Zeitenspiegel Reportagen

Menschenskinder

Erschienen in "Eltern Family" und "WamS-Titelthema", 03/2015

Von Fotograf Sascha Montag und Autor Jan Rübel

Von Jahr zu Jahr nimmt der deutsche Staat mehr Kinder aus ihren Familien - um sie vor Prügel und Verelendung zu schützen. Oft stehen die Krisenhelfer der Ämter nachts in fremden Wohnungen und müssen binnen Minuten entscheiden, ob ein Eingreifen notwendig ist

„Beginnen wir mit dem Einfachen“, sagt Grit Nickelsen bei der Dienstübergabe zur Nachtschicht. „Drei Kinder haben wir unten aufgenommen: Ein Eineinhalbjähriger stand am Fensterrahmen, drohte heraus zu fallen. Im Bett fanden wir eine Kabellampe. Die anderen zwei, im selben Viertel, riefen vom Balkon aus um Hilfe, sie waren allein. Und ein Kind haben wir mit der Mutter ins Krankenhaus geschickt, sie war dehydriert und unterernährt, die Wohnung verwahrlost.“ Stefan Müller, 48, schenkt sich Kaffee ein, er drückt den Rücken durch. Breitbeinig lauscht er dem, was in der Nacht auf ihn wartet. „Und dann ist da noch eine Zweijährige, die Polizei rief gerade an. Ihre Mutter hat getrunken, rastete aus. Fahrt mal gleich los.“

Stefan Müller angelt einen Kindersitz vom Aktenschrank, draußen wartet schon das Taxi auf ihn und Kollegin Dana Boldt. Wenn sich die Mitarbeiter des Kindernotdienstes (KND) auf den Weg machen, dann immer zu zweit; die Entscheidungen, die sie treffen, wiegen schwer.

Am Schlesischen Tor wärmen sich Obdachlose an einem Feuer, der Wagen gleitet gen Südost nach Adlershof. Dana Boldt und Stefan Müller sind oft nachts unterwegs. Es ist die Zeit, in der Nachbarn zuhause sind und mithören, wenn es nebenan kracht. Der KND ist ein Krisendienst, er übernimmt, wenn das Jugendamt schließt, werktags nach 18 Uhr und am Wochenende. Seine Mitarbeiter schauen hinter die Türen ihrer Stadt. Und fahren Taxi, weil dies günstiger kommt als ein Dienstwagen samt Fahrer; auf der Rückfahrt brauchen beide die Hände frei, dann sind sie vielleicht nicht mehr allein.

Das Taxi biegt in eine kleine Nebenstraße ein. Am Hauseingang warten zwei Polizisten. Die Frau, 23, sei bereits auf dem Weg ins Krankenhaus, „total blau“. Drinnen ihr Vater, mit 47 Opa der kleinen Lea, „sie ist oben, bei meiner Lebensgefährtin“. Er zieht an einer Zigarette. Dana Boldt geht in den ersten Stock. Eine Wohnung im Erdgeschoss seines Einfamilienhauses hat der Mann für die Tochter eingerichtet, „damit sie nicht den Anschluss verliert“. Das sei aber schief gegangen. Alkohol und Drogen nehme sie exzessiv seit ihrer Jugend.

Stefan Müller hatte noch im Taxi Notizen aus einem Telefonat mit der Polizei gelesen, nach denen das Jugendamt Ina K* ihre Tochter Lea weggenommen und der 80-jährigen Uroma in die Obhut gegeben hat, seitdem eine Pflegefamilie für die Kleine sucht. „Meine Mutter schaffte das nicht mehr, da brachte sie die Kleine zu mir“, sagt der Mann. Das Kümmern um die Tochter, dann um seine Enkelin – an der Familie zerren Kräfte wie aus einer Zentrifuge. Das Konstrukt der Hilfe bricht an diesem Abend zusammen.

