Zeitenspiegel Reportagen

Johnny Ohneland

Erschienen in "Frankfurter Rundschau", 11. Mai 2016

Von Autor Jan Rübel

Einmal Berlin und zurück: Mit fünf Jahren kommt Johnny aus Uganda nach Deutschland und wächst in Heimen auf. Er fühlt sich zu Hause. Dann vergewaltigt er ein Mädchen und wird nach einer Haftstrafe abgeschoben. Notizen einer Heimatsuche.

Was ist Recht? Wird ihm Geltung verschafft dadurch, dass Johnny jetzt vor seinem Haus die Beine ausstreckt, auf einer Art Betonveranda, groß wie ein Doppelbett, und sich sein Glück um ihn schart? Da ist sein Sohn Adam, ein zweijähriger Haudrauf, der auf ihm turnt, und Mayla, sechs, sie schaut ihn oft an wie einen Schatz. Und Jane, die Liebe, die ihn ruhig macht. Sein kleiner Mann im Ohr klopft schon lang nicht mehr, hier am Rande einer Kleinstadt nahe Kampala, der ugandischen Metropole.

Dass er hier ist und nicht woanders, hat einmal Recht entschieden. Johnnys Geschichte ist eine von schwerer Schuld und der Frage, wie man sie ahndet, welche Relevanz der Pass hat, den man in der Tasche trägt. Und von der Suche danach, was das ist: eine Heimat, ein Zuhause. Johnnys Leben in Deutschland endete mit dem KLM-Flug 1822 nach Entebbe über Amsterdam. Es hatte begonnen, als er aus Uganda fliehen musste, da war er fünf Jahre alt. Gemeinsam mit drei Schwestern und einem Bruder erreichte er 1993 Berlin. Ihre Tante, die sie an Stelle der Eltern begleitete, starb zwei Wochen später an Malaria. Alle fünf Kinder kamen ins Heim.

In Uganda hatten sie ihre todkranke Mutter zurückgelassen. Der Vater starb im Gefängnis. Einst im Präsidialbüro des Diktators Idi Amin tätig, hatte er sich später der Opposition angeschlossen. Soldaten plünderten das Haus der Familie, es geschahen schlimme Dinge. In Deutschland beantragten die fünf Geschwister politisches Asyl. Das Bundesamt lehnte ab: „Der stereotypische und verallgemeinernde Sachvortrag … lässt bei der auffälligen Häufung angeblicher Zufälligkeiten begründete Zweifel aufkommen“, schrieb der Sachbearbeiter. Die fünf klagten. Ein Urteil wurde über Jahre hinweg verschleppt.

„Das war mir alles egal“, sagt Johnny. Er saugt an einem Strohhalm, es ist ein warmtrockener Tag im Jahr 2015. Es riecht nach gemähtem Gras. In Wirklichkeit heißt er nicht Johnny, er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. „In der Grundschule sang ich die deutsche Nationalhymne. Niemand sagte mir, es gebe für mich eine andere, eine Asylantenhymne.“ Johnny ließ sich nicht viel sagen. Er war zehn Jahre alt, da passierte etwas. Johnny wollte stark sein, respektiert, gefürchtet. Aber oft war ihm schwer zumute, als sitze ein Alb auf seiner Brust. Psychologen nennen es Persönlichkeitskrise. Er erkannte nicht seinen Weg und seinen Wert. Das riss an ihm.

Regeln benutzte er, um sie zu brechen. Ihm passte nicht die Schlusszeit im Heim, nicht die Essenszeit und noch weniger der Putzplan. Mit den Kindern verstand er sich gut, aber bei den Betreuern eckte er an. „Ich misstraute ihnen.“ Er wechselte die Heime, irgendwann schmiss ihn immer ein Betreuer raus. Zuhause fühlte er sich nirgendwo. Seine Wut wuchs, schnell regte er sich auf. Seine Strafakte wegen Prügeleien schwoll an. „Ich hatte viele Flausen“, sagt er. Die Ehre, das Ansehen. Beides erboxte er sich auf der Straße.

Johnny geriet auf die schiefe Bahn. Dann entdeckte er die Drogen. Im Märkischen Viertel in Berlin hatte Johnny mehrere „Läufer“, sie brachten Cannabis und Kokain für ihn unters Volk. Mehrere 1000 Euro verdiente Johnny so im Monat; er gab sie schnell wieder aus. Über seinen Status als „Ausländer“ machte er sich keine Gedanken. Er fühlte sich deutsch. Was sonst? Am 19. Februar 2005 feierte Johnny seinen 18. Geburtstag. Zwei Monate später nahmen er und seine Geschwister die Asylklage zurück – ihre Betreuer erhofften sich für sie dadurch einen besseren Flüchtlingsstatus.

