Zeitenspiegel Reportagen

Hauptsache, Frieden

Erschienen in "Die Zeit", 17/2022

Von Autor Jan Rübel

Wie lässt sich im Unterricht über den Krieg sprechen? In Berlin versuchen zwei Historikerinnen, Jugendlichen die Hintergründe zu erklären – und geraten dabei auch an persönliche Grenzen.

Zwei Frauen steigen die Steinstufen zur Eingangstür eines Gymnasiums hinauf, bahnen sich ihren Weg durch eine Menge ausgelassener Zwölftklässler. Sie feiern mit einer »Mottowoche« die letzte Unterrichtstage vor dem Abitur, mit Kostümen und Streichen. Corinna Kuhr-Korolev und Kateryna Chernii führt anderes hierher. Über den Krieg in der Ukraine sollen sie mit den Schülern reden, als ausgewiesene Osteuropaexpertinnen wurden sie eingeladen. Der Krieg, er ist für sie nicht nur ein berufliches Thema, er berührt sie auch persönlich viel mehr als andere. Kuhr-Korolev hat viele Jahre in Moskau gelebt, ihr Mann ist Russe. Die Ukrainerin Chernii lebt seit sieben Jahren in Deutschland – vor drei Wochen ließ sie Mutter und Großmutter aus dem umkämpften Kiew holen. Heute morgen hat die Oma Blut gespuckt und niemand weiß, warum. Sind es die Nachwirkungen der Flucht? Der Stress durch das Verlassen der Wohnung, in der sie Ewigkeiten lebte.

Die Kriegsmeldungen der vergangenen Nacht: drei bombardierte Industrieeinrichtungen im Westen der Ukraine, drei vereinbarte Fluchtrouten im Süden. Kuhr-Korolev und Chernii betreten im Erdgeschoss des Walther-Rathenau-Gymnasiums in Berlin-Grunewald einen Klassenraum. »Die Schüler haben viele Fragen, das rüttelt uns alle auf«, begrüßt sie Solveig Knobelsdorf; es ist Tag 35 nach Kriegsbeginn, vom Massaker in Butscha hat noch keiner hier gehört. Die Rektorin hat die beiden Historikerinnen gebeten, in den Geschichtsunterricht der elften Klasse zu kommen. Ihre Schüler zeigen die ganze Bandbreite an Reaktionen auf den Krieg: Da ist das Mädchen aus der Ukraine, die das Schuljahr wiederholen wird; derzeit ist sie zu aufgelöst, um eine Klausur zu schreiben. Da sind russische Schüler, die schwanken zwischen der Propaganda aus dem russischen Staatsfernsehen im Wohnzimmer der Eltern und all dem, was draußen auf sie eindringt. Oder die aus dem Bürgerkrieg geflüchtete Syrerin, der auffällt, dass die heute ankommenden Ukrainer besser aufgenommen werden als sie damals. Und da sind deutsche Schüler, die fragen, ob das nun der Dritte Weltkrieg ist. »Bei den Gesprächen über den Krieg ist oft viel Emotion dabei«, sagt Knobelsdorf. »Ich habe auch Angst, dass sich Ukrainer und Russen in den Klassen verbal an die Gurgel gehen.« Da sei es ihr wichtig, »dass wir das einmal sortieren«.

Gespannt warten sie nun auf die Schülerinnen und Schüler. Kuhr-Korolev, 54, ist Osteuropahistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Chernii, 28, promoviert dort gerade, ihr Thema dreht sich um ukrainischen Fußball und den Wandel der Eliten nach dem Ende der Sowjetunion. Das alles ist gerade sehr weit weg. Immer wieder schaut sie auf ihr Handy, wartet auf Nachrichten von der Großmutter, die inzwischen ins Krankenhaus gebracht wurde.

Murmelnd und scherzend traben die Jugendlichen von der Pause herein, sortieren sich für einen Moment, und wie auf Knopfdruck richten sich 20 Augenpaare auf die Historikerinnen vorn vor der digitalen Tafel. Nur der Luftreiniger summt leise. »Warum kämpfen die eigentlich?«, fragt Kuhr-Korolev, »worum geht es?« Sie erzählt vom Zusammenbruch der Sowjetunion, von den Sowjetrepubliken, die eigenständig wurden. »Es gibt in Deutschland immer noch viel Unwissen über die Geschichte der Ukraine«, sagt Chernii. Die ersten Arme von Schülern gehen hoch.

