Ich bin so jung, dass die Delegierten eine Chance kriegen sollten, mich gut kennenzulernen.“ Warum sollen die ihn wählen? „Ich würde eine neue und unterrepräsentierte Sichtweise ins Parlament bringen: jung und aus dem ländlichen Raum.“ Er meint es ernst. Fotos mit ihm und Alkohol sucht man im Internet vergebens. Nicht, dass er nicht mal feiern würde; wenn auch selten. „Könnte aus dem Kontext gerissen werden. Politik ist eben Öffentlichkeit. Ich bin nicht berechnend, es ist Zwang. Man muss vorleben, was man sagt.“ Er meint es tatsächlich ernst. Die hellgelbe Abendsonne plumpst wie erschrocken auf die Hotels und Seniorenresidenzen. Gönner strebt zum Wagen. Eine Reihe Anrufe wartet auf ihn zuhause. Und eine Online-Vorlesung über „Politische Partizipation“. Vielleicht zwischendurch eine Tiefkühlpizza.

An einem Samstag meldet er sich per Skype, er verbindet zu einem Meeting der Grünen Jugend Baden-Baden, die jungen Aktivisten besprechen online eine Kampagne zur Senkung des Wahlalters. „Jüngere denken mehr an die Zukunft als Alte“, meint ein Jugendlicher. „Und wenn sie schlechter informiert sein sollten“, ergänzt Gönner, „ist ihre Meinung doch nicht gleich weniger wert.“. Er klingt abgeklärt. „Lasst uns einen Screenshot machen“, ruft der Moderator, „für Socialmedia. Jetzt alle happy und grüßen!“ Fünf Gesichter beginnen zu zappeln, schneiden Grimassen, Hände winken. Nur Gönner, der seit seiner Wahl zum Gemeinderat 3840 Seiten Kommunalakten las, 300 politische Posts absetzte und täglich sieben Tassen Kaffee trinkt, hält still wie ein Stein.