Zeitenspiegel Reportagen

In nächster Nähe, so fern

Erschienen in der "Frankfurter Rundschau", 17. Oktober 2020. Foto: Andi Weiland

Von Autor Jan Rübel

Werkstätten für Menschen mit Behinderung bilden einen unsichtbaren Massenmarkt in Deutschland. Der Komplex beschäftigt 300.000 von ihnen. Über eine Parallelwelt, die kaum jemand kennt.

Im Westen, wo die Häuserzeilen Freiburgs im Breisgau enden und der Schwarzwald beginnt, steht eine Wagenburg. 19 weiße Kleintransporter fahren vor einem einstöckigen Zweckbau auf, parken rückwärts ein und richten eng aneinandergereiht ihre Scheinwerfer nach außen wie Bullaugen eines einzigen Kreuzfahrtschiffs. Da muss man erstmal durch.

Von hinten schauen Jürgen Haider und Peter Kaiser aus dem Bau auf die weiße Autowand und treten hinaus. Es ist einer dieser Tage, sagt Jürgen Haider. Grau fällt der Himmel herab, er bedeckt an diesem Spätnachmittag im Sturzflug Weinstöcke und Apfelbäume am Ausläufer des Mittelgebirgs. Wagentüren öffnen sich geräuschlos. Schließen mit einem schmatzenden Klick. Doch Haider und Kaiser schlängeln sich an den Vans vorbei, die sind für ihre Arbeitskollegen, beide gehen allein heim. Einer dieser Tage. An dessen Ende sich Haider fragt, was er eigentlich gemacht hat.

Schichtende. Briefmarken habe er geklebt, sagt Haider. Acht Stunden lang, abzüglich der Mittagspause. Was man halt macht, in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, hier in einem Industriepark am Rande der Stadt.

Kaiser, muskulös und kräftig, klopft dem schmächtigeren Haider sanft auf die Schulter. „Trinken wir was im Café.“ Die Kleintransporter heulen im ersten Gang auf, reißen Lücken ins Kreuzfahrtschiff, sie bringen die „Beschäftigten“, wie es im Werkstattjargon heißt, nachhaus; oft zu Einrichtungen, wo Menschen mit Behinderungen wohnen. Die weißen Wagen, von denen viele den Aufdruck „Airport“ tragen, fahren nun von einer Sonderwelt zur anderen. Menschen ohne Behinderung sieht man in beiden nur als Betreuer, Hausmeister oder Koch. Ansonsten ist man unter sich.

Haider bestellt einen knallgelben Kräutertee, draußen möchte das Grau in Schwarz übergehen. Neulich habe er zehnjähriges Jubiläum in der Werkstatt gehabt, sagt er. Gefreut habe er sich nicht. Und frage sich oft: „Was hab ich falsch gemacht?“ Kaiser nimmt den Löffel aus seinem Cappuccino. „Wie, bei uns? Was ist los?“ Haider, 30, will aus der Werkstatt raus, und Kaiser, neun Jahre älter, sagt: „Ich bin verdammt froh, dass ich in der Werkstatt sein kann.“ Der Komplex der Werkstätten in Deutschland umfasst knapp 300.000 Beschäftigte, sie arbeiten dort für ein Durchschnittsentgelt von 214 Euro im Monat. Der Gesetzgeber formuliert einen klaren Auftrag: Die Werkstätten sollen fit machen für den Allgemeinen Arbeitsmarkt, auf berufliche Reha ausgerichtet sein; die Anzahl derjenigen, die den Übergang von den Werkstätten in den Allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen, liegt aber bei einem Prozent; dem Bundesarbeitsministerium liegen nicht einmal Zahlen vor. Unter den behinderten Menschen kursiert der Spruch: In eine Werkstatt kommst du schnell rein, und kaum wieder raus. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegt mehr als ein breiter Spalt.

Heider und Kaiser tragen beide eckige Brillen und schauen auf Bildungs- und Berufswege zurück, die kannten einige Klippen. Bei Heiders Geburt stellten sich Sauerstoffprobleme ein, die zu einer Spastik führten. Die Ärzte prognostizierten seiner Mutter, dass er ein dauerhafter Pflegefall werde. Doch es kam anders. Heider läuft allein und spricht, nur langsamer als andere. Er ist Sportkletterer, spielt Theater und schreibt Gedichte. „In der Sonderschule sagten sie uns, Lesen und Schreiben bräuchten wir nicht lernen, das hab ich mir alles selbst beigebracht“, sagt er und hält den Teebecher mit beiden Händen fest. Als es dann darum ging, was nach der Schule kommt und die Agentur für Arbeit ihn einer Untersuchung unterzog, war er nervös gewesen, das Ergebnis attestierte ihm, angeblich „täglich weniger als drei Stunden leistungsfähig für wirtschaftlich verwertbare Arbeit“ zu sein. Aber für Briefmarken reicht es. Seitdem sucht Heider, „eine Arbeit draußen, aber wenn man einmal den Stempel hat…“