„Heute Nachmittag ging ich mit Lea Enten füttern, Ina fing währenddessen mit dem Trinken an.“ Als sie zurück seien, habe sie Lea genommen und sich mit ihr eingeschlossen. Habe er schließlich die Tür eingetreten und die Polizei gerufen. „Vor diesem Tag hab ich immer Schiss gehabt.“ Beide schweigen. Stefan Müller fasst ihn sanft am Arm. „Sie wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Lea braucht einen sicheren Raum.“

Dana Boldt kommt die Treppe herab, in ihren Armen die zweijährige Lea. „Helfen Sie Ihrer Enkelin, geben Sie ihr Sicherheit“, flüstert Stefan Müller. Der Mann zieht die Schirmmütze nach hinten. „Lea Schatz“, sagt er, „das ist in Ordnung, du darfst mit den beiden mitgehen. Wir sehen uns bald, ja?“ Begleitet den Trupp aus KND und Polizei bis zum Gartentor, führt die Hand vor die Augen, sucht ein Taschentuch und geht dann rasch zurück ins Haus.

Die Leute vom KND sind staatliche Wächter über das Kindeswohl, eine Art soziale Feuerwehr. Ihren Job machen sie mit Umsicht. Und mit viel Empathie.

Auf der Rückfahrt umklammert Lea ihre Didl-Maus. „Heute haben Mama und Opa geweint und gehauen“, sagt sie. Dana Boldt schaut sie lange an. „Ja, das sollen die nicht machen. Das mag ja keiner.“ Stefan Müller dagegen mustert das Kuscheltier.

„Na du süße Maus, wie heißt du denn?“

„Kika, und sie ist schon ganz groß.“

„Und ich bin der Stefan, ich bin auch groß. Siehst du draußen die Laternenlichter vorbei huschen?“

„Ja, Kika mag die.“

Jetzt wendet sich Stefan wieder direkt an Lea. „Ja, es ist schön, dass sie die Lichter mag. Ich mag sie auch.“

Kika ist wichtig, für Kika spürt Lea Verantwortung – und sich damit sicherer. Und weniger schuldig für das, was gerade daheim los war.

Die Vereinbarung zwischen Jugendamt und Familie, Lea vorerst bei ihrer Uroma zu belassen, haute wohl nicht hin. Heute wird sie erstmal beim KND übernachten. Im Erdgeschoss nimmt neben einer Erzieherin ein Teenager sie in Empfang, „komm, ich zeig dir die Spielecke“, sagt Anna*. Insgesamt ist hier Platz für zehn Kinder, im Schnitt bleiben sie drei Tage hier; Anna ist schon länger hier: Das elfjährige Mädchen war von einer Verbrecherbande zum Taschendiebstahl eingesetzt worden, zu den Leuten vom KND baute sie Vertrauen auf, brach mit den alten Strukturen und lebt seit Wochen im KND. Wie es weiter gehen soll, weiß im Moment niemand.

Während Lea aus Bauklötzen einen Turm stapelt, streckt sich Anna auf dem Sofa im Wohnzimmer aus. Vier Versuche, sie in Kindereinrichtungen zu geben, scheiterten. Anna rebellierte. Sie verlangt nach einer Rückversicherung für ihren langen Weg, es normal zu finden, nicht mehr eingesperrt zu werden. Sie braucht Zeit, die sie bei jenen findet, die ihr als erste halfen. Beim KND empfinden sie mittlerweile eine seltene Art Patenschaft für Anna und ihren Weg.

Stefan Müller springt die Treppe hoch, sein Gang erscheint zuweilen stramm. In der Freizeit läuft er Marathon, betreibt Kampfsport. Seine Gesichtszüge dagegen sind weich, er signalisiert stille Neugierde und Ruhe. Zuversicht. Mit Umsicht muss er umgehen, was ihm Paragraph 42 des achten Sozialgesetzbuchs zuweist. „Inobhutnahme“ nennt er den Eingriff in das elterliche Recht in Notsituationen. Oft steht dies am Ende einer langen Fahrt, wenn zwischen Kindern und Eltern nicht seit gestern etwas schief läuft. Eine „IO“, wie es in der internen Behördenschriftsprache heißt, ist indes keine Sackgasse. Oft bedeutet eine Nacht im KND auch Ruhe für überforderte Eltern, eine Möglichkeit zur kurzen Auszeit, zur Besinnung. „Wir versuchen immer, mit den Eltern zusammen zu arbeiten“, sagt Stefan Müller, „langfristig ist das für das Kind das beste – egal wie es weitergeht“.

Seit 2008 steigt die Zahl der IO in Deutschland. 2013 wurden 42.123 Kinder in Obhut genommen, das sind über 40 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Nach Angaben des Deutschen Jugend-Instituts nehmen zwar Misshandlung und sexueller Missbrauch ab, aber dafür steigt die Zahl der Vernachlässigungen: wenn Eltern mit ihrer Erziehungsverantwortung nicht mehr klar kommen, sich überfordert fühlen. Forscher führen dies zurück auf ein höheres Stress-Level, auf instabilere Verhältnisse bei Job und Familie – und auf eine gestiegene Sensibilität in der Gesellschaft für Kinderrechte. Man schaut mehr hin.

Es ist jetzt 22:00 Uhr, bevor Stefan Müller sich an seinen Bericht setzt, nimmt er eine Schokopraline vom Gemeinschaftstisch. Doch dann klingelt das Telefon. „Er macht unsere Familie kaputt, wir können nicht mehr“, sagt ein Mann am anderen Ende der Leitung. „Nichts mehr lässt er sich sagen.“ Heute Abend flippte Nick*, 12, aus. Setzte sein Zimmer unter Wasser, haute einen Stuhl entzwei. Stefan Müller lehnt sich zurück, „geben Sie ihn mir doch mal“. Zwei Minuten lang lauscht er nur, Nick hatte schon einmal vor ein paar Monaten mit ihm telefoniert, auch da hatte es daheim geknallt. „Was meinst du, wenn du morgen mal vorbeischaust, dann können wir in Ruhe darüber reden“, schlägt Stefan Müller vor.

Er schaut auf. „Das ist der Beginn eines Loslösungsprozesses.“ Nicks Mutter sei als Kind missbraucht und als Erwachsene vergewaltigt worden, sie betreibe mit ihrem neuen Lebensgefährten eine Internetplattform für Missbrauchsopfer. „Sie hat Angst- und Schlafstörungen, auch Bulimie. Alles dreht sich um die Aufarbeitung der Gewalterfahrung.“ Für Nick sei da wenig Platz. Das zerstörte Zimmer: ein Schrei nach Aufmerksamkeit oder ein erster Abschiedsgruß.

Kurz nach Mitternacht schreibt er einen Vermerk, die Finger hauen senkrecht auf die Tastatur. Vor zweieinhalb Wochen hatte tagsüber ein Mann angerufen: Bekannte würden im Beisein ihres sechs Monate alten Babys trinken, kiffen, sich schlagen. Ein Blick in die Akte: Zwei ältere Kinder sind schon woanders untergebracht. Er und Dana Boldt seien sofort hin, die Mutter mit Veilchenaugen, die Wohnung desolat. „Ich meldete dem Jugendamt, dass die aus unserer Sicht Hilfe brauchen. Doch zwei Wochen lang geschah nichts. Deren Antwort: ‚Die sollen dann zu uns kommen und das beantragen.’“ Dann stand die Frau mit dem Kind vorm KND, man vermittelte sie in ein Frauenhaus, wo sie es nicht aushielt und wieder zurück ist.

Stefan Müller will, dass die Familie im Jugendamt ankommt. Das bedarf einer Bewegung beider Seiten. „Wir haben Verantwortung für die da draußen, für Eltern und Kinder. Dazu gehört auch eine konkrete Kontrolle, dass Hilfe auch angenommen wird.“ Und schreibt weiter an seinem Vermerk; er will über die Leitungsebene erfahren, wie das Schutzkonzept des Jugendamts für Mutter und Kind nun aussieht.

Der Sonntag bricht an, für den KND ist es oft der Tag der Kinderübergabe getrennter Eltern – und sich anschließendem Zoff darüber, wohin das Kind nun soll. Zwischen zwei Stühlen sitzt auch Stefan Müller, als er an diesem Morgen mit den Eltern von Nadine* spricht; die Achtjährige war gestern von der Schwägerin ihrer Mutter abgeliefert worden, „sie soll nicht zum Vater zurück, der schlägt sie“, hatte sie gerufen; bei der Mutter war Nadine zum Besuch gewesen, für einen Tag. Der KND behielt sie über Nacht da. Zuerst erscheint der Vater. „Ob ich Nadine mal hart angefasst habe? Ja, das kann sein“, sagt er verlegen. Nachdem die Schwägerin der Mutter gestern weggegangen sei, hatte Stefan Müllers Kollegin Grit Nickelsen in der Akte notiert, habe sich Nadines Verhalten schlagartig geändert: Sie habe zum Vater gewollt, bei dem sie seit sechs Jahren lebt. Und Schläge? Nun, ab und zu ein Klaps.

„Nadine ist unglücklich, sie hat Sehnsucht nach Ihnen beiden“, sagt Stefan Müller. „Och“, entgegnet der Vater, „die Mutter hat gar nicht so viel Interesse an Nadine.“ Kontakt zwischen ihm und ihr sei kaum möglich, sie komme zu keinem Termin beim Jugendamt. Stefan Müller: „Eines muss klar sein: Kinder-bitte-nicht-hauen. Mit Gewalt erreichen Sie nur Schlechtes.“ Der Mann nickt stumm, nimmt Nadine in den Arm. Erleichtert verlässt sie mit ihm das Haus, nur eine halbe Stunde bevor die Mutter hier ankommt, gemeinsam mit ihrer Schwägerin.

Sie sitzt auf dem gleichen Stuhl, wo der Vater saß. Schlägt nervös die Beine übereinander. „Nadine hat Angst, sie würde nie zugeben, dass er sie schlägt.“ Sie wolle ihr Kind haben, sie da raus haben. „Ich war sechseinhalb Jahre mit ihm zusammen. Es gab auch häusliche Gewalt.“ Da habe sie ihn rausgeschmissen, Nadine habe dagegen rebelliert. Sie habe sich an das Jugendamt gewandt, „der Ball kam ins Rollen, plötzlich hatte ich das Amt nicht mehr auf meiner Seite, sagte zu allem Amen, auch dazu, dass er das Aufenthaltsbestimmungsrecht bekam. Jetzt sagt mein Anwalt, ich soll Beweise gegen ihn sammeln.“

Stefan Müller runzelt die Stirn. Wem kann er glauben? Wer hat versagt? Und warum will die Mutter ihr Kind erst jetzt zurück? So viel laden die Eltern bei Nadine ab.

„Das mit dem Anwalt können Sie so machen“, sagt er langsam, „aber was Sie noch können: Nadine mal von der Schule abholen, das wünscht sie sich.“

„Darf ich nicht.“

„Dann gehen Sie ins Jugendamt, machen Sie Termine, gemeinsam mit dem Vater. Holen Sie Nadine öfters zu sich.“

Die Schwägerin steht auf. „Ich halte das nicht mehr aus. Zwei Jahre habe ich gebraucht, um sie da mit dem Kind rauszuholen, und nun hilft uns der Staat nicht.“ Sie selbst sei Scheidungskind gewesen, habe beim Vater gelebt. „Ich wurde viel geschlagen, bin dann hier zum KND gegangen. Mein Vater tauchte auf, machte mich rund – und ich knickte ein.“

So viele verschiedene Wahrnehmungen. Manchmal gleicht Müllers Job einem Puzzle. Er sucht einen Weg, auf dem sich die Eltern annähern. Nach einer Weile sagt er: „Wir können uns irren, aber eine aktuelle Gefährdung sehen wir nicht. Wir sehen aber die Zerrissenheit von Nadine.“ Die Schwägerin seufzt. „Okay, ich habe mit meinem eigenen Film zu kämpfen, dem von damals.“ Damals habe man sie allein gelassen. „Wir versprechen, dass wir das Jugendamt informieren“, sagt Stefan Müller.

Man geht auseinander. Erleichtert, auch dankbar, und mit neuen Ideen im Gepäck. Gleich soll Nick auftauchen, die Verabredung von gestern. Dann ein Anruf. Nick werde nicht kommen, man habe sich wieder vertragen, „wir waren gestern Abend bei McDonald’s“, sagt der Stiefvater. Stefan Müller, der Hingucker, schaut nach draußen in den grellen Sonnenschein. Sein Blick verliert sich zum ersten Mal im Nirgendwo. Für heute ist seine Arbeit getan. „Is jut“, sagt er und legt auf.