»Ist das auch ein Krieg zwischen Russland und den USA?«, fragt ein Junge aus der letzten Reihe. »Zuerst ist anzuerkennen, dass es ein Krieg gegen ukrainische Truppen und gegen die Bevölkerung ist«, antwortet Kuhr-Korolev. »Russland will seine ehemalige Stellung wiederhaben, auch gegenüber Amerika.« Seit Kriegsbeginn hat das ZFF gemeinsam mit dem Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin 50 Anfragen von Schulen bekommen, zu 40 ist man bisher gegangen; das ZFF hatte die Schulklassen-Gespräche im Internet angeboten. »Wir stellen Wissen um den historischen Kontext bereit«, hatte Kuhr-Korolev auf dem Weg zur Schule gesagt. »Das ist wenig. Aber das können wir als Historikerinnen tun. Auch, um der russischen Propaganda in Deutschland etwas entgegenzusetzen, die sich der Geschichte als Waffe bedient.«

Fünf Tage nach Kriegsbeginn war die Idee im Institut spontan entstanden. »Wir waren zuerst von den Ereignissen geplättet«, erinnerte sich Kuhr-Korolev: »Dann sagten wir uns: Wir sind die Experten. Wir müssen raus aus dem Elfenbeinturm und unser Fachwissen verbreiten – wie bei der Corona-Pandemie, die brauchte auch Virologen und Epidemiologen zur richtigen Einordnung.« Sie würden bei den Schülern auf viel Angst stoßen, vor einer weiteren Eskalation, vor Gewalt und Zerstörung auch bei ihnen daheim, vor einem Atomkrieg.

Doch die dritte Frage hier in Raum 3 zeigt, dass der Krieg in seinem Verlauf die Haltung der Jugendlichen verändert, sie andere Ängste formulieren: »Schaden die Sanktionen nicht eher uns?«, fragt ein Schüler. Der Schaden in Russland sei schon jetzt sehr groß, entgegnet Kuhr-Korolev. »Es wird in Deutschland eine Kostenexplosion geben. Aber ich bin der Meinung, dass wir diesen Preis bezahlen müssen – auf die Erpressungspolitik des Kremls sollten wir uns nicht einlassen.« Die Jugendlichen schauen ernst, keiner spielt jetzt mehr unter dem Tisch am Handy.

Der Krieg lässt sich nicht wegdenken. In ihrer Lübecker Erklärung rief die Kultusministerkonferenz Mitte März zur aktiven Thematisierung in Schulen auf: Auf Bildungsservern können Lehrkräfte Unterrichtsmaterialien abrufen, selbst Formate im Kinderfernsehen erklären den Krieg. Im Grunewalder Walther-Rathenau-Gymnasium fragen die Schüler die beiden Historikerinnen, was passieren würde, sollte Russland den Krieg gewinnen, ob er friedlich beendet werden könnte, welche Rolle China spielt. Und immer nach der Amerikas.

»Länder wie Amerika haben auch Kriege begonnen und dafür keine Sanktionen erhalten. Warum nicht?«, will einer wissen. Kuhr-Koroley seufzt. »Offenbar funktioniert die globale Sicherheitsarchitektur nicht gut, da geht nicht immer alles gerecht zu«, sagt sie. »Das ist ein weltweites Problem. Da bin ich als Osteuropahistorikerin überfragt.« Ein anderer Schüler wendet ein: »Die Sanktionen sind doch gegen unsere Sicherheit, weil Putin Konsequenzen angedroht hat.« Es sind die Jungs, welche sich melden. Die Mädchen schweigen. Und die russischstämmigen Schüler halten sich zurück, sie schweigen meist. »Haben die USA im Ukrainekonflikt eine Doppelmoral?«, will ein Schüler mit arabischen Eltern wissen, es klingt wie eine Pfandfrage.Chernii fragt zurück: »In welchem Sinne?« »Na, wegen der eigenen Kriegsverbrechen.« Chernii stockt. Wenn, dann habe es die woanders gegeben, sagt sie, was habe das mit der Ukraine zu tun? »Und das entschuldigt doch nicht, was uns passiert. Wir sehen ja, dass die USA nicht ihre Truppen schicken und auch nicht den Luftraum schützen.«

Immer mehr Schüler heben den Arm, haben Fragen. Mit jeder Minute aber wächst ein Abstand zwischen den Jugendlichen und den beiden Expertinnen vor der Tafel. Die Teenager fragen auch aus einem Bedürfnis nach einem schnellen Kriegsende heraus, sehnen sich zurück nach Normalität. »Warum stimmt die Ukraine nicht einfach zu und gibt das Land im Osten ab?«, fragt ein Schüler. Das Gespräch erreicht einen Kipppunkt. Cherniis Stimme unterdrückt aufkommende Ungeduld, ihr Auge zuckt leicht. Sie versucht, nicht ungehalten zu wirken, spricht jetzt aber schneller. »Solchen Regimen wie Russland reicht es nie. Wenn wir jetzt nachgeben, wollen sie immer mehr.