Kaiser dagegen kennt den Allgemeinen Arbeitsmarkt. Er tat ihm nicht gut. Mit zehn Jahren hatte ihn ein Auto überfahren, er hatte Grün, der abbiegende Fahrer ihn übersehen, am ersten Ferientag mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Freibad. Der Junge flog durch die Windschutzscheibe, erlitt Hirnblutungen, mehrere Operationen retteten sein Leben; vorher in der Schule einer der besten, musste er danach alles von vorn lernen. Jahre später wurde Kaiser Gärtner, aber die Narben im Kopf sorgen für Anfälle, es sind um die 200, jeden Tag, die er bewusst erlebt, „dann dreht sich der Kopf nach rechts, und der Körper auch, das macht Angst.“ Manchmal weine er dann, „im Kopf bin ich fit, aber von den Augen her gerät es durcheinander, bin durch den Wind“; Neurologen staunen über diesen Zustand. Kaiser braucht Auszeiten am Tag, der Zeitdruck im Gärtnerjob setzte ihm zu, Stress verstärkte die Anfälle. Nach fünf Jahren zog er die Reißleine. „Hier in der Werkstatt bin ich einer der Schnellsten, echter Leistungsträger.“ Kaiser arbeitet im Lager und montiert Garnrollen in Handsets, „manchmal fehlt eine bestimmte Garnfarbe, dann können wir nicht weitermachen. Leerlauf mag ich gar nicht.“ Das „Taschengeld“, was er kriege, ärgere ihn. „Aber was soll’s. In der Werkstatt bin ich besser aufgehoben.“

Wenn es um die Zahlen geht, sind Werkstätten eine Erfolgsstory. Sie wachsen seit Jahren. Mehr Menschen mit schweren Beeinträchtigungen gibt es zwar nicht. Aber den Werkstattbeschäftigten winkt Stabilität: Wenn sie in Rente gehen, werden ihnen 80 Prozent des durchschnittlichen Verdienst aller Versicherten als höherer fiktiver Verdienst angerechnet – auf dem freien Arbeitsmarkt müssen sie hingegen Altersarmut befürchten. Allein deshalb scheuen viele den Wechsel aus der Werkstatt heraus.

Duygu Özen will gar nicht erst hinein. Berlin, vor einem wuchtigen Neorenaissancebau. Özen dreht ihren Rollstuhl auf der Stelle, mal nach links, dann nach rechts. Aus einem hüfthohen Aschenbecher quillt der Rauch halb ausgedrückter Zigaretten, als wolle er den Eingang versperren. Doch Özen hat jetzt einen Termin, es ist eines von knapp 30.000 Verfahren, die hier im Sozialgericht Berlin, dem größten Deutschlands, jährlich verhandelt werden. „Ich bin ganz schön aufgeregt“, sagt sie. Und: „Wäre es doch schon vorbei.“ Özen, 22, hat vor drei Jahren Klage eingereicht, die Richter aber hatten noch mit vielen Hartz-IV-Fällen zu tun; daher kommt es erst heute zur ersten Verhandlung: Özen will nicht in die Werkstatt. Die Agentur für Arbeit sieht das anders. „Im Grenzbereich zur geistigen Behinderung“, hatte ein Gutachten attestiert. „Es liegt eine schwerwiegende Leistungseinschränkung vor, die die Aussichten am Arbeitsleben teilzunehmen nicht nur vorübergehend erheblich mindert.“

„Lass, ich mach das“, sagt sie zu ihrer Mutter, als die den Rollstuhl schieben will. Am rechten Nasenflügel funkelt ein Brilli. An ihre Seite kommt Anne Gersdorff gefahren, die Sozialarbeiterin ist vom BIS-Verein, der sich für betriebliche Inklusion engagiert, sie begleitet Özen bei ihrem Ringen mit der Agentur. „Denk daran, was du alles schon geschafft hast. Und wohin du willst…“ Özen atmet durch. „Okay, los jetzt.“ Die beiden Rollstühle passieren das Schild „Behindertenzufahrt“.

Im zweiten Stock nehmen sie die Schwelle zum Saal 218, und als ihr Anwalt Martin Theben seinen Rollstuhl ebenfalls hineinsteuert, wirkt der Raum plötzlich klein; zwei Vertreter von der Agentur für Arbeit schauen auf und sich an. Wer ist die Klägerin? Währenddessen hält Özen ihre schwarze Handtasche auf den Knien fest. Sie wird sie während der ganzen Verhandlung nicht loslassen. Dann treten die Richter aus einem Nebenraum herein, setzen sich an die sonnendurchflutete Front, und die Tür schließt sich für die Presse.

Özen hat ein Ziel. Sie will in einer „normalen“ Firma arbeiten, wie sie eine Woche zuvor gesagt hatte. „Ich will nicht nur unter Behinderten sein“, meinte sie, „das zieht mich runter, langweilt auf die Dauer“.

Früher besuchte Özen eine Schule für Körperbehinderte, „die war irgendwann zu schwer für mich“. Man schickte sie wegen ihrer zusätzlichen Lernschwierigkeiten zu einer Schule für „Geistige Entwicklung“, dort „lernten wir Tischdecken, Zähneputzen und Wäschewaschen, eben Pipifax“. Mit 17 beschlich Özen das Gefühl, in der Förderschule nicht mehr gefördert zu werden.

