Zeitenspiegel Reportagen

Operation Freiheit

Erschienen in "Amnesty Journal", 06-07/2012

Von Fotograf Carsten Stormer und Autor Carsten Stormer

Syrische Flüchtlinge im Libanon berichten über Folter, Hinrichtungen und Scharfschützen in ihrem Heimatland. Dem Terror in Syrien sind sie entkommen, aber im Libanon sind sie nicht willkommen.

Als jede Schraube in den Fuß gedreht, die Schusswunde verbunden ist und der Mann mit dem Trümmerbruch im Unterschenkel zu schreien aufgehört hat, steht Doktor Ahmed erschöpft auf dem linoleumbewehrten Flur des Krankenhauses, der die Zimmer der Schwerverletzten trennt, und überlegt, welchen Patienten er als nächstes behandeln soll. In Zimmer 532 liegt die 13-jährige Ghafran Koukaz. Ihr Vorname bedeutet Erbarmen. Der Scharfschütze, dessen Kugel ihr den Oberschenkel durchschlug und die Nerven durchtrennte, so dass ihr Bein nur noch ein gefühlloser Haufen Fleisch ist, zeigte kein Erbarmen, als er von seinem Versteck aus auf das Mädchen zielte und abdrückte. Nebenan, in Zimmer 533, liegt der 22-jährige Hassan, der auf der Flucht aus Syrien auf eine Landmine trat. Die Explosion riss ihm beide Hände ab und in seinem verschorften Gesicht stecken noch immer Schrapnellsplitter. Doktor Ahmeds Blick bleibt links stehen. Das Mädchen zuerst.

Ein rosafarbener Teddybär steht umringt von Tablettenschachteln auf dem Nachttisch neben ihrem Bett. Ghafran schläft, neben ihrem Bett wacht ihre Mutter. Doktor Ahmed streicht ihr durchs Haar. Mehr kann er nicht tun.

Doktor Ahmed verwaltet die Leiden von 37 syrischen Verwundeten in einem Krankenhaus am Rande der nordlibanesischen Stadt Tripoli, umgeben von unfertigen Wohnblocks und schlaglochgesäumten Straßen. Ein großer, stämmiger Mann im Karopullover, dem das Neonlicht der Deckenbeleuchtung dunkle Ringe unter die müden Augen zeichnet und seine Haut fahl wirken lässt wie vertrockneter Käse. Seit Tagen hat der 40-jährige kaum geschlafen. Ein paar Stunden auf dem Boden neben dem Bett eines Patienten. Mal bei Bekannten in einer überfüllten Wohnung, mit einem Dutzend anderen Flüchtlingen in einem Raum. Seinen Besitz, zwei Plastiktüten mit Kleidung zum Wechseln, trägt er immer bei sich.

Auch er Syrer, geflohen Anfang März aus der Stadt Homs. Er war einer von dreißig Rebellenärzten, die in Homs verblieben waren. In geheimen Wohnungen, die als Feldlazarette dienten, versuchten er und seine Kollegen die Kollateralschäden des syrischen Aufstandes notdürftig zu versorgen: Kinder mit Kopfschüssen, Frauen mit offenen Bauchwunden, Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA). Jeweils sechs mobile Teams bestehend aus fünf Ärzten, die in verschiedenen Stadtteilen operierten und wie Maulwürfe durch in Hauswände geschlagene Löcher von Haus zu Haus huschten. Doktor Ahmed setzt sich auf eine abgesessene Besucherbank, in seinen zittrigen Händen hält er eine Tasse, in der goldbrauner Tee schwappt. Mit leiser Stimme erzählt er, was er in Syrien erlebte.

Als die ersten Menschen auf die Straße gingen, um gegen das syrische Regime zu demonstrieren, arbeitete Doktor Ahmed noch als Chirurg in einem Regierungskrankenhaus in Homs. „Täglich kamen mehr Verletzte ins Krankenhaus“, erzählt er. „Viele wurden vom Operationstisch weg verhaftet.“ Und er berichtet von Kollegen, die Patienten töteten. Einmal habe der Luftwaffengeheimdienst einen Mann mit offener Bauchdecke verhaftet, während Doktor Ahmed operierte. „Keine Sorge, wir werden die Wunde für Dich schließen“, habe ein Agent gesagt. „Am nächsten Tag lag die Leiche des Mannes vor dem Haus seiner Familie.“ Das war der Moment, als er beschloss, sich den Aufständischen anzuschließen. Er versteckte seine Familie bei Freunden und seilte sich in den Untergrund ab.