Der Schüler wendet ein: »Aber doch besser, als Menschen sterben zu lassen.«

Chernii stockt für einen Moment, als würde sie innerlich den Kopf schütteln. Und zitiert dann die erste Zeile der ukrainischen Nationalhymne: »Noch sind wir nicht gestorben…«. Dann sagt sie, das alles sei eine lange Geschichte und immer sei Russland der Aggressor gewesen. Sie blickt in die Runde. »Wenn sich jetzt die Nazis hier an die Macht putschen würden, würden dann viele Deutsche sich damit abfinden und nichts unternehmen?« Der Luftfilter summt unbeirrt.

Das Walther-Rathenau-Gymnasium hat eine lange Tradition. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer ging hier zur Schule, auch seine Schwester Christine und ihr späterer Ehemann Hans von Dohnany – allesamt Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. Als der Gong die Unterrichtsstunde beendet, springen die Schüler auf, sie gehen an Kuhr-Korolev und Chernii vorbei, fast alle sagen leise Tschüß. Chernii schaut wieder auf ihr Handy. Ihre Lebenswelt und die der Schüler hier passen gerade schlecht zueinander.

Im Rektoratszimmer von Solveig Knobelsdorf setzen sich die beiden Historikerinnen etwas mitgenommen an den runden Eichenholztisch, er stammt aus dem Originalbesitz Walther Rathenaus, des ehemaligen Außenministers der Weimarer Republik; 450 Meter von hier wurde er im Juni vor 100 Jahren von Rechtsradikalen erschossen. »Ich kam mir zuweilen vor wie in einer russischen Klasse«, beginnt Chernii. »Das hat mich schon überrascht. Und überhaupt, Wwas können wir für all die Verbrechen, die auf der Welt begangen werden«? Kuhr-Korolev versucht eine Einordnung: »Ich verstehe die Schüler. Sie spiegeln die Debatte in der Gesellschaft.« Da gebe es das verbreitete Verständnis dafür, dass sich Russland von der Nato bedroht zeige, und eine grundsätzliche Abneigung gegenüber den USA.

Knobelsdorf faltet ihre Hände zusammen. »Die Meinungsfreiheit ist für unsere Schüler selbstverständlich, da denkt man kaum daran, dass sie verteidigt werden müsste.« Auch wirke das Erbe der Friedensbewegung: Hauptsache Frieden. Draußen schlägt der Gong zum Ende der Pause. Es sei nicht so, sagt Knobelsdorf, dass der Krieg nicht mehr in ihren Köpfen sei. »Aber dass man zurück zur ‚Tagesordnung’ strebe, sei auch ein Selbstschutz. Die Zeit schreitet voran, und für Jugendliche besonders schnell.«

Im Rektoratszimmer tickt an der Wand eine moderne Uhr. »Ich gehe mit einem guten Gefühl hier heraus«, sagt Kuhr-Korolev. Die Doppelunterrichtsstunde habe ausgereicht, damit jeder Schüler seine eigene Position hinterfragt. Es klingt trotzig und hoffnungsvoll zugleich. Nach einer Erwartung, die nicht nach dem Himmel greift.

Auf dem Weg nach draußen zeigt Knobelsdorf den Expertinnen noch zwei großflächige Stellwände, sie sind bespickt mit kleinen Zetteln in Kerzenform. »Beendet überall den Krieg!« steht dort, und »Haltet durch« oder »Nicht alle Russen wollen Krieg!«, »Krieg ist blöd« – und immer wieder, »Pray for Ukraine«. Kuhr-Korolev und Chernii sehen im Vorbeigehen noch ein Plakat an einer Glastür: »Kuchen für den Frieden«, Muffins und Brownies zu je 1,50 Euro. Dann verlassen sie die Schule, draußen auf den Steinstufen empfängt sie ein kalter Wind.