Vor vier Jahren stellte sie einen Antrag auf Erteilung eines so genannten „persönlichen Budgets“. Menschen mit Behinderung haben Anspruch auf diese Geldleistung zur Meisterung des Alltags, und im Falle Özens will die Agentur für Arbeit diese auch auszahlen, aber nur bei einem Wechsel in eine Werkstatt: Özen indes will sich als Prüferin für leichte Sprache ausbilden lassen – eine Zukunftsbranche, denn zig Texte sind derart geschrieben, dass Leser mit Lernschwierigkeiten nicht mitkommen; gerade denken viele Anbieter, etwa von Websites und Infobroschüren, um und brauchen dann Kundige in leichter Sprache. Özen zeigte sich durch ihre Behinderung qualifiziert. Die Einrichtung will sie. Die Agentur für Arbeit aber äußerte „Zweifel, dass Frau Özen an einem ausgelagerten Arbeitsplatz hinreichend persönlich gefördert wird“. Wie Heider hatte Özen mit 17 eine sechsstündige Prüfung zu absolvieren. „Ich musste Aufgaben unter Zeitdruck erledigen“, erinnerte sie sich. „Ich war total nervös und fahrig.“ Mit dem Testergebnis kannte die Agentur für Arbeit für Özen nur ein Ziel: Werkstatt.

Nach einer Dreiviertelstunde geht die Tür von Saal 218 auf, zuerst verlassen die Agenturvertreter den Raum, beide grinsen. Noch mehr aber grinst Özen, als sie herausrollt. Beim „Erörterungstermin“ bewerten die Richter ihren Antrag positiv – und setzen der Agentur eine Frist von sieben Wochen zu antworten. „Geschafft!“, jubelt sie. Schau mal, hätten die beiden Männer von der Agentur miteinander getuschelt und sie dabei angeschaut, das sieht man doch, dass dieses Gutachten nicht stimmt. Anne Gersdorff, die als Sozialarbeiterin öfters an der Schnittstelle zu Werkstätten arbeitet, unterdrückt ihre Wut kaum. „Vier Jahre lang baut die Agentur Mist, und nun wird getan, als sei nichts gewesen. Wenn ich so arbeiten würde…“ Özen schließt die Augen. Ihr Mund lächelt weiter.

Werkstätten behaupten sich in einem Spannungsfeld. Einerseits sollen sie ihren Beschäftigten durch massive Bildung den Weg zum Arbeitsmarkt ebnen, andererseits unterliegen sie dem Gebot der Wirtschaftlichkeit; die Zeiten, in denen Werkstätten vom Verkauf gebastelter Strohpuppen auf Weihnachtsmärkten lebten, sind vorbei. Sie sind Unternehmen. Jährlich erwirtschaften ihre Betriebe Umsätze in Höhe von acht Milliarden Euro. Zu den Produktpaletten gehören Designermöbel, Autoanhänger, Lebensmittel und Küchengegenstände, aber auch Dienstleistungen wie Catering, Gartenpflege, Autowäsche und Aktenvernichtung. Dafür werden belastbare Arbeitskräfte gebraucht, während die Agenturen für Arbeit nichts dagegen haben, dass bei den Werkstätten untergekommene Menschen mit Behinderung nicht potenziell in der Arbeitslosenstatistik auftauchen können. Die sind dann erstmal weg.

Sieben Kilometer östlich legt sich ein Neubau in die Kurve, ganz anders als das massige Sozialgericht, das in seiner Nachbarschaft nur sich selbst kennt. Entlang dem sich krümmenden Straßenverlauf ist das rotbläuliche Haus geziegelt, als wollte es nicht auffallen. Wie sieht das Innenleben einer Werkstatt aus? Neun wurden in Berlin für Besuche angefragt: Fünf antworteten nicht, eine sagte ab, bei einer verlief ein erstes Gespräch folgenlos – und zwei sagten zu, darunter Integral mit ihrem gebogenen Neubau auf 5800 Quadratmetern, über vier Etagen verteilt und mit rund 300 Beschäftigten ein eher kleiner Betrieb.

Im dritten Stock sind sie der hohen Politik ganz nah, für einen Moment. „Der hier geht ans Kanzleramt“, sagt Katja stolz, hält inne und hebt einen Brief in die Luft – einen von 1424, welche hier mit jeweils zwei Faltblättern und einer Broschüre zusammengelegt werden – Auftragsarbeit für ein Bildungswerk, die Schreiben gehen an Bürgermeister und Landesparlamente, an den Bundestag und den Amtssitz Angela Merkels. „Bildung kann ja nicht schaden, nicht?“, antwortet Mandy neben ihr. Beide kichern.

