Zeitenspiegel Reportagen

Land der Gottesfürchtigen

Erschienen in "Neue Zürcher Zeitung", 10. November 2015

Von Autor Jan Rübel

Ein „Bible Belt“ erstreckt sich nicht nur in den USA, sondern auch im Süden Sachsens. Wächst dort eine deutsche Tea-Party-Bewegung heran? Ein Reisebericht.

Der Prediger malt die Welt in wenigen Strichen. „Wir dürfen unser Verhalten nicht von den Gegnern bestimmen lassen“, ruft Ulrich Parzany. Rechts thront das Bundeskanzleramt, vor ihm 5000 Demonstranten. In seinem rhetorischen Dreisatz setzt er die weiteren zwei Tupfer. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden“, zitiert er den Römerbrief der Bibel. Und: „Jesus hat am Kreuz für seine Feinde gebetet!“

Ein Tag im Herbst. Gegner, das Böse, Feindesliebe – in wenigen Sekunden verschwimmen die Begriffe ineinander, hier auf dem „Marsch für das Leben“ in Berlin; eine Demonstration von Christen zeitgleich mit dem „Marsch für s’Läbe“ in Zürich. Es geht um Teufelszeug wie Abtreibung und Sterbehilfe, „schützen Sie das Recht auf Leben. Töten ist niemals eine Lösung“, ruft ein Redner Angela Merkel in Richtung Kanzleramt zu. Doch die lässt sich nicht blicken. Auch nicht da sind die Bischöfe der großen evangelisch-lutherischen Landeskirchen, und das macht Ulrich Parzany sauer. „Ich bin enttäuscht, dass die evangelischen Kirchenleitungen nicht eindeutig hinter diesem Tag mit ihrer Zustimmung stehen.“

Geht es um Abtreibung und Sterbehilfe, machen konservative Christen wie Parzany, der langjährige CVJM-Generalsekretär, Politik. Dann ist der Glaube nicht mehr Privatsache. Doch der Pastor irrt an einem Punkt: Zwei Landesbischöfe haben Grussworte an den „Marsch für das Leben“ verfasst – Frank Otfried July aus Württemberg und Carsten Rentzing aus Sachsen. Letzterer ist erst seit Ende August im Amt. Carsten Rentzing gilt als Shootingstar unter konservativen Christen, der erst 48-Jährige erscheint als Hoffnungsträger fundamentalistisch orientierter Gemeinden. Er wirkte bisher als Pfarrer in einer einzigartigen Gegend – dem „Bible Belt“ Deutschlands zwischen Vogtland und Erzgebirge im südlichen Sachsen. Dort leben viele Einwohner in einer Einheit aus Glaube, Moral, wörtlichem Bibelverständnis und Familie. Und besonders viele Demonstranten haben sich für heute aus Sachsen nach Berlin aufgemacht; ein Fünftel aller lutherischen Gemeinden im Bundesland gelten als fromm-pietistisch.

Den „Bible Belt“ kennt man eigentlich aus den USA, wo sich in den Südstaaten ein evangelikaler Protestantismus erstreckt, der tief in die Politik einwirkt; er ist auch Herzland der konservativen Tea-Party-Protestbewegung. Der sächsische Bibelgürtel feiert derweil seine Wiederentdeckung eines rigorosen Traditionalismus. Was für eine Gegend ist das? Wächst dort wie in den USA ein Gegentypus zur Gesellschaft, eine deutsche Tea-Party-Bewegung heran?

Der Wagen durchfährt toskanisch anmutende Hügelketten, sanft schimmern sie in der Nachmittagssonne. Wo sich indes Wälder auftürmen und das Licht bricht, wird es kalt. Der Winter naht. Links und rechts von der Straße wandert der Blick hinein in dichte Baumreihen wie in ein schwarzes Loch. Aus den Autolautsprechern dringt „Radio Erzgebirge“, ein Privatsender mit den „Hits der 60er, 70er und 80er Jahre“, aber jetzt laufen die wöchentlichen „Impulse über Gott und die Welt“. „Wer betet“, sagt die Stimme, „der geht keinem Rattenfänger auf den Leim“. In den Dörfern hier sind die Pfarrer noch eine echte Autorität, nicht nur geistliche Anliegen trägt man an sie heran. Die Kirchen sind sonntags doppelt so voll wie im übrigen Sachsen, und die Lokalzeitung druckt die Predigt am Montag. In den Ortschaften mit ihren aus schroffem Stein gehauenen Häusern und Ziertannen davor ist alles in einer Ordnung.

Im 4000 Seelen zählenden Crottendorf zum Eingang des Zschopautals öffnet ein Mann mit Vollbart die Tür zur „Landeskirchlichen Gemeinschaft“ (LKG). Es dunkelt. Die 40 Gläubigen begrüßen sich vor der „Gemeinschaftsstunde“ per Handschlag. „Das Erzgebirge war schon immer fromm“, sagt Matthias Weiss, der Bezirksleiter der LKG. Die LKG sind eigenständige Gruppen und gehören zur evangelischen Gemeinschaftsbewegung, einer pietistischen Aufbruchsbewegung, die im 19. Jahrhundert eine Reihe von Kirchen in Deutschland und in der Schweiz erfasste. Meist arbeiten die LKG unabhängig von den grossen lutherischen Landeskirchen; in Sachsen aber sind sie eng mit den lutherischen Gemeinden verzahnt. Sie gehören dazu. „Über Jahrhunderte wurde hier Bergbau betrieben“, sagt Matthias Weiss. „Durch dessen Gefahren war man Gott näher. Und der Druck während des DDR-Regimes schweisste zusammen.“

In Crottendorf gibt es drei evangelische Kirchen, eine Manufaktur für Räucherkerzen und eine für Modelleisenbahnen. Die Plätze im Gemeinderat teilen sich wertorientierte „Freie Wähler“ mit der CDU. SPD, Grüne oder Linke traten bei den letzten Wahlen 2014 nicht an. Das Erzgebirge bildet mit vielen kleinen Firmen einen wichtigen Standort im nicht armen Sachsen, die Wohneigentumsquote ist überdurchschnittlich hoch. Im Erzgebirge steht Tradition hoch im Kurs.

In seiner Predigt erinnert Matthias Weiss an die Ahnen der Pietisten von heute. „Sie hatten schlichte schwarz-weisse Trachten, weil sie andere, innere Werte gefunden hatten“, ruft er. „Verdammen wir nicht die Vorderen!“ Er selbst, im Hauptberuf Elektriker in einer 150 Jahre alten Wassermühle, trägt ein dickes, graues Stoffjackett zum Silberbart.

Was manchem wie aus der Zeit gefallen wirkt, hat im Bibelgürtel Erfolg. Die Gemeinden sind lebendiger als andere. Spirituellen Bedürfnissen geben sie grösseren Raum als Gemeinden, in denen sich die Jugend erstmal um den Eine-Welt-Laden schart. Wer Wertepluralismus für Orientierungslosigkeit hält, fühlt sich hier aufgehoben. Das spüren die grossen Kirchen, im Dachverband der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verzeichnen die Konservativen Geländegewinne. In Sachsen übte sich die Kirche lange in einer Appeasement-Politik gegenüber ihrem pietistischen Flügel; bis der mit Carsten Rentzing nun selbst in der Dresdner Kanzlei sitzt. „Das ist unser Mann“, hatte Prediger Weiss vor der Gemeinschaftsstunde gesagt. „Aber an solcher Stelle hat ein klarer Mann einen schweren Stand.“ Die Gegenseite sei wenig tolerant und verfahre oft unfair. Weiss meint die Liberalen in der Kirche, seit Jahren kommt ein Streit in Sachsen nicht zur Ruhe: ob homosexuelle Pfarrer mit ihren Partnern im Pfarrhaus leben dürfen. In allen anderen Bundesländern kein Problem. In Sachsen dagegen haben die Konservativen durchgesetzt, dass die Kirche bei der alten Regelung bleibt – und schwule oder lesbische Paare nur in Ausnahmefällen und mit Genehmigung der Gemeinde im Pfarrhaus leben dürfen. In Crottendorf hat man eine klare Haltung. Matthias Weiss: „Man kann ja auch keinen Unmusikalischen zum Musiklehrer machen.“

Was die Erzgebirger aber derzeit am meisten bewegt, ist die Flüchtlingsdebatte. Wie überall in Deutschland, kommen Flüchtlinge aus Syrien oder Afrika auch im Bible Belt an. In Sachsen gilt die Faustregel: je frommer eine Region, desto stärker die CDU. In den pietistisch geprägten Kommunen kommen die Christdemokraten teilweise auf 60 Prozent der Wählerstimmen. Migration verändert eine Gesellschaft – wie stellt sich die CDU, wie stellen sich die konservativen Christen in ihrer Suche nach einem Idyll all dem?

55 Kilometer westlich von Crottendorf zeigt sich Frank Vogel gezeichnet von den vergangenen drei Stunden. Die Hände in den Hosentaschen und den Blick gesenkt, mag er jetzt nicht mehr sitzen. Nicht nach diesem Mitgliederforum der CDU in Oelsnitz, einem 10.000-Einwohner-Städtchen im Vogtland. „Das Erzgebirge ist schon ein Versuch, ein konservatives Alternativmodell zum Mainstream in Deutschland zu erhalten und zu schaffen“, sagt der Landrat und CDU-Vorsitzende des Kreisverbands Erzgebirge und lehnt sich an einen Tisch. Gegrillt hatten ihn die geladenen Mitglieder, es ging fast ausschließlich um Flüchtlinge. Es ist 22 Uhr. „Es gab kritische, aber keine aggressiven Fragen“, berichtet Vogel; die Veranstaltung war nicht öffentlich. Merkels Entscheidung, die Grenzen zu Ungarn zu öffnen, sei missbilligt worden, ja. „Aber es wurde lediglich praktisch gefragt, wo das alles hinführen werde.“

Draußen auf den Fluren der Stadthalle werden andere deutlicher. „Die Leute haben einfach nur Angst“, sagt eine Dame in tiefblauem Kostüm. „Die Flüchtlinge bringen andere Kulturen mit, die unsere eigene verschwinden lassen.“ Ihr Mann unterbricht: „Wir wollen weiterleben wie gewohnt. Wir wollen die nicht.“ Schon im März, also lange vor Grenzöffnung und „Willkommenskultur“, hatte die Erzgebirger CDU in einer „Seiffener Erklärung“ betont: „Die Belastungsgrenze zur Aufnahme von Asylbewerbern im Landkreis ist erreicht.“ Diese werden in Deutschland nach einer Quote gleichmäßig verteilt; Klagen aus anderen Kommunen gab es zu der Zeit kaum. Sachsens CDU fährt in der Gesamtpartei einen Sonderkurs. Die Pflege des rechten Randes hat man sich auf die Fahne geschrieben. Schon vor zehn Jahren wünschten sich Parteistrategen „positive nationale Wallungen“. Sie erhielten vor einem Jahr Pegida-Demonstrationen „gegen den Untergang des Abendlandes“, die in diesen Tagen in Sachsen wieder mit Tausenden Teilnehmern aufleben. Ministerpräsident Tillich indes markierte seinen Standpunkt, der Islam gehöre nicht zu Sachsen. Und CDU-Fraktionschef Frank Kupfer vor einem Monat im Landtag: „Die muslimische Religion ist keine Religion, die in Sachsen eine Heimat hat.“

Inmitten genau dieser Gemengelage, zwischen Ängsten und Ablehnungen in der Bevölkerung einerseits und einem rechtskonservativen Kurs der christlichen Volkspartei andererseits, ruckelt Matthias Weiss am Mikro auf der Kanzel aus Schnittholz. Klopft leise, wie für sich, mit den Handknöcheln aufs Pult.

„Bei der Arbeit höre ich Gespräche über Asylanten“, sagt er unvermittelt in seiner Predigt, sie handelt eigentlich davon, wie schlecht es Adam allein im Paradies erging, „da erschrecke ich über den harten Ton der Ablehnung“. Im Erzgebirge siedelten nach dem Zweiten Weltkrieg viele Flüchtlinge aus dem Osten. Man weiss, wovon man spricht. Und die Gemeindehäuser der konservativsten Gemeinden waren nun die ersten, die sich für Flüchtlinge aus aller Welt öffneten. „Nehmt einander an. Nehmt die Muslime an. Auch sie sind von Gott geliebt und brauchen uns. Macht die Mauern löchrig!“, ruft Weiss. „Durch wie viele Gemeinden geht ein Riss?“ Die Saalwände strahlen nackt minzgrün, nur ein schmales Holzkreuz hinterm Pult wagt sich hervor.

Minzgrün sind auch die Pilaster im Altar der Dresdner Frauenkirche, 80 Kilometer nördlich von Crottendorf. Ansonsten hat der üppige Dresdner Barock mit seinen goldenen Sonnenstrahlen und Puttenflügeln nichts gemein mit dem erzgebirgischen Gemeinschaftshaus. Nur wenige Schritte sind es von hier zur Bischofskanzlei, vorbei an prächtigen Patrizierbauten mit Fenstern über Fenstern. In Crottendorf schmiegen sich die Häuser an den Hang. In Dresden sonnen sie an sich selbst. In der Rampischen Straße schließlich, nach dem „Gin House“ und der „champagner bar“, ein schlichtes Bürgerhaus. Im ersten Stock sitzt der Mann, an dem sich die Geister scheiden, hinter einem mächtigen leeren Schreibtisch. „Ich habe gerade schnell aufgeräumt“, sagt er. Carsten Rentzing verdankt dem Thema Homosexualität seine Karriere – schrieb jüngst „Die Zeit“. „Die Bibel sagt“, hatte er selbst wenige Tage zuvor in „Die Welt“ gemeint, „dass die homosexuelle Lebensweise nicht dem Willen Gottes entspricht.“

Mit nur einer Stimme Vorsprung hatte sich Renzing in der Stichwahl zum Landesbischof durchgesetzt, nach sechs Wahlgängen, „man hatte mich bedrängt zu kandidieren“. Es waren welche, die in sich und allen anderen eine große Erlösungsbedürftigkeit sehen. Die meinen, ohne Gnade Gottes sei der Mensch arm dran. Die sich nach Trennscheiden sehnen im Leben, um nichts falsch zu machen. Und für die, unter anderem, schwules Leben ins Kröpfchen gehört. Rentzings Trennscheide ist die Bibel, die ist für konservative Christen wie ihn maßgebliche Quelle, „Gottes- und Menschenwort“. Und die Gedanken des vor 2000 Jahren geborenen Paulus von Tarsus sind für ihn maßgeblich auch heute? Der damals meinte, gelebte Homosexualität sei Folge der „Erbsünde“?

„Es ist der Apostel. Auf ihn baut die gesamte Kirche.“

War er nicht Kind seiner Zeit, und letztlich ein Mensch wie wir alle?

„Ohne ihn sähe alles anders aus, auch Dresdens Altstadt hier.“

Der Blick aus Rentzings Büro schweift über eine große Baugrube gegenüber. Neue Häuser sollen hier bald stehen. Was hat Paulus damit zu tun?

Die blassblauen Augen des Bischofs strahlen selbst, als er traurig dreinschaut. „Es geht nicht anders. Ich bin für die Verkündigung des Wortes Gottes zuständig.“

Aber selbst wenn die Bibelauslegung es verlangte – stört es ihn nicht, dass man nicht homophob sein muss, um homophob zu wirken?

Er stockt. „Ja, das tut weh. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich das beiseiteschieben könnte.“ Erzählt von einem langjährigen engen schwulen Freund, davon, dass er nie verstanden habe, warum Gläubige gegen das Lebenspartnerschaftsgesetz opponierten. „Ich war nie gegen eine rechtliche Gleichstellung mit der Ehe. Eine gegenseitige Stützung zweier Menschen sollte doch gefördert werden.“ Nur im Pfarrhaus, da solle das nicht sein. „Das Pfarrhaus ist wie die Kanzel – ein Brennglas für die Gemeinde.“

Rentzing ist ein Spätberufener. Erst mit Anfang 20 entdeckte er den Glauben, fing an in der Bibel zu lesen. Ihr entnimmt er die Ziegel für jene unsichtbaren Mauern, die er zieht; eine mit Löchern: „Es gibt noch so viele andere Themen, die werden von der Pfarrhausdebatte überlagert.“ Der Umgang mit Flüchtlingen und mit dem Islam zum Beispiel, der nervt den gebürtigen Spandauer in Sachsen. „Der Islam ist längst in Sachsen angekommen“, sagt er mit Blick auf die CDU, „die Frage, ob da etwas passt, ist eine Scheinfrage und führt zu einer Scheindebatte“.

Draußen zieht ein Schwarm Gänse vorbei. Der Bible Belt mag schräg daherkommen. Aber bei wichtigen Fragen wie dem Umgang mit Flüchtlingen und Islam sind seine Vertreter moderner als ihre Nachbarn. Die Welt verlangt doch mehr als einen, zwei Pinselstriche. Zu viele Gegensätze - und ein geistliches, in sich gekehrtes Grundschwingen, das den Bible Belt kaum verlassen mag. So wird das nichts mit einer deutschen Tea Party.