Einen Monat später drehte er durch. Er vergewaltigte ein Mädchen, sie war 16 Jahre alt. Er nennt es nicht so, aber an seiner Grausamkeit ändert das nichts. „Die deponierte für mich Drogen“, erzählt er. „Und sie aß alles selbst auf.“ Das Mädchen sagte aus, die Schöffen verurteilten ihn zu zweieinhalb Jahren Jugendhaft. Sie waren überzeugt, dass Johnny das Mädchen mit Gewalt und Drohungen zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte. Er saß seine Strafe in der Jugendstrafanstalt Plötzensee ab. Zum ersten Mal fühlte er sich ruhig. Er machte im Gefängnis den erweiterten Hauptschulabschluss und einen Computerkurs. Erstmals unterzog er sich einer Psychotherapie, die tat ihm gut. Dann kam ein Brief mit dem Abschiebungsbescheid. Als er ihn las, fühlte er sich plötzlich hohl.

Über zwei Jahre Jugendhaft rechtfertigen die Abschiebung von Geduldeten. Seit der Einstellung seiner Asylklage war Johnny nur „geduldet“. So kam er nach den zweieinhalb Jahren hinter Gittern in Abschiebehaft. Die Begründung der Ausländerbehörde liest sich so: Er sei „offensichtlich auch weiterhin nicht gewillt, sich gesetzeskonform zu verhalten. So erklärte er auf Befragung am 19.09.05, dass er mit seiner Abschiebung nicht einverstanden ist“.

Jahrelang hatten sich Johnny und seine Geschwister bei der ugandischen Botschaft in Berlin um Papiere bemüht. Mit ihnen hätten sie ihren Aufenthalt gesichert. Zigmal hatten sie Briefe geschrieben oder in der Botschaft vorgesprochen. Stets hatten sich die Diplomaten geweigert, die Abstammung zu bestätigen, weil die Jugendlichen keine ugandische Sprache sprächen. Dabei bleibt die Botschaft bis heute – mit einer Ausnahme: Als Johnny einsaß, bestätigte sie Johnnys ugandische Staatsbürgerschaft. Hätte sie das nicht getan, hätten die deutschen Behörden ihn nicht abschieben dürfen. All die Jahre galt er als staatenlos. Doch nun war der Weg frei.

Die beiden Polizeibeamten, die ihn beim Flug eskortierten, waren freundlich. Sie unterhielten sich mit ihm und scherzten, beim Zwischenstopp in Amsterdam spendierten sie Johnny ein Bier. In Entebbe aber musste er in eine Zelle, acht Quadratmeter groß, zusammen mit zwölf anderen Insassen und zwei Eimern, einem für Urin, einem für den Kot. Die Polizei in Uganda wusste nichts mit Johnny anzufangen. Sie steckte ihn in den Knast. Er verbrachte zwei Wochen im ugandischen Polizeigefängnis. Er erkrankte an Malaria, vertrug das Essen nicht und verstand niemanden. Eines Tages besuchte ihn Morris Kizito ihn in seiner Zelle. Johnnys Anwalt in Berlin hatte eine ugandische Menschenrechtsorganisation alarmiert. Ratlos fragten die Menschenrechtler herum – und landeten bei Kizito, Gründer von „Mission after Custody“ (MAC), einer ugandischen Gefangenen-Selbsthilfegruppe. Ein Zusammenschluss von Ex-Häftlingen, die sich gegenseitig helfen. Der Mittvierziger wurde sein Erzieher. Johnny macht immer, was Morris Kizito ihm sagt.

Gemeinsam mit anderen Ex-Häftlingen besuchte Johnny Gefängnisse, verteilte Decken. Seine MAC-Mitstreiter klärten dabei Insassen und Wärter über ihre Rechte auf, Johnny stand daneben und verstand kein Wort. Aber er hatte ein Bett und Essen. Er lebte wie die anderen MAC-Leute mit Kizitos Familie in einem Rohbau mit Wellblechdach. Das Geld zur Fertigstellung seines Wohnhauses investierte Kizito in die Hilfsorganisation. Ein bezahlter Job war für Johnny nicht in Sicht.

Eines Tages schleppte Kizito Johnny in ein Fernsehstudio nach Kampala. Da rappte Johnny auf Deutsch, über den Gefängnisalltag in Plötzensee und über die Straßen in Berlin. Und fragte, ob jemand seine Familie kennt. Schon dreimal war er im Fernsehen. Eine kleine Berühmtheit war er mittlerweile in Uganda. Gemeldet hat sich aber keiner. Nur einmal kam eine Dorfdelegation aus dem Dschungel, die vier Männer wollten ihn mitnehmen. Ihr Stammesältester könne mit Hilfe von Geistern Johnny zu seiner Familie bringen, sagten sie. Und dann waren da noch diese zwei deutschsprachigen Weißen. Sie hatten sich in einem Nobelhotel in Kampala eingemietet und riefen Johnny zu sich. Eine Woche lang hingen sie mit ihm ab, kauften Johnny Jeanshosen und Sportschuhe. Sie hätten gesagt, sie könnten ihn illegal wieder nach Deutschland bringen, erzählte er. Dann waren sie plötzlich verschwunden.

Die Jahre vergehen. Die Vergangenheit in Deutschland verwandelte sich in ein fernes Reich. Diesen Schleier, entschied Johnny irgendwann, müsse er wegziehen, nicht mehr damit hadern, die Uhr nicht zurückdrehen zu können. Er entdeckte seinen Unternehmergeist neu. Aus Kizitos Haus ist er ausgezogen, arbeitet als Deutschlehrer und verkauft auf der Straße Telefonkarten. 15 Kilometer läuft er jeden Tag. Und er hat Luganda gelernt, die Hauptsprache im zentralen Uganda. Berlinern tut er immer noch. Heute aber, unter einer Abendsonne 2015, strebt er zielsicher nach Hause. Die Kinder sollen ins Bett. „Meine wachsen deutsch auf“, sagt er und schaut streng. Deutsch heißt für Johnny: Mayla und Adam halten Mittagsschlaf, hören eine Gutenachtgeschichte und müssen um acht ins Bett. „Solche Regeln gelten für Kinder hier sonst nicht. Man kümmert sich weniger um sie.“ Regeln? Hasste er sie früher nicht? Johnny zuckt mit den Achseln.

Es ist, als verblasse Deutschland, schimmere durch in Erinnerungen an Schwarzbrot und an den Bolzplatz. Daran, dass auch die Reise nach Deutschland als kleiner Junge so etwas wie eine Abschiebung war. Und dass er in Uganda gerade etwas findet, was vorher nie da war: Halt. Auf der Veranda erwidert Jane seinen Feuerblick. Über Freunde haben sie sich kennen gelernt, verliebten sich sofort. Da hatte er schon Mayla, von einer anderen Frau. Geklappt hatte es nicht zwischen den beiden, die Tochter kam zu ihm. Eine Familie hat Johnny sich nun geschaffen, lebt mit ihr von heute auf morgen, für mehr reichen die Einnahmen nicht. Johnny ist angekommen, zumindest in einem Basislager; eines ohne Papiere, als ugandischer Staatsbürger gilt er hier nicht. Vor einem halben Jahr ist er bei einer Razzia in einem Reisebus festgenommen worden. Man hielt ihn für einen illegalen Gastarbeiter aus Nigeria.

Vor einem Berliner Gericht hatte Johnny vor einigen Jahren Klage eingereicht, gegen seine unbefristete Einreisesperre. Solch eine kommt in Betracht, wenn man eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Das Verfahren zieht sich hin, seit Monaten lässt die Stellungnahme der Ausländerbehörde auf sich warten. Johnny geht derweil das Geld aus, der Anwalt habe gedroht, sagt er, sein Mandat niederzulegen. Und, will er denn zurück? Johnny macht zu, sein Blick verliert sich in den Ästen des Affenbrotbaums gegenüber.

Wochen später, zurück in Deutschland dann plötzlich eine Mail von Johnnys Anwalt. „Die Ausländerbehörde hat die Einreisesperre auf den heutigen Tag befristet, Johnny kann also wieder nach Deutschland einreisen, wenn er ein Visum erhält“, schreibt er. Die Nachricht trifft Johnny unvorbereitet. Am Telefon ist er erstmal still. Dann, nach einer Weile: „Und, was habe ich davon?“ Nach Deutschland wolle er nicht mehr, vielleicht mal zum Besuch seiner Geschwister. Es hört sich an wie enttäuschte Liebe. Wie eine Klage gegen Deutschland, die er gewann. Deutschland und Johnny, das wird keine Lovestory mehr. Mal wirken beide so nah beieinander. Und mal liegen mehr als die 6081 Kilometer Luftlinie zwischen Berlin und Kampala. Im Herbst 2015 streitet Deutschland um Flüchtlinge. Man ringt um den richtigen Umgang mit ihnen. Unterkünfte werden angezündet, Naziparolen gegrölt, aber auch viele ehrenamtliche Helfer mühen sich um ein echtes Willkommen. In Deutschland geht es um die Chance, schreiben die Satiriker Jan Böhmermann und Klaas Heuriger-Umlauf, „uns ausnahmsweise mal nicht wie Arschlöcher zu benehmen“. Eine kurze Nachricht von Johnny über „WhatsApp“, er ist bei Kilometer neun seiner täglichen Straßenwanderung, er hustet gelbbraunen Staub in ein Tuch, es ist ein verdammter Tag – nur zwei SIM-Cards verkauft, reicht es für den Reis, den er auf dem Rückweg besorgen muss? Er schickt rüber: „Hat Deutschland mal wieder zu viele Flüchtlinge aufgenommen?“

„Die Gerechtigkeit ist die zweite große Aufgabe des Rechts“, sagte einmal Gustav Radbruch, Rechtsphilosoph und Reichsjustizminister in der Weimarer Republik. „Die erste aber ist die Rechtssicherheit, der Friede.“ Diesen Frieden hat sich Deutschland teuer erkauft. Und die Rechnung anderen zugestellt.