Der Bereich „Konfektionieren und Verpacken“ ist der größte in der Werkstatt. Mit jeder Minute wächst der Stapel an versandfertigen Briefen, die Rolle mit Etiketten dagegen wird immer kleiner. Das motiviert. Zügig arbeitet die Gruppe aus zehn Beschäftigten, schnell gerät man in einen Rhythmus. „Ich bin ja froh, dass ich eine Arbeit habe“, sagt Katja. „Wir hauen viel weg.“ Eigentlich habe sie Floristin werden wollen, aber „da gab es nichts für mich“. Mandy, wie Katja Anfang 40, erzählt, wie man in der DDR sie nicht in die Schule habe lassen wollen, „in meinem Gehirn läuft das nicht so rund“, aber ihre Mutter habe dann Druck gemacht. „Hier herrscht immer eine gute Stimmung.“ Nach zwei Stunden werden die Gespräche weniger, das Tempo beim Zusammenlegen lässt etwas nach. Da dreht Betreuer André „Streets of Philadelphia“ von Bruce Springsteen auf: Einige singen mit, andere lachen auf, das Arbeitstempo erhöht sich wieder. In der Werkstatt wird bei der Arbeit auch mal gequatscht, innegehalten und geguckt. Aber das Ergebnis stimmt; andere Betriebe könnten sich von Moral und Klima einiges abschauen.

André ist groß gewachsen, ein Gesicht wie ein Löwe, er geht die Tische ab, inspiziert das Stanzen von Visitenkarten und Bohren von Löchern in Hefter auf der einen Ecke, das Surren der Ringbindemaschine für Kalender in der anderen. „Würde ich eine Firma gründen“, sagt er, „wüsste ich, wen ich von hier einstellen würde. Eigentlich fast alle“. Die Leute da draußen seien größtenteils schlicht nicht bereit mit Behinderten zusammenzuarbeiten. „Das ist deren Defizit.“

Im zweiten Stock riecht es nach Meer. Aus einem großen weißen Bottich schaufelt ein Mittfünfziger Salz auf eine Miniwaage und dann zu je 150 Gramm in Tontöpfe, „handgeerntetes Gourmetsalz“ aus Spanien, preist der Hersteller, der Abwiegen, Füllung und Etikettierung auf mehrere Werkstätten verteilt. „Oh, die Waage hat die Nase voll von mir“, witzelt der Mann im Rollstuhl, als sie plötzlich ausgeht, „da muss ich nachhause gehen“. Ein schneller Blick auf den Auftragszettel zeigt: Für die Konfektionierung von 192 Stück zahlt der Hersteller 61,44 Euro – für ihn ein gutes Geschäft, fallen doch keine Lohnkosten oder Versicherungen an.

Werkstätten haben einen Standortvorteil, weil sie für ihre Leistungen den verminderten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent veranschlagen können. Außerdem sparen Betriebe Abgaben ein, wenn sie Aufträge an Werkstätten vergeben: Zwar muss jede Firma ab einer bestimmten Größe fünf Prozent der Arbeitsplätze an schwerbehinderte Menschen vergeben. Von dieser Vorschrift können sich die Unternehmen aber freikaufen. Höchstens 320 Euro „Ausgleichsabgabe“ werden für jeden nicht pflichtgemäß besetzen Arbeitsplatz pro Monat fällig – und dieser Obolus wird kleiner, wenn ein Betrieb eben Aufträge an Werkstätten vergibt. Ein Ablasshandel hat sich etabliert, ein Werkstattsystem, das sich selbst ernährt und sich an den begründeten Ressourcen orientiert. Und alles bleibt, wie es ist.

Im Erdgeschoss sitzt Heike Anders mit fünf Beschäftigten in einem Fortbildungsseminar. „Ihr habt das Recht aus der Werkstatt rauszugehen“, beschwört die Leiterin „Berufliche Integration“ und streicht ihren blonden Scheitel zur Seite. Integral gehört zu jenen Werkstätten, die sich bemühen, ihren Leuten einen Weg nach draußen zu bereiten. „Wir schauen, was geht“, sagt Anders. Jeder der Fünf hier soll benennen, was er gut kann. „Ich höre gut zu und bin pünktlich“, sagt ein schlaksiger junger Mann im Blaumann. „Pünktlichkeit erwähnt man nicht mehr im Vorstellungsgespräch“, antwortet Anders, „die ist selbstverständlich“. Von den 300 bei Integral Beschäftigten schaffen jährlich ein bis zwei den Wechsel in eine sozialversicherungspflichtige Arbeit. Das ist überdurchschnittlich. Anders begleitet dabei, sucht ausgelagerte Arbeitsplätze, etwa bei einer Kita oder einer Gärtnerei, wo sich die Beschäftigten „bewähren“ müssen und noch mit den geringen Werkstattlöhnen leben, derzeit sind es bei Integral 33. „Die Betriebe werden aufgeschlossener, aber noch immer müssen wir dicke Bretter bohren. Vorbehalte bleiben, und der Anreiz gegenüber einer Festanstellung Geld zu sparen ist halt groß.“ Dabei sage ihr die Erfahrung: „Draußen kann man aus den Leuten noch mehr rauskitzeln.“

Was den Unterschied macht, zeigt eine Reise ins Grenzland von NRW und Niedersachsen, zu einem Treff zwischen zwei Brüdern. Sanfte Hügel umschließen eine Kleinstadt, darin viel Fachwerk und ein Eiscafé. Tom* und Norman* berühren sich mit ihren Stirnen, grinsen. „Ich esse zwei Schokobecher hintereinander.“ „Schaffst du niemals.“ „Wirste sehen.“

Tom, 24, besucht seinen zwei Jahre älteren Bruder. Ihre Lebenswege trennten sich, als man beide in Obhut nahm, Tom war damals fast drei. Er war schwer misshandelt und missbraucht worden, hatte vor Hunger die Tapete von der Wand gegessen. Normans Traumata dagegen hatten weniger Behinderungen hervorgebracht. Tom kam zu einer Pflegefamilie, die ihn behielt. Norman in wechselnde Einrichtungen.

