Zeitenspiegel Reportagen

Plötzlich steht einer auf der Telefonzelle

Erschienen in "Neue Zürcher Zeitung", 26. Juli 2016

Von Autor Jan Rübel

Eindrücke vom Alltag am Kottbusser Tor in Berlin

Als die Hochhäuser plötzlich den Blick auf den Platz freigeben und Wind abflaut, verwandelt sich das Kottbusser Tor in eine Arena. „Kotti“, sagen die Berliner liebevoll zu diesem zentralen Kiez Kreuzbergs – ein Platz, der von einem halbrunden Betonriegel der Siebziger Jahre ummauert ist und in dem es wuselt auf den Bürgersteigen und Balustraden, den acht Treppen hinab zur U- und den zwei hinauf zur Hochbahn. Der durchschnitten ist von einem zweispurigen Kreisverkehr und mit seiner Fläche von 200 mal 100 Metern nicht aus den Schlagzeilen kommt.

„Platz der Gesetzlosen“, titelte im September 2015 das Boulevardblatt „B.Z.“. Das war nur der Auftakt. Etwas passiert mit dem Kotti. Die Zahl der Diebstähle verdoppelte sich zwischen 2014 und 2015. Raubtaten nahmen um 55 Prozent zu. „Die Stimmung kippt“, sagen die einen. „Der Kotti ist eine No-Go-Area“, schreiben die anderen. Der Kotti ist ein transkultureller Ort, für 70 Prozent seiner Bewohner findet ein Wort aus dem sozialtechnischen Baumarkt Anwendung, sie haben einen „Migrationshintergrund“. Schon immer war der Kiez ein Magnet für eine Alternativkultur, für das internationale Partywesen Berlins und Subersives. Jetzt vollzieht er einen Wandel. Wie unterm Brennglas bildet sich die ganze Stadt ab: die Armen und Reichen, die Kranken und weniger Kranken, Elend und Rausch, frischestes Obst an den Ständen und dreckigstes Methamphetamin davor; Alkoholshops neben Turnschuh-Clubs mit Türstehern – alles auf engstem Raum. Die Mietpreise explodieren, der Kotti zieht an und vertreibt. Auf diesem kleinen Terrain wird gerade verhandelt, wie das Zusammenleben so aussehen soll, im urbanen Deutschland des 21. Jahrhunderts.

Einer zum Beispiel, gross und hager, lebt davon, dass er den Durchblick hat. Mit zwei Kollegen sondiert er die Lage für einen Läufer, der bringt gleich Haschisch auf den Markt. Er steht vor der Treppe zum Automatensalon „Casino 36“, ein Blick nach links, hinauf zum Balkongang des Betonbaus über die Adalbertstrasse hinweg, zum ersten Backup. Dann nach rechts in die Reichenberger Strasse, beim „Orient Eck“ sichert ein zweiter Backup die Wege in das Labyrinth des Kurvenbaus; doch kein Polizist in Sicht. „Grösser und billiger als nirgendwo“, preist der Läufer seine Ware an. Der Hagere nimmt einen tiefen Zug von seiner Marlboro. Mit der Zeit nimmt er wahr wie ein Leuchtturm, wer nur kurz über den Kotti huscht und wer eine feste Koordinate ist. Er wird eins mit dem Platz. „Wir sind friedlich“, sagt er. „Uns gab es schon immer hier.“ Stress, sagt er, machten die da drüben und zeigt auf eine Gruppe rund um eine junge Frau. Die lachen und springen – und laufen plötzlich Passanten hinterher. „Die sind neu.“

Das Weltgeschehen schwappt an die Kaimauern des Kotti. Im Zuge der Anschläge auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdou“ und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015 in Paris und eines rigideren Vorgehens der französischen Polizei gegen Araber zogen einige „Maghrébins“ nach Berlin. Haben sich zu Banden zusammengeschlossen und leben von ihrer Arbeit als Diebe – am Kotti. Ab und zu handeln sie auch mit diesem und jenem. „Flüchtlinge“ im Schatten der „Willkommenskultur“ Angela Merkels aus dem Sommer 2015 sind sie jedenfalls nicht; die meisten lebten seit Jahren in Frankreich.

Ein Mannschaftswagen der Polizei taucht auf. Die Gruppe rund um die Frau zieht sich zurück an eine Häuserwand. Der Hagere pfeift kurz, aber das Geschäft läuft weiter. Die Beamten steigen nicht aus. Es ist zwölf Uhr mittags. Am Gemüsestand bietet ein Mittfünfziger Auberginen an, sie glänzen in der Frühlingssonne. „Die Palette brauch ich noch“, ruft er einer Gruppe Heroinsüchtiger zu. „Wir suchen nur was“, sagt einer von ihnen und nestelt eine Plastiktüte unter dem Holz hervor. Der Gemüseverkäufer lächelt und nickt mit dem Kopf. „Seit 20 Jahren arbeite ich hier“, sagt er. „Mit denen haben wir nie Probleme gehabt“, er zeigt auf die Drogenkranken, die hier am „Medikamentenmarktplatz“ vor allem Substitutionsmittel und andere Downer, aber auch Kokain und Meth suchen und finden. „Wir gehen uns aus dem Weg, das sind Kottianer wie wir.“ Die neuen Banden aber, „die aus Nordafrika“, sagt der Türke, „bei denen ist nichts mit Koexistenz. Vergangene Woche haben sie einem alten Rentner die Tasche geklaut – da sind wir Händler hinterher. Und keine Spur von der Polizei.“ Aus dem Burgerimbiss gegenüber kommt ein stämmiger Kerl mit feinem Schnurbart hinzu. „Warum müssen wir die Arbeit der Polizei verrichten? Wir denken schon lange über Bürgerwehren nach.“ Er sagt, früher sei er in den türkischen Gangs unterwegs gewesen, damals hätten sie den Kotti kontrolliert. „Das ist alles Geschichte. Wir sind älter geworden. Aber soll unsere Jugend das wieder selbst in die Hand nehmen? Wo ist der Staat?“

Einige Gewerbe und Wohnhäuser haben privaten Wachschutz engagiert. Der patrouilliert entlang der Mauern mit Schlagstock und Pitbull. Auf diesen schmalen Streifen herrscht Kampfhundruhe.

Ercan Ya?aro?lu, um die 50, streicht sich über seine Mähne von silbernen Seitenscheitel. Im Herbst vergangenen Jahres, sagt er, habe es angefangen. Dann seien die Banden gekommen. Ya?aro?lu, Sozialarbeiter und Betreiber des Szenelokals „Café Kotti“, trägt die Sorge um seinen Kiez im Gesicht, es zeigt Furchen und Augenringe. Er steht auf der Balustrade vorm Café und schaut auf den Kotti herab. „Anfangs versuchten wir mit ihnen ins Gespräch zu kommen“, sagt er über die Gruppendiebe. „