Zeitenspiegel Reportagen

Man spricht Deutsch

Erschienen am 6. Januar 2013 in der FAS

Von Fotograf Frank Schultze und Autor Jan Rübel

In einem Café treffen sich alte Menschen, erzählen Witze, hören Musik und streiten sich. Sie reden über Bienenstich und Birkenau.

Drei Damen an Tisch 3 beugen sich über den Bienenstich, „geht gar nicht“, sagt die eine. „Für die Mandeln braucht man eine Lupe“, seufzt die zweite. Und die dritte ordnet ihren bronzefarbenen Seidenschal, sie hebt an zu einer Rede über fingerdicken Hefeteig und Karamell: „Nur ein kleiner Schuss Honig, unbedingt!“ Von drüben, dem anderen Saaleck, schwebt der ungarische Csárdás aus einem Akkordeon der Marke „Weltmeister“ heran. Wie leise er klingt. Das alte Volkslied streicht über die Köpfe an den vier langen Tischen hinweg, verliert sich unter der vier Meter hohen Holzdecke mit ihren Intarsien und geschnitzten Kuppeln.

„Auf dem Transport haben wir auch ständig über Kuchenrezepte geredet, so einen Hunger hatten wir“, fällt Nora O., 88, ein. „Wir auch“, sagt Lilly M., 89. Beide stammen aus einem kleinen Dorf in Ostpolen, „in Birkenau habe ich dich dann aber gar nicht gesehen“, sagt Nora O., sie hält eine kleine Gabel hoch. „Dabei standen wir beide im Stau.“ Sie hatten schon die Haare geschoren, warteten vor der Gaskammer. Doch die war voll, es ging wieder zurück in die Baracken. „In Bergen-Belsen erst haben wir uns getroffen.“ Eine Tasse klirrt. Von rechts beugt sich eine Dame vor, die Wangen gerötet: „Könnten Sie mal anderes bereden als Kuchenrezepte?“

Dieses Café ist anders. Es ist wie ein exklusiver Klub, nur hat niemand hier die Mitgliedschaft gewollt; der Preis ist hoch. Hastig nippt ein Mann mit Kahlkopf an seiner Tasse, er schaut zur Garderobe. Als suche er etwas. Es riecht nach herbem Kaffee. Seinen Namen behält dieser kleine, kräftige Mann mit kleinen, blitzenden Augen für sich. „Interessiert doch nicht“, sagt er, mag kaum darüber reden, dass er nicht polizeilich gemeldet ist, seit Jahrzehnten. Dass ihn Erspartes schützt, aber keine Krankenversicherung. Die Leute hier im Café kennen nur seine Postfachadresse. Auf einer Liste will er niemals mehr stehen.

Die Gäste nennen diesen Ort einfach: „Treffpunkt“. Zärtlich streift im Vorbeigehen ein Herr mit seiner linken Hand die Schulter einer Dame am Tisch der „Golden Girls“, dort sind die besonders elegant Gekleideten. Gegenüber, an Tisch 2, sitzt Siegfried A. und schaut zu. „Der macht Schiddech“, lächelt er, „der sucht sich eine Frau“. Siegfried A. ist 89 Jahre alt, er stützt sich im Sitzen auf einen Stock. Wie jedes Mal hat er zum Besuch des „Treffpunkt“ sein weißes Hemd gebügelt, den waldgrünen Einreiher aus der Plastikschutzhülle geholt und sich eine Krawatte doppelt geknotet. Er schiebt sein Kinn vor und erzählt erstmal einen Witz: „Schmuel, was hast du im Radiogebäude gemacht?“ “Mi-mich u-um die Sch-sch-schtelle des A-Ansagers beworben“. “Und, hast du sie bekommen?“ „Nein, d-das s-sind a-alles A-a-antisemiten!“

Siegfried A. erzählt gern Witze, besonders, wenn es Ärger gab, danach fühlt er sich besser. „Heute Vormittag habe ich mit meinem Nachbarn geplaudert. Der erzählte von seiner Bandscheiben-OP und sagte: ‚Ich wusste doch immer, dass die jüdischen Ärzte die besten sind.’“ Da passe er dann auf, „warum sagt er mir das? Ist das jetzt antisemitisch, oder spinne ich?“

Elf Muttersprachen ließen sich hier hören, aber gesprochen wird zumeist Deutsch. „Hier muss ich nichts erklären“, sagt Siegfried A., „hier wissen alle Bescheid“. An den Tischen beugen sie sich vor, man schmunzelt – ein leiser Stimmenrausch legt sich auf die Musik. Siegried A. wuchtet sich aus dem Stuhl, legt sanft seine beiden Zeigefinger auf den Tisch. Die braune Hornbrille weitet seine Augen. „Wollen wir tanzen, gnä’ Frau?“, blinzelt er seine Frau an. Anna A. lacht auf. Nein, die Beine tragen ihn nur schwer, zu schwer für die hastige Polka, die das Akkordeon gerade anschlägt. Aber seine Grübchen entlang der Mundwinkel machen alles leicht, entzaubern ihr im Nu ein Lächeln. Wie damals, als sie sich beim Tanzen kennen lernten, es war 1951. Siegfried A. schaut sie immer noch tief an, „na, mein Liebchen, das ist so“. „Was?“ „Alles ist so.“

Rund vier Dutzend sitzen heute an den Tischen, „seit vergangener Woche sind fünf Stammgäste verstorben“, sagt Siegfried A. über den Tisch hinweg. Selten geht die Kundschaft noch außer Haus, zum Einkaufen oder zum Arzt; ihre Partner meist verstorben, die Kinder im Ausland. Und wenn die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden ihren „Treffpunkt“ jeden Mittwochnachmittag in der Frankfurter Gründerzeitvilla öffnet, ist er für viele ein Highlight. Insgesamt rund 40.000 jüdische Überlebende des Holocaust gibt es in Deutschland – eine Schätzung der Gemeinden, denn die deutsche Bürokratie erfasst sie nicht. Überhaupt weiß man nicht viel über sie. Eine einzige Studie etwa gibt es in Deutschland, sie stammt aus den Achtzigern. Viele Café-Gäste strandeten 1945 im Land der Täter, sie kamen in die „DP-Lager“ der Alliierten für „Displaced Persons“. Rund 184.000 Juden aus ganz Europa, durch die Verfolgungen heimatlos geworden, lebten noch 1947 in Deutschland in solchen Camps. Sie gründeten die jüdische Gemeinschaft mit der weltweit höchsten Geburtenrate; die Familien gab es ja nicht mehr. 28.000 von ihnen blieben für immer hier.

Am Tisch der „Golden Girls“ haben jetzt alle ihre Smartphones gezückt. „Schaut, meine Urenkelin ist zwei Wochen alt“, sagt Manja B. und reicht das Display herum. „Was a Menschele!“ Abgesehen von ihren Familien reden die fünf Damen – sie haben 14 Töchter und Söhne, 25 Enkel und 43 Urenkel – über die NPD. „Was ist da zu überlegen“, kommentiert eine stämmige Nachbarin links von Manja B. die Verbotsdebatte, „das sind doch Verbrecher.“ Als die Terrorzelle NSU aufflog, sagten viele hier ihren Kindern: Ihr müsst jetzt schnell aus Deutschland weg.

Überhaupt Deutschland. Ein deutsches Auto habe sie nie gekauft, sagt Manja B. „Das geht nicht. Ich lebe gern hier. Aber ganz gemein kann ich mich nicht machen mit dem Land.“ Ihr Blick ruht auf einem kleinen Kaffeelöffel auf dem Tisch, aber der Kopf wiegt hin und her. Damals sei etwas passiert, sagt sie, womit niemand fertig wird. „Auch die Deutschen nicht.“ Die „Displaced Persons“ von einst leben wie mit gepacktem Koffer, auch wenn er längst in der Ecke steht. Manja B., Frankfurterin seit 1945, hat die kanadische und die israelische Staatsbürgerschaft. Die deutsche würde sie nie beantragen. „Hier in Frankfurt bin ich immer gut behandelt worden, bin nie als Jüdin beschimpft worden. Aber enger kann ich nicht.“ Beim Transport von Auschwitz nach Bergen-Belsen im offenen Waggon hatten alle sie gesehen. „Alle wussten es.“

Was viele Gäste des Cafés auch nicht von Deutschland haben wollen, ist Geld. „Emily, warte mal, was ist mit dem Ghettorenten-Antrag?“, ruft eine Sozialarbeiterin der Dame mit Glockenhut nach. Langsam schreitet Emily P. strengen Blicks übers Parkett, das Haupt erhoben, eine Prozession. Niemand soll merken, dass ihre Augen nur noch graue Schemen ausmachen. „Danke, kein Bedarf“, bescheidet die 92-Jährige. Mit den illegalen Papieren von damals lebt sie noch heute. Anspruch auf Entschädigung hat sie nie gestellt.

Wohlhabend sind hier nur wenige. 30 Prozent der Cafégäste leben von Sozialhilfe oder Grundsicherung, die Hälfte von ihnen erhält weniger als 1000 Euro Rente. Beantragen, bitten, fällt ihnen schwer, es geht um ihre Unabhängigkeit. Zwei Sozialarbeiter und zwei Psychotherapeuten sitzen im „Treffpunkt“, alle vier Kinder von Überlebenden. Sie vermitteln Sozialdienste, klären die Gäste über ihre Rechte auf. Und hören zu.

„Ist der Fahrer da?“ Emily P. strebt zum Ausgang, die Lippen zusammengekniffen. Gerade hatte sie sich mit ihren Tischnachbarn gestritten: Ihr Stammplatz war besetzt gewesen, „eine Frechheit“, hatte sie laut gerufen und ihren Hut nach hinten gerückt.

Leicht reizbar sind viele hier, angespannt; auch wenn manche Gäste stur und rau wirken. Da zucken plötzlich alle an Tisch 3 zusammen: Draußen wird ein Glascontainer entleert. Das Klirren will nicht enden, macht die Gesichter steif. Als der Lärm schließlich abbricht, lehnen sie sich zurück. Lilly M. schnippt einen Kuchenkrümel von der Tischdecke.

Auch Emily P. war jäh stehen geblieben, nun aber setzt sie Fuß für Fuß hinaus. Draußen wartet ein ehrenamtlicher Helfer auf sie, das Café organisiert ihren Heimweg. Einem Taxifahrer traut sie nicht. Als ihr eine Sozialarbeiterin vorangeht, hält ein Herr in braunem Cord-Anzug ihren Ärmel fest. Das ist Josef B. „Ich habe meine Brille vergessen. Könntest du mal einen Blick auf diesen Brief werfen?“ Mit einer Wäscherei hatte er nach dem Krieg angefangen und war dann ins Immobiliengeschäft eingestiegen. Früher, vor der Rente, las ihm die Sekretärin alles vor; seine Kindheit kannte Versteck und KZ, aber keine Schule.

Vom Saaleck dringt jetzt ein Tango, „Ikh hav Dikh tsuvil lib“, singen die Golden Girls von Tisch 1, als das Ehepaar F. den Saal betritt. Es ist halbsechs. Sanft hilft Max seiner Alice aus dem Mantel. „Ach“, sagt er, setzt sich neben Siegfried A. und drückt den Rücken durch, „eine Geschichte nur über dieses Café? Die Juden interessieren doch nicht mehr. Jetzt gibt es die Türken. Schreiben Sie lieber, wie der Antijudaismus nach und nach gegen die Muslime übernommen wird. Das ist Ihre Geschichte.“ Max F. ist groß und drahtig gewachsen, er schüttelt den Kopf. Nein, er will nicht reden. Und ja, die Deutschen seien noch immer auf der Suche nach einem Sündenbock, einem sichtbaren. Jetzt redet er doch, hört gar nicht auf: Nichts habe sich geändert, sagt er. „Schauen Sie sich doch das Theater um Syrien an. Schon wieder wird nichts unternommen gegen Verfolgung und Massaker.“

Die Besucher des „Treffpunkts“ sind stark und schwach zugleich. So schnell verletzt, so würdevoll. Siegfried A. erlaubt sich noch ein Stück Himbeertorte, unter strengem Blick seiner Anna. „Süßes bringt einen nicht um“, raunt er. Selbst der Tumor in seinem Kopf, der rührt sich seit langem nicht. Siegfried A. legt einen Finger ans Kinn. „Mir ist egal, ob ich früher oder eher sterbe“, versucht er einen Scherz. Für einen langen Moment schweigen alle am Tisch.

Max F. ergreift wieder das Wort. Jetzt erzählt er seine Geschichte. Viele Jahre lang sind Alice und Max F. in Schulen gegangen, haben geschildert, wie sie sich am ersten Tag im KZ kennen gelernt und ineinander verliebt hatten. Wie sie am Ende die Todesmärsche weg von Auschwitz überlebten und er sie über das Rote Kreuz in einem Sanatorium in Skandinavien nach dem Krieg wiederfand. „Rechne nicht damit, dass ich mich scheiden lasse“, sagte er ihr bei der Hochzeit. Seit Jahren erhalten sie von keiner Schule mehr eine Einladung.

Manchmal verreist der ganze „Treffpunkt“, dann mieten die Sozialarbeiter einen Bus. Einmal ging es nach Berlin, da besichtigten sie die Villa, wo die „Wannsee-Konferenz“ 1942 zur Detailplanung der „Endlösung der Judenfrage“ getagt hatte. Als die Reisegesellschaft längst wieder eingestiegen war, wartete man auf eine Caféseniorin – sie musste in der Villa noch aufs Klo. Zurück im Bus, meinte sie: „Es war mir ein Vergnügen, hier zu scheißen.“

Das Akkordeon spielt den Rausschmeißer, eine dünne Frau steht auf und singt „Ach Odessa, wo ich geh, wo ich steh, denk ich nur an dich“. Die anderen nesteln schon an ihren Handtaschen, ziehen die Mäntel an und streben zur Tür. Als die Musik verstummt, raunt Siegfried A.: „Juden raus!“