Beide Brüder wohnen 200 Kilometer voneinander entfernt. Toms Pflegevater hat ihn heute zu Norman gefahren, der natürlich auch den zweiten Schokoeisbecher schafft, mit Sahne. Vorher hatten sie sich quer durch das Mittagsbüffet eines China-Restaurants gekostet. „Am Wochenende hab ich ein Fußballturnier“, sagt Norman, „dafür muss ich Energie essen.“ Auch Tom spielt in einer Mannschaft. Was sie trennt, sind die Lieblingsfußballvereine. „Du mit deiner Borussia Dortmund“, neckt Bayern-Fan Norman.

Die Pflegeeltern hatten erst von Toms Vergangenheit erfahren, nachdem sie ihn aufgenommen hatten. Die schreckliche Wahrheit sickerte durch, als ständig Stuhl aus Toms Po floss und er die Tapeten seines Zimmers mit Genitalien bemalte. Da trugen sie den Jungen, fütterten, streichelten und küssten ihn. Er wuchs auf in Liebe, elterlicher Hingabe und Bestimmtheit, stets die beste Reha, Psychotherapie und Bildung zukommen zu lassen. Norman erhielt im Heim Standard, keine echte Diagnostik. Heute arbeitet Tom auf einem Werkstattsbauernhof, wie er es sich wünschte: draußen, mit Tieren. Und er hat Kollegen mit und ohne Behinderung, bei denen auf den ersten Blick nicht erkennbar ist, wer „Klient“ ist; eine Rolle spielt es auch nicht. Norman kam ebenfalls in eine Werkstatt. Aber: „Irgendwas mit Möbeln“, sagt er. Stupide Wiederholungen. Gefalle ihm nicht. „Was soll’s?“ Norman wackelt oft mit dem Kopf, nimmt Tabletten zur Beruhigung. Tom nicht, ist selbständiger. Wer die beiden sieht, denkt: Norman hat „die Behinderung“, Tom nicht. Der ältere Bruder lebt in einem Wohnheim, mit jungen Erwachsenen, die alle deutlich schwerer beeinträchtigt sind als er. Zwar hat er eine Butze allein, in einem Nebentrakt. Aber. Am frühen Abend, als sich die Sonne auf die Eichenbäume am Landhaus legt und Tom ihn umarmt, fragt Norman: „Wann kommt ihr wieder?“ Der Wagen entfernt sich langsam auf einer langen Allee. Der Rückspiegel zeigt Norman auf einer Schaukel, wie er höher schwingt, grimmig, immer höher, zur Sonne hinauf.

Zurück in Berlin, in einer ehemaligen Weddinger Fabrik. Die ersten Glühlampen Deutschlands wurden hier einst gebaut, heute leuchten die Wände hellweiß bei „KOPF, HAND + FUSS“, „Deutschlands erster Coworking Space für Menschen jeglicher Ausgangslage“, an den Tischen im langen Loft entwickeln junge Leute mit Hornbrillen interaktive Lernportale und APPs. An einem mit Ausbuchtung sitzt Duygu Özen, hier will sie ihre Ausbildung anfangen. Sie schnaubt. Die Agentur für Arbeit hat die Frist von sieben Wochen verstreichen lassen, stattdessen gab es Einladungen zu einem Gespräch. Es soll alles von vorn losgehen, befürchtet sie. Ein neues Gutachten, weiteres Warten. Dabei hat sie ihr unbezahltes Praktikum zur Ausbildung als Prüferin für leichte Sprache hier längst begonnen. „Ich will mein persönliches Budget dafür endlich einsetzen“, sagt sie. Es ist eine Krux: Die Bundesregierung rühmt sich des Persönlichen Budgets als Mittel für Menschen mit Behinderung, um aus der Werkstatt herauszukommen. Aber was, wenn man damit gar nicht erst in die Werkstatt will? Werkstätten kriegen diese Finanzierung vom Staat, wenn sie Beschäftigte aufnehmen, die es auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt nicht schaffen. Nun will Özen mit diesem Geld den umgekehrten Weg einschlagen. Anne Gersdorff ist mit einem Kameramann vorbeigekommen. „Die Zeit, in der man nett ist, ist vorbei“, konstatiert sie. Eine Petition bei der Plattform „change.org“ soll Öffentlichkeit und Druck schaffen. Die Kamera läuft. „Hallo Leute“, sagt Özen, „die Agentur macht Stress. Ich möchte normal arbeiten, wie alle anderen auch“.