Viele Menschen starben, weil es keinen Strom gab, keine Medikamente, Betäubungsmittel, Beatmungsgeräte oder Operationsbesteck. Weil das provisorische Hospital, ein Apartment im Stadtteil Baba Amr, immer wieder mit Granaten beschossen wurde, versteckten die Ärzte die Patienten in umliegenden Wohnungen. Oft blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Verwundeten hilflos beim Sterben zuzuschauen. „Manche konnten wir retten“, sagt Doktor Ahmed und ein Lächeln schmuggelt sich in sein müdes Gesicht. Ende Februar, als der Beschuss zu heftig wurde, verließ er das Stadtviertel Baba Amr mit zwölf Verletzten, drei von ihnen lagen im Koma. Zwei Tage dauerte die Flucht, immer nur nachts. Tagsüber wurden sie mit Granaten beschossen und versteckten sich in Feldern und Gräben. Von den zwölf Verwundeten haben acht die Flucht nicht überlebt.

Im sicheren Libanon hilft er nun aus, wo er kann, wechselt Verbände, richtet Brüche, operiert oder nimmt Gliedmaße ab, hier oben im fünften Stock des Krankenhauses, auf der Suche nach Ablenkung und dem Gefühl, nützlich zu sein. Nützlich für die Revolution – und um die Ohnmacht in Arbeit zu ersticken. Die libanesischen Ärzte dulden ihn.

Im toten Winkel des Terrors tröpfeln die Flüchtlinge über die poröse Grenze, angeschwemmt wie Strandgut, das niemand haben möchte. Im Libanon wird das Leid neu sortiert. Hier gibt es keine Flüchtlingslager, wie in der Türkei. Kaum eine Organisation, welche die Flüchtlinge mit dem Nötigsten versorgt: Decken, warme Kleidung, Milch für die Kinder, Medikamente; alles fehlt. Sie sind Flüchtlinge dritter Klasse. Durchhalten gelingt nur mit der Hilfe mitfühlender Libanesen, die das wenige, was sie besitzen, teilen oder Flüchtlinge in Wohnungen aufnehmen. Die nordlibanesische Stadt Tripoli ist das Epizentrum der syrischen Flüchtlinge. In den Krankenhäusern der Stadt liegen die Opfer des Krieges. Sie alle berichten von Massakern an der Zivilbevölkerung. Von Scharfschützen, die wahllos auf jeden schießen, der sich aus dem Haus traut. Von tagelangen Bombardierungen der Wohnviertel. Von Demonstranten, die auf offener Straße exekutiert werden. Von Toten, die zur Abschreckung in den Straßen verwesen. Die meisten Flüchtlinge wollen anonym bleiben, weil sie selbst im Libanon den langen Arm des Asad-Regimes fürchten. Oppositionelle und Flüchtlinge sollen in den vergangenen Monaten immer wieder vom syrischen und libanesischen Geheimdienst aufgegriffen und nach Syrien ausgeliefert worden sein.

Sie alle erzählen verschiedene Versionen der gleichen Geschichte. Männer und Frauen, Greise und Kinder, alt oder jung, aber fast ausschließlich Sunniten, hineingezogen in die Wirren des arabischen Frühlings, der auch im zweiten Jahr grünt, und der in Syrien zu einem Bürgerkrieg mutiert. Viele stammen aus der Stadt Homs, einer der Hochburgen des Widerstands gegen das Asad-Regime. Eine Stadt, die seit Wochen von der syrischen Armee belagert und mit Granaten überzogen wird. Abgeriegelt von der Außenwelt, ohne Strom, Wasser, medizinische Versorgung und Telefonnetz.

Die libanesische Regierung ist in einer Zwickmühle. Einerseits ist sie mit der syrischen Regierung verbündet und warnt syrische Deserteure, sich in den Libanon abzusetzen, andererseits will sie es sich nicht mit den anderen arabischen Nachbarn verscherzen, in dem sie Flüchtlinge nach Syrien ausweist. Wer es von Syrien in den Libanon schafft, wird als Gast angesehen, nicht als Flüchtling, und bekommt sechs Monate Aufenthaltsrecht. So wird das humanitäre Gesicht gewahrt und eine diplomatische Ohrfeige vermieden. Syrische Aktivisten im Libanon schätzen, dass etwa 20.000 Flüchtlinge schon in den Libanon geschwappt sind. Und täglich werden es mehr. Trotzdem sieht das libanesische Rote Kreuz keinen Handlungsbedarf. Hunderte warten täglich an den offiziellen Grenzübergängen auf eine Aufenthaltsgenehmigung. Andere lassen sich von Aktivisten oder der Freien Syrischen Armee (FSA) an Landminen, Grenzposten und Armeepatrouillen vorbei in den Libanon schmuggeln. Sie kennen nur eine Richtung: hinaus.

Am Rande der Legalität hausen die Flüchtlinge in Apartments, die ihnen Helfer der Aktivistennetzwerke besorgt haben, in Schulen, in Geschäften oder in den Slums am Stadtrand. Bis zu dreißig Menschen auf wenigen Quadratmetern, immer mehrere Familien in einer Wohnung. Wohnraum ist knapp, die Mietpreise explodieren. Dem Rettungsboot Libanon gehen die Sitze aus. Das Leben dreht sich um das Sammeln von Neuigkeiten und Gerüchten. Gab es neue Kämpfe oder Angriffe? Wie geht es den Familienangehörigen in Syrien, sind sie noch am Leben? Das Leben ist zu einem Vakuum geworden, in dem Zeit nicht existiert.

Derweil erreichen die Kämpfe in Syrien die Hauptstadt Damaskus. Die Rebellenhochburg Homs und Idlib werden nach wie vor mit Granaten beschossen, und Saudi Arabien will die Rebellen mit Waffenlieferungen unterstützen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bezichtigt beide Seiten Gefangene zu foltern und hinzurichten. Die Revolution hat ihre Unschuld verloren. Und im Zedernstaat, der so eng an Syrien gekoppelt ist, sind die Flüchtlinge kaum willkommen. Sie sind Zeugen für all das, was schief gehen kann. Was auch den Libanon, den Zwillingsstaat, erwarten könnte.

Feiras Abo Oday ist in einer Sackgasse gelandet, Endstation Tripoli. Seine Stimme spielt nicht mit. Geduckt wie eine Schildkröte kauert er an einem wackeligen Tisch und saugt den Rauch seiner Zigarette tief in die Lunge. Tränen laufen übers Gesicht und mit seiner Hand macht er eine Handbewegung, als wolle er die Erinnerungen wegwischen wie einen Schmutzfleck. Seit seiner Flucht aus Syrien arbeitet er in der Teestube eines syrischen Bekannten an der Corniche von Tripoli. Der Regen hat die Flaneure von der Promenade in die Wohnungen gespült. Nur das Mittelmeer brandet wie ein Metronom im Takt der Gezeiten gegen die Uferstraße. Seinen richtigen Namen möchte er nicht nennen, er hat Angst: vor syrischen Agenten, vor Spitzeln, vor dem libanesischen Geheimdienst. Ein gebrochener Junge, 26 Jahre alt, mit Narben auf dem Körper und Brandzeichen auf der Seele. Vom Meer pfeift ein kalter Wind durch das Cafe, in das sich nur ein einziger Gast verirrt hat, der einsam an einer Wasserpfeife nuckelt.

22 Monate lang war Oday Wehrpflichtiger der syrischen Armee. In fünfzehnten Monat seiner Dienstzeit fingen seine Landsleute an im ganzen Land zu demonstrieren, und Oday wurde an eine Straßensperre in Daraa versetzt, jener Stadt im Süden Syriens, in welcher der Aufstand begann. „Unsere Offiziere sagten uns, dass wir auf die Terroristen schießen sollen. Ich habe aber keine Terroristen gesehen, nur Menschen, die friedlich demonstrierten.“ Er kann es nicht fassen, was er in dieser Zeit sieht: wie sein Vorgesetzter einen alten Mann erschießt und ein Kamerad exekutiert wird, weil er sich weigerte einen gefangenen Demonstranten zu erschießen. Ein Deserteur wird standrechtlich hingerichtet. Oday will seine Einheit verlassen, schmiedet Pläne zu desertieren, will überlaufen zu den Rebellen der Freien Syrischen Armee, wie so viele vor ihm. Aber es gelingt ihm nicht.

Wie so viele in seiner Einheit habe er nicht auf Demonstranten geschossen, nur in die Luft oder auf Mauern. Wegen Befehlsverweigerung kommt er im Juli vergangenen Jahres in das berüchtigte Sydnaia-Militärgefängnis in Damaskus. Dreißig Gefangene auf dreißig Quadratmetern, die Augen verbunden, lagen auf dem Bauch, die Handgelenke an die Fußknöchel gekettet. Der jüngste Gefangene sei 13 Jahre alt gewesen. Endlose Stunden und Tage, nur unterbrochen von Verhören und Folter. „Ich wurde nackt in einen Autoreifen gezwängt, an der Decke aufgehängt und mit Stöcken und Kabeln so lange geschlagen, bis ich meine Arme und Beine nicht mehr spürte“, sagt er und seine Gesichtszüge verkrusten sich wie Schorf auf einer Wunde. Dulab heißt diese Foltermethode: Der Reifen. Oday beginnt wieder zu weinen, wischt sich über das Gesicht, holt tief Luft. „Ich konnte mich nicht mal mehr alleine anziehen.“ Nach 16 Tagen muss Oday ein Dokument unterschreiben, in dem steht, dass ihm während der Haft nichts angetan wurde und er verpflichtet sich, Kameraden, die sich weigern, auf Demonstranten zu schießen, seinen Vorgesetzten zu melden. Dann wird er entlassen und kehrt zurück in seine Einheit. Im Oktober endete sein Wehrdienst, im November floh er, aus Sorge wieder eingezogen zu werden, in den Libanon. Mit 400 Dollar besticht er einen Grenzbeamten, einen Ausreisestempel zu bekommen. Am liebsten würde Oday sich nun den Rebellen der Freien Syrischen Armee anschließen. „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Aber ich habe nicht genug Geld, mir eine Kalschnikov zu kaufen.“

Zum Sterben sind auch Younis Abu Salimar, 27, und Muhammad Abu Uday, 19, bereit. Die beiden Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“ kurieren in einem Versteck nahe der syrischen Grenze ihre Verletzungen aus. Ihre richtigen Namen wollen sie nicht nennen, ihre Gesichter haben sie mit einem Schal vermummt. Draußen stehen syrische Aktivisten der Oppositionsbewegung Wache, den Zugang zum Wohnviertel haben sie mit zwei Autos versperrt.

Muhammad hat bei den Kämpfen in Baba Amr im Februar seine linke Hand verloren, der Armstummel lugt unter seinem schwarzen Pullover hervor. In seinem Oberschenkel stecken Schrapnellsplitter der Granate, die neben ihm explodierte. Younis schloss sich den Rebellen an, nachdem er im Juni des vergangenen Jahres nach einer Demonstration gegen das Asad-Regime vom militärischen Gehheimdienst verhaftet wurde. Sechs Wochen lang sei er in einem Gefängnis gefoltert worden, sagt er, zieht die Hose seiner Jogginghose hoch und zeigt auf schlecht verheilte Wunden an Fuß und Wade. „Hier haben sie mit einem Bohrer reingebohrt.“ Die Narben an den Unterarmen und Händen sollen von Zigaretten und Elektroschocks stammen. „Und sie haben mir einen Hoden abgeschnitten.“ Younis humpelt und muss sich beim Gehen auf seinen Freund Muhammad stützen. Die Revolution, die jetzt ohne sie geführt wird, zieht an ihnen vorbei. Die Zeit ist zu ihrem größten Gegner geworden. Tag und Nacht zappen sie sich durch die Fernsehkanäle, saugen alles auf, was aus Syrien zu ihnen dringt: Aus den Nachrichten, übers Telefon, Facebook oder wackelige Filmschnipsel auf Youtube. Der Krieg, ihre Freunde, die Kameraden und Familie sind weit weg. Im Schutze der Illegalität sind die Kämpfer zu Zaungästen des Aufstands geworden. Deshalb wollen die beiden möglichst schnell zurück nach Syrien, zu den Rebellen, zu ihren Einheiten, kämpfen und Rache nehmen: An den Geistermilizen der Schabiha und den Alawiten, denen auch Asad angehört, sie machen sie für das Töten verantwortlich. Die Erlebnisse haben sich in ihre Köpfe gefressen, wie eine Zeitkapsel, die jemand in die Erde gelegt hat, um sie Jahre später wieder auszugraben. Ein Kreislauf beginnt.

Die Grenzkontrollen auf beiden Seiten wurden verschärft, Soldaten patrouillieren Tag und Nacht. Landminen, Panzer und Nachtsichtgeräte hindern Flüchtlinge daran, Syrien zu verlassen und Schmuggler daran, Waffen, Munition, Lebensmittel, Medikamente und Journalisten nach Syrien zu bringen. Und trotzdem schwappen täglich mehr Menschen herüber. Sie sammeln sich im Wadi Khalad, einem grünen Talkessel umgeben von Bergen, auf deren Gipfeln Schnee liegt wie Puderzucker auf Weihnachtsgebäck, unmittelbar an der libanesisch-syrischen Grenze. Straßensperren des libanesischen Militärs hindern ausländische Besucher daran, die Flüchtlinge zu besuchen. „Reine Sicherheitsmaßnahme. Damit bewaffnete Rebellen nicht in unser Land sickern“, sagt ein Grenzsoldat. Ein Aktivist, der mit uns im Auto sitzt, hat seine Papiere vergessen und bekommt Angst, dass er verhaftet und nach Syrien geschickt wird. „Alles schon vorgekommen“, sagt er. 45 Minuten lang durchsuchen die Grenzsoldaten das Fahrzeug, prüfen Ausweise, schreiben Passnummern auf, dann schicken sie uns fort.

Am Grenzübergang Kaa, im Bekaatal, im Nordosten des Libnon, beäugt ein Grenzbeamter misstrauisch unsere Pässe, macht Kopien, stellt Fragen. Aber er lässt uns passieren. „Nur zur Sicherheit“, sagt der Mann und lächelt freundlich. „Hier ist es gefährlich. Heute Mittag gab es Kämpfe entlang der Grenze. Die syrische Armee hat Grenzdörfer beschossen.“ Dutzende Busse und Lastwagen, vollgepackt mit Menschen und Gepäck, darauf, Syrien zu verlassen.

Im Niemandsland zwischen Syrien und dem Libanon haben etwa hundert Familien Zuflucht in Ruinen, verlassenen Häusern und Eselsställen gefunden. In Arsel, einer kleinen Bergstadt in Grenznähe, wohnen inzwischen 256 syrische Flüchtlingsfamilien bei libanesischen Helfern; etwa 1500 Menschen. Ein Lastwagen hält vor einer schmuddeligen Baracke, deren drei winzige Zimmer sich 32 Flüchtlinge teilen. Auf der Ladefläche 14 Frauen und Kinder. Neuankömmlinge. Der Fahrer, ein Bauer aus Arsel, hat sie aufgesammelt, als sie illegal die Grenze in den Libanon überquerten. Die Frauen weinen, Kinder schreien, ihre kleinen Körper zittern unkontrolliert. Hilflos stehen sie da, wie eine Herde verängstigter Schafe. „Wir sind am Nachmittag aus Homs geflohen. Auf der Flucht wurden wir mit Granaten und von Scharfschützen beschossen. Wieso wollen sie uns töten?“, sagt eine Frau mit Kopftuch und wirft die Hände in die Luft. „Gepriesen sei Allah.“ In der Nachbarschaft zündet jemand Feuerwerk, und die Kinder werfen sich auf den Boden oder verstecken sich in den Röcken ihrer Mütter, die Augen vor Angst geweitet, ein stummer Schrei auf den Lippen.

Am ersten Jahrestag der syrischen Revolution trommelt unaufhörlich Regen gegen die Fenster des Krankenhauses in Tripoli und läuft als Sturzbäche an den Scheiben herab. Doktor Ahmed, der geflohene syrische Arzt, sitzt mit geschlossenen Augen auf einem Klappstuhl neben dem Bett eines Patienten. Er ist eingeschlafen, sein Kopf auf die Brust gefallen. Um ihn herum herrscht aufgeregtes Treiben. Männer mit Arm- und Beinstümpfen, Gliedmaßen, aus denen Stahlgestänge ragen, malen Plakate. Sie wollen den Jahrestag feiern. Ein Fernsehteam von Al Jazeera wird erwartet, um die Zeremonie zu filmen. Es ist Freitag, und wie ihre Landsleute in der Heimat wollen sie auch hier demonstrieren.

Abu Jaman träumte elf Monate von einem freien Syrien und wachte in einem Operationssaal eines libanesischen Krankenhauses auf. 36 Jahre, ausgemergeltes Gesicht, verwilderter Bart. Mit glänzenden Augen verfolgt er das Treiben auf der Station, von seiner Schulter baumelt ein Schal in den Farben der Revolution; grün, weiß und schwarz, mit drei Sternen. Sein linker Arm ist oberhalb des Ellenbogens amputiert und steckt in einem schmutzigen Verband, in Brust und Bauch stecken Metallsplitter einer Granate. Im Bett neben ihm liegt sein Kumpel Muhammad, 32, das rechte Bein oberhalb des Knies wegoperiert, am linken erstreckt sich eine hässliche Narbe von der Leiste bis zur Wade. Eine Zigarette klemmt zwischen Abu Jamans Lippen, obwohl die Stationsschwester das Rauchen verboten hat. Aber Station 5 ist befreites Gebiet, ein Stück Revolution, so sehen es die Patienten. Ein Pfleger drängelt sich in das Zimmer, rümpft die Nase über den Zigarettenqualm und sagt, dass es Zeit sei, die Verbände zu wechseln. Abu Jaman schickt ihn wieder fort. Raus, später. Hier wird gerade an der Revolution gebastelt. Dann zupft er mit der verbliebenen Hand an seinem zotteligen Bart. „Den würde ich mir gerne mal wieder stutzen. Aber das geht gerade leider nicht“, sagt er mit einem Grinsen und wackelt mit dem Armstumpf.

Abu Jaman war nur ein kleiner Bauer in einem großen Schachspiel, dessen Sieger noch nicht feststeht. Im Granathagel brachte er die Toten und Verwundeten in die Feldlazarette der Rebellen. Als er ein Kind retten wollte, explodierte neben ihm eine Panzergranate. Ein Schrapnellsplitter trennte seinen Arm ab, das Kind starb. Dass er seinen Arm verloren habe, sei nicht so schlimm. Das sei sein Beitrag zur Revolution, redet er sich ein. Der Schutzmechanismus eines traumatisierten Menschen, der die Realität ausblendet, um die Gegenwart zu ertragen und sich an der Hoffnung festklammert, dass sein Opfer nicht umsonst gewesen ist – und die Gewissheit, dass das Leben nie wieder so sein wird, wie es einmal war. „Aber dass ich das Mädchen nicht retten konnte, belastet mich. Ich denke jeden Tag an sie“, sagt er.

Um sieben Uhr beginnen die Feierlichkeiten zum Gedenktag des Aufstandes. Ein Aufmarsch der Krüppel und Versehrten, die Plakate in die Luft halten, syrische Fahnen schwenken und Parolen rufen: „Nieder mit Asad! Freiheit für Syrien! Allahu Akbar! Allahu Akbar! “ Junge Männer, in der einen Hand einen Katheter, in der anderen das Gestell, an dem ein Infusionsbeutel hängt, wuseln von Zimmer zu Zimmer, dirigieren mit lauten Gesten. Andere stützen diejenigen, die nicht alleine laufen können, schieben Rollstühle, führen Blinde. Besucher bringen eine Torte vorbei, auf der mit weißem Zuckerguss „Möge Gott deine Seele verdammen, Asad“ steht. Milchigweiße Rauchschwaden von unzähligen Zigaretten hängen unbeweglich auf halber Höhe des Raumes. Sie singen und klatschen in die Hände, bis ihre Stimmen heißer sind und die Handflächen brennen; ein Klangteppich, der von den Stationswänden widerhallt. Die Menge putscht sich in Euphorie und Rage, Al Jazeera filmt. Und irgendwann wacht auch Doktor Ahmed vom Lärm auf, zu müde und erschöpft zu klatschen, ein leises Lächeln umspielt seine Lippen. Dann murmelt er „Freiheit für Syrien“ und macht das Victoryzeichen.