Zeitenspiegel Reportagen

Mensch, Mücke!

Erschienen in "Eltern", Nr. 5, 2017

Von Autor Jan Rübel

Die Geschichte einer jungen Frau, die auf der Straße lebt und schwanger wird. Leider ohne Happy End.

Natürlich hatte Mama etwas geahnt, woher auch immer. „Als ich sie anrief, meinte sie gleich: ‚Sag nicht, dass du schwanger bist‘.“ Ein Lächeln huscht über Mückes Gesicht, sie steht auf dem Washingtonplatz, südlicher Eingang zum Berliner Hauptbahnhof. Nieselregen leckt die Betonplatten des Platzes silberfarben. Der Winter ist vorüber. Aber noch immer drückt Hochnebel jede Sonne weg.

An diesem Märztag 2015 schieben sich etliche Passanten an Mücke vorbei, am Abend werden Zehntausende den Bahnhof durch die Türen hier betreten oder verlassen haben. Nur Mücke, 23, steht reglos da, den Jackenkragen hochgeschlagen, und hält die Hand auf. Das mit der Schwangerschaft, sagt sie, haue sie erstmal um.

Es gibt eh grad viel zu klären. René im Gefängnis, will er überhaupt Vater werden? Die Jobcenter-Wohnung ihr gekündigt – „leise leben wir halt nicht“. Die zwei Hunde – „müssen noch geimpft werden“. Das Geld knapp – „Schnorren rentiert sich diese Tage kaum“. Ihre Hepatitis nur halb abgeklungen, eine Gesundheitskarte derzeit nicht am Start. Dann ist da der Alkohol, der darf nicht ausgehen, der muss fließen. Eigentlich. Und nun hat Mücke, ein ehemaliges Straßenkind vom Alexanderplatz, vor sechs Tagen erfahren, dass sie im vierten Monat schwanger ist, im Krankenhaus, zufällig, bei einer Leberuntersuchung. Sie rief dann bei Mama an.

„Ist das dein Ernst?“, fragte die.

„Alles geht, nur nicht wegmachen“, erwiderte Mücke. Leben, denkt sie sich, kann man doch nicht töten. Allein aus Respekt.

Sie besorgte rasch Blumen bei Kaiser’s und machte sich auf nach Marzahn, „die sind bestimmt geklaut“, begrüßte die Mutter sie an der Eingangstür. Und dann schmiedeten beide einen Plan. Aus ihm wächst eine Geschichte darüber, wie stark neues Leben das alte durcheinander wirbelt, wie schnell der Abschied aus einem bürgerlichen Dasein geraten kann – und wie verdammt lang der Weg zurück ist.

Mücke will Mutter werden, mit Hilfe ihrer Mutter. „Das Jugendamt wird bei mir dazwischen funken, das ist klar“, sie scannt den Bahnhofsvorplatz nach Passanten mit ein paar Cent. „Das Kind soll vorerst zu Mama, dann bleibt es in der Familie. Bis ich soweit bin. Ich ändere all das.“ Das mit dem Alk. Mit dem Leben auf der Straße, in den Tag hinein.

Simone, 60, grübelte nach den Blumen zwei Tage lang, dann wurde der Plan ihres einzigen Kindes ihrer. Es ist auch ein Versuch, die Familie wieder zusammen zu kriegen, näher mit Mücke zu werden; seit Jahren erinnert Mückes Leben an eine Achterbahnfahrt, mit kurzen Haltepausen bei der allein erziehenden Mutter. Mit 16 ging sie von zuhause weg. Ihr Ex-Freund hatte sie vergewaltigt, seit sie 13 war, das Zuhause war nicht mehr sicher, er wohnte in der Nachbarschaft. Simone merkte in jenen drei Jahren, dass etwas nicht stimmte, dass sie zum Beispiel ihre Tochter nicht mehr am Handgelenk anfassen durfte, aber Mücke machte dicht. Simone ging zur Polizei, aber man sagte ihr: Anzeige erstatten müsste Mücke selbst. Die haute irgendwann ab.

Früher ehrgeizig am Gymnasium, ließ sie sich nun treiben. Fing an zu trinken, bis zu zwei Flaschen Wodka am Tag. Kam ihr nun einer dumm, schlug sie zu. Ihre Strafakte bei der Polizei schwoll an. Die Schule plötzlich ein ferner Ort in der Vergangenheit, Mücke lebte nun auf der Straße. Mit 17 dann das erste eigene Zimmer durchs Jugendamt, aber immer wieder draußen, immer unterwegs.

Mücke und Simone entfernten sich voneinander, zu unterschiedlich die Vorstellungen und Bahnen. Da die Grundschullehrerin, stets organisiert, in ihrer Wohnung steht eine Sammlung von 1350 Kurzzeitmessern. Dort der Punk, Nonkonformität als Programm, die Uhrzeit nach dem Stand der Sonne ermessend, wenn überhaupt. Und dann entsteht nun, Jahre später, dieses Leben in ihr.

Vier Monate später ist der Sommer mächtig da. Mückes Platz ist immer noch am Hauptbahnhof. Das Thermometer reißt die 30 Grad-Celsius-Grenze, Mücke hält sich an einem Rollator fest, den sie in einem Graben am Ostbahnhof gefunden hatte, die Beine sind schwer und angeschwollen. „Das Sorgerecht werde ich nicht kriegen, sagen sie.“ Sie hat gehört, wie das Jugendamt in manchen Fällen im Kreißsaal das Kind in Obhut nimmt. Ob Simone das Kind zu sich nehmen darf, ist ungewiss. „René, danach gehen wir sofort in den Entzug, ja?“ Mücke schaut auf einen Mann im Schneidersitz auf dem Boden, schlank, kurz geschnittener Bart. „Ja, machen wir. Wenn wir einen Platz mit Hunden kriegen.“ Die Flasche kreist. Mücke nimmt nur einen kleinen Schluck, sie hat ihren Konsum reduziert, auf ein Bier und zwei Schnäpse täglich, wie sie sagt. „Ganz runter schaff ich jetzt nicht. Es ist alles so viel.“

Drei Tage später klappt sie zusammen. Es wird noch heißer, der Kreislauf geht in den Keller. Auf dem Weg zur Mutter versagen die Beine, im Krankenhaus wird sie in Narkose versetzt – der kleine Nino drängt heraus, dreieinhalb Wochen zu früh. Beider Herzen machen nicht mit, beide schweben in Lebensgefahr; Nino muss reanimiert werden, er kommt durch. Als Mücke aufwacht, zittert sie. Die Ärzte reichen ihr zur Beruhigung ein Bier.

Wie viele Entzüge Mücke seit ihrer Jugend versucht hat, weiß sie nicht. Aber jetzt ist es anders. Nino ist da. Es geht ihm gut, seine Oma erhält das Sorgerecht. Es ist Oktober. Auf den Rollator mag Mücke noch nicht verzichten, als sie aus ihrem Zimmer im „Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge“ schlurft, einem riesigen Backsteinbau am Rande Berlins. Der Rollator ist ihr mehr eine innere Stütze. Seit drei Wochen ist sie trocken.

„Es fühlt sich komisch an“, sagt sie, „ich hab ein Ziel“. Alle paar Minuten nimmt sie einen Schluck zuckersüßen Eistee.

Im November zieht sie noch weiter von Berlin weg, in eine diakonische Entzugseinrichtung, ein ehemaliges Wohnheim für LPG-Lehrlinge; im Umkreis von zehn Kilometern kein Dorf. Nachts hört Mücke Wölfe.

Sie bleibt die folgenden Monate trocken. Spielt auf der Gitarre am Telefon ihrem Nino Gutenachtlieder vor, er ist ein neugieriges, aufgewecktes Kerlchen – eine geistige Beeinträchtigung wird er davontragen, die Ärzte gehen aber von einer sehr kleinen aus. Jedes Wochenende sehen sich die beiden.

An einem Junitag erklärt Mücke ihrer Mutter, dass sie sich einen Irokesenschnitt schneiden lassen will – das findet die nicht toll: „Mich erinnert das an die alten Zeiten.“

„So wie damals wird es nie mehr werden.“

Nino krabbelt durch die Wohnung, verfolgt einen flachen Putzroboter, der über den Teppich gleitet.

„So ein Kind schlaucht auch“, seufzt Simone. „Mit dem Putzen bin ich lockerer geworden.“

„Du, du bist ein Putzteufel!“

„Naja, mehr als du.“ Beide blitzen sich an und lachen laut.

Nicht immer läuft es rund für Mücke. Die Einsamkeit im isolierten Entzugsheim, das frühe Frühstück um sieben, diese nagende Schönheit der Umgebung, des Naturschutzgebiets Stobbertal. Und das wenige Geld, 109 Euro überweist das Sozialamt im Monat, 15 davon gehen drauf für die Mirtazapin-Tabletten. Die Antidepressiva machen müde. Schlapp. Und nachts dreht Mücke auf, kann nicht schlafen. Etwas zerrt. Eine Psychotherapie macht sie nicht, „erstmal mache ich die Alkoholtherapie“.

Die Besuche bei der Mutter verlaufen gereizter.

Im September streiten sich beide, Mücke soll den Einzug in eine Mutter-Kind-Einrichtung planen. Sie ist aber wieder mit René zusammen, die beiden waren zwischenzeitlich getrennt; der könnte dort nicht hinein.

„So kriegst du das Kind nicht. Für ein Kind muss da anderes her, du kannst nicht ein Leben lang von der Stütze leben.“

„Doch. Machen doch viele.“

„Und du gehst nie mit Nino auf den Spielplatz, bist nicht konzentriert.“

„Du bist natürlich die beste Mama…“

Beim Hinausgehen meint Simone, vielleicht müsse ihre Tochter nochmal richtig „auf die Fresse fallen, wie beim Alkohol“.

Dann überschlagen sich die Ereignisse. Im September zofft sich Mücke mit einem Bewohner, der ist bekannt für seine Provokationen. Sie schlägt zu. Einmal. Das Wohnheim hat klare Regeln: Wegen körperlicher Gewalt müsse sie Ende der Woche für drei Monate ausziehen. Drei Tage später stirbt ihr Opa, unerwartet, ein Herzinfarkt. Es ist alles sehr viel. Sie besorgt sich eine Flasche Kräuterlikör, nach zehn Monaten ohne Alkohol haut der Stoff sie um. Mücke ist wieder drauf. Wenige Minuten, bevor sie den Stecker zieht und ihr Zimmer räumt, postet sie auf Facebook: „Endgültig – ich bin gleich in Berlin…“

Simone schreibt zurück: „Wo willst du denn übernachten?“

„Bin mir was am Organisieren.“

„Auf der Straße? Unter der Brücke? Komm zu deinem Kind!“

„Nein ne Kriseneinrichtung.“

Am ersten Tag im Herbst 2016, an dem Mücke wieder eine Nacht unter freiem Himmel verbringt, sich auf einen Steinboden setzt und die Blicke von Passanten mal spürt und mal nicht, erscheint in der „Berliner Morgenpost“ ein Artikel über die steigende Zahl der Obdachlosen. Er zeigt ein Foto von Mücke. Es ist Jahre alt.

Der Winter wird nicht so kalt wie andere. Sie ist in den Nächten oft draußen, an der Jannowitzbrücke. Dann ein Wohnheimplatz für Obdachlose, vorübergehend, wie man ihr sagt. Sie trinkt weiter. Am Morgen des dritten März, als der Frost dem Frühling weicht, Amsel und Drossel ihre Stimmen heben und das erste Grün sprießt, findet man Mücke tot in ihrem Bett. Alkohol und ein Schlafmittel, stellt die Polizei fest, das Herz versagt. Kein Suizid, kein Fremdverschulden. Der Körper machte nicht mehr mit.