Wie ist es zu alldem gekommen, zum Wachstum der Werkstätten? Bernhard Sackarendt sitzt vor einem Buchregal und schaut auf einen knisternden Kamin. Seit den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts ist er in der „Werkstatt-Szene“, leitete jahrzehntelang eine große Einrichtung und saß im Bundesvorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen (BAG:WfbM). Jedes Buch hier ist druckfrisch und ungelesen, der Kamin flackert elektrisch – in der Lobby eines Hotels im Nordosten Berlins, wo alles aussieht wie ein Showroom von Ikea. „Die Werkstätten leisteten einen enormen Beitrag zur Integration der Menschen in die Gesellschaft, sie machten sie sichtbar.“ Heute sitzt Sackarendt, 71, im Vorstand des Sozialverbands Deutschlands mit 570.000 Mitgliedern – er vertritt die Interessen der Renten- und Krankenversicherten, der Menschen mit Behinderung und mit Pflegebedarf. „Wir gingen damals, vor 50 Jahren, von Haus zu Haus. Nachbarn erzählten uns von Menschen mit einer Behinderung, die versteckt wurden, deren Eltern das nicht wahrhaben wollten.“ In den ersten Werkstätten fanden die Menschen dann einen Anschluss.

Sackarendt schaut auf die Uhr, gleich muss er in einen Vorbereitungsausschuss für den Bundesverbandstag, es geht um viele Anträge zu Hartz IV, Rente, Pflege. „Zum einen professionalisierten sich die Werkstätten, zum anderen gab es dann Schübe.“ In den Achtzigern die Massenentlassungen, bei denen psychisch Erkrankte als erste den Job verloren und erstmals in Werkstätten kamen. Auch schlossen damals zahlreiche kleine Krankenhäuser auf den Dörfern, in denen viele Menschen mit Behinderung Arbeit gefunden hatten. Je mehr Rationalisierung, desto mehr Werkstatt: In den Neunzigern nahmen Befristung und Prekariat zu, in den Nullerjahren kam mit Hartz IV ein weiterer Schwung an Leuten, die den neuen Unsicherheiten schlechter standhielten, „unsere Mitgliederzahlen stiegen“. Die Werkstätten hätten sich zu einem Auffangbecken entwickelt, „für die Menschen, die der Arbeitsmarkt nicht mehr wollte“. Sackarendt ist ein stets freundlich blickender Mann mit rundlichem Gesicht, seine Augen blitzen vor Güte und Schalk zugleich. Norddeutsch. „Dann war das System erstmal da. Und jedes System hat ein Beharrungsvermögen. ‚Es läuft ja‘, sagen die Leute, ‚dann müssen wir uns nicht darum kümmern‘.“

Sackarendt sucht nach einer Öffnung in diesem System, nach einem Spalt. „Bei den Arbeitgebern sehe ich keine positive Änderung, und die Politik betrachtet alles unter Maßgabe von Problemvermeidung – auch sitzen viele Politiker in den Beiräten von Werkstätten: Wer sägt schon am eigenen Ast? Schließlich wäre es Aufgabe der Werkstätten, sich überflüssig zu machen.“ Dann gebe es seit den Siebzigern die Förderschulen, „vorher existierte für Kinder mit Behinderung gar nichts, eine ‚ruhende Schulpflicht‘, aber nun wurden auch Kästen geschaffen, geschlossene Kategorien.“ Die Förderschulen entlassen meist ohne Abschluss, die Perspektiven für Ausbildung und Arbeit sind mies. Und seine Nachfolger bei der BAG? „Das Bewusstsein ist allgemein da, dass sich etwas ändern muss. Aber die BAG öffnet sich nicht wirklich für eine Debatte darüber, hält am Status quo fest.“ Die heutigen Funktionäre seien zahmer. „Meine Generation bestand noch aus Achtundsechzigern, wir hatten gelernt Strukturen in Frage zu stellen. Das vermisse ich heute.“ Ein Bundesminister habe ihm mal gesagt: „‘Ihr seid eigentlich zu alt für die Revolution.‘“

Der von Sackarendt gescholtenen BAG steht ein Mann mit Kumpelgesicht vor, bei dem man instinktiv nach einem Ohrring sucht. Martin Berg, 59, trägt einen tiefblauen Anzug mit Stoffweste, dazu Boots und ein Lederband am rechten Handgelenk; gänzlich unrevolutionär wirkt er nicht. „Ja“, sagt er gleich zur Begrüßung, „Werkstätten bilden zum Teil noch eine Sonderwelt. Aus menschenrechtlicher Perspektive ist das entwicklungsfähig. Sozialrechtlich habe ich aber noch keinen Schlüssel gefunden, wie wir es besser machen können.“

Bergs Interessenverband der Werkstätten residiert in einem schmucklosen Neubau Berlin-Mittes mit Blick auf Park, Spree und Museen, mit weißen Bürowänden und einem schwarzgrauen Teppich wie eine Autobahn. Seine Bestandsaufnahme ist nüchtern. „Wer bei uns ist, gilt als nicht arbeitsmarktfähig. Durch die Förderung in einer Werkstatt verliert ein Mensch ja zum Beispiel nicht seine geistige Behinderung. Der allgemeine Arbeitsmarkt ist überhaupt nicht anschlussfähig.“

Sind die Kriterien zu streng?

„So funktionieren Schule und Ausbildung. Es ist überall das gleiche: Die Ansprüche steigen eher.“

Müssen die Werkstätten also ausbaden, was der Arbeitsmarkt vermasselt?

„So wurde das eben geregelt. Man kann es aber auch positiv sehen: Wir leisten uns in Deutschland ein System, welches Menschen eine Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht; in anderen Ländern gibt es oftmals gar nichts.“

Während er redet, tickt laut irgendwo im Hintergrund eine Uhr. Berg erzählt von seiner gemischten Fußballmannschaft, „wenn wir verlieren, sind wir die Netten. Wenn wir gewinnen, ist das für den Gegner nur schwer zu akzeptieren“, oder von einer Frau in jener Werkstatt, bei der er die Geschäfte führt: „Sie hat eine Spastik und sitzt an der Rezeption. Sie wollte eine Fortbildung absolvieren, um mit Psychisch Erkrankten zu arbeiten. Doch die Behörde ließ sie zur Prüfung nicht zu, weil sie ihre Hände nicht bewegen kann und dafür die Hilfe eines Assistenten nimmt. Die Behörde meinte, man könne dann nicht beurteilen, ob die Leistung von ihr oder vom Assistenten komme…“. Berg sagt, es hapere noch am Verständnis.

Warum wird er nicht lauter?

„Wir müssen die Geschwindigkeit annehmen, welche die Menschen auch mitnimmt. Wenn ich mit der Faust auf den Tisch haue, verlieren wir möglicherweise die Menschen.“

Das Gespräch endet an einem Punkt, bei dem man meint: Das kann es nicht gewesen sein. Mehr muss doch möglich sein. Wie sieht es eigentlich in anderen Ländern aus? Anruf bei jemandem, der über den Tellerrand schaut: „Es ist alles eine Frage der sozialpolitischen Kultur“, beginnt Franz Wolfmayr höflich. Er sitzt gerade im Zug von Brüssel nach Salzburg, im Auftrag der österreichischen Bundesregierung reist er durch fünf europäische Länder und schaut, wie es sich dort mit behinderten Menschen und ihrer Arbeitssituation verhält. „Man muss nur wollen.“

Wolfmayr, 67, ist ehemaliger Sonderschullehrer und stand zwischen 2008 und 2016 dem Europäischen Dachverband der Behindertenhilfe (EASPD) vor, der 18.000 Dienstleistungsanbieter vertritt. Er sieht in Europa eine Menge Bewegung. Die Länder unter seiner Lupe: Irland, Finnland, Belgien, Niederlande und Spanien. „Irland und Finnland haben sich seit langem gegen das Werkstattsmodell entschieden“, sagt er. „In Irland arbeiten Leute mit klassischem Werkstattsprofil seit 20 Jahren in normalen Jobs.“ Wichtig seien dauerhafte finanzielle Beihilfen für Arbeitgeber und persönliche Coaches für die Menschen mit Behinderung. In den Niederlanden und in Belgien gehe man hingegen nun den Weg, Menschen in den Werkstätten in zwei Zielgruppen aufzuteilen: So sollen zum Beispiel 70.000 der rund 100.000 in Werkstätten beschäftigten Niederländer in den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln; die anderen bleiben in den Werkstätten. „Und in Flandern wurden die Werkstätten umgewandelt in Betriebe der Sozialwirtschaft. Die Menschen finden dort in ‚Maatwerk Betrieben‘ maßgeschneiderte Dienststellen vor.“ Dabei sieht Wolfmayr in Werkstätten durchaus Vorteile: „Es ist schon gut, dass es sie als Option gibt, nur sollten sie nicht alternativlos sein.“ Und verweist auf Spanien, wo eine lange Werkstattstradition herrscht. „Dort sind Werkstätten richtige Unternehmen, die den staatlichen Mindestlohn zahlen. Teilweise sind sie die besten ihrer Branche.“ Für die Beschäftigten dort gebe es keine „begleitende Infrastruktur“ wie zum Beispiel Fahrdienste – die Leute sollen die normalen Transportmöglichkeiten nutzen. „Die sind allgemein selbstbewusster.“

Wolfmayr wirbt für ein Klima der Innovation, was nach seinen Schätzungen nicht mehr Geld kosten würde. „Man muss jetzt beginnen. Aber es gibt in Deutschland keine Diskussion darüber, wie Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung aussehen könnten. Weder bei der BAG, noch bei der Politik oder den Arbeitgebern.“

Als Jürgen Haider in Freiburg die Bäckerei verlassen hatte, nach dem Feierabendtee mit Peter Kaiser, hievte er sich die Stufen einer alten Tram hoch und erzählte von seinem Traum. Die Bahn stampfte entlang dürrem Laternenlicht. „Anwalt wäre ich gern“, sagte er, „es wäre cool Anderen aus der Klemme zu helfen“. Nach der Arbeit in der Werkstatt ist er oft unterwegs, besucht Freunde oder die Physiotherapie, geht Klettern oder zu Hobbykursen der Lebenshilfe; eine Unruhe treibt ihn an, es geht ja auch alles langsamer, mit seinem Körper. „Die Spastik nervt im Alltag, aber vor allem, weil Viele um mich herum noch ungeduldiger sind als ich.“ Jede Bewegung, jedes Wort muss von ihm mühsam navigiert werden, wie durch klippenreiches Gewässer. Aber er kommt immer an. „Mit meinen Hobbys lebe ich in einer zweiten Welt.“ Als er aus der Tram ausstieg, ins Dunkel hinein, fragte er, ob er deswegen keinen Job finde: „Weil alles schnell gehen muss?“

Völlig entschleunigt zeigt sich dagegen das Atrium im Haus der Deutschen Wirtschaft in Berlin, hier hat die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) ihren Sitz: Unten auf dem Boden italienischer Marmor, oben über der sechsten Etage eine Glaskonstruktion, die den Innenhof von fliehenden Wolkenfetzen abschirmt. Man läuft wie durch Watte. Peter Clever, 65, empfängt in einem kleinen Raum hinter der Hofsandsteinfassade, er ist Mitglied der Hauptgeschäftsführung und mitunter verantwortlich für den Bereich Arbeitsmarkt. Der Rheinländer redet direkt und schnell, locker und verbindlich zugleich. Werkstätten? „Die sind in einem schwierigen Abwägungsprozess zwischen dem Zwang marktgängige Produkte zu generieren und ihre besten Leute zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu schicken“, sagt er. Clever trägt Jeans, krempelt beide Ärmel seines Pullis hoch. „Manche Arbeitgeber haben Vorurteile gegenüber geistig Behinderten, weil sie keine kennen“, sagt er. „Jetzt aber öffnet sich ein Zeitfenster, denn wir sind auf dem Weg zu einem breiten Arbeitskräftemangel.“

Aber ist die niedrige Übergangsquote von den Werkstätten in den Arbeitsmarkt nicht Ausdruck großen Scheiterns?

„Das ist nicht Ausdruck eines Scheiterns, sondern ein ausgesprochen schwieriger Prozess. Auch scheuen sich viele Eltern, ihre Kinder aus den sicheren Werkstattsumgebungen in ein Arbeitsabenteuer stürzen zu lassen. Wir brauchen Aufklärung über diese Vorurteile, auch eine empathische Ansprache der Arbeitgeber.“

Würde eine Erhöhung der Ausgleichsabgabe helfen, wenn Arbeitgeber keine Menschen mit Behinderung einstellen?

„Das wäre kontraproduktiv. Solch eine Strafsteuer würde nicht helfen Vorurteile abzubauen, sondern diese bestätigen.“

Geld ist doch ein gutes Erziehungsstimulans, oder?

„Das wäre so, als würde ich Ihnen eine Ohrfeige verpassen und sagen, dass ich Sie eigentlich nur streicheln wollte. Das ist eine verkopfte Art der Argumentation, die ich für verrückt halte.“

Clever setzt also auf Aufklärung. Ist das nicht zu wenig?

„Wir hatten noch nie so viele Schwerbehinderte in Beschäftigung wie heute. Das ist doch ein Erfolg.“

Das gilt nicht für die Werkstätten.

„Da würde ich gemeinsam mit den Gewerkschaften daran arbeiten. Natürlich ist es ein Problem, dass wir in Deutschland noch nicht in der Lage sind, jedem behinderten Menschen eine Beschäftigung zu ermöglichen. Daran müssen wir arbeiten. Aber ohne Peitsche. Wir müssen stattdessen beharrlich fragen: In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Und dementsprechend handeln.“

Duygu Özen hört nicht auf zu fragen. Und hat endlich damit Erfolg: Im Wedding, bei „KOPF, HAND + FUSS“, beugt sie sich mit ihrer Assistentin über einen Text und prüft ihn auf seine leichte Sprache. „Was bedeutet nochmal ‚domain‘?“, murmelt sie, schnippt dann mit der rechten Hand: „Ach, wem die Mailadresse gehört … das Wort gefällt mir.“ Die Räder ihres Rollstuhls ziert ein still züngelndes Flammenmuster. Özen hat gewonnen: Die Agentur für Arbeit hat eingewilligt, die nächsten zwei Jahre wird sie hier lernen – und nicht in einer Werkstatt. Vielleicht waren es die 35.752 Unterschriften ihrer Petition, „die von der Agentur schauten sich jedenfalls endlich das hier an und fanden das gut“, sagt sie. Vom Flur zieht Kaffeeduft heran, dort diskutieren zwei Entwickler ein neues Videoformat; in Özens Handtasche liegt ein Marmorkuchen, den teilt sie sich in der Pause mit ihrer Assistentin, „aber noch nicht, wir müssen erst hier durch“, sagt sie, behält den Blick auf das Blatt Papier und stockt: „‘Alleinstellungsmerkmal‘? Was ist das denn? Klingt blöd.“

Zuhause angekommen, setzte sich Jürgen Heider in seinen Drehstuhl mit dem Fell drüber und ließ ausgestreckte Finger über die schwarze Tastatur wandern, jeder Buchstabe ein Stoß. Ein neues Gedicht wollte er auf den Bildschirm bringen, „beim Schreiben fühle ich mich frei“, sagte er, „da bin ich ruhig und schnell zugleich“. Es gibt keinen Ausgang aus dieser Welt / die lauter düstere Paragrafen hat, heißt es in seinen Versen, Keiner kann dein Leben für dich leben – außer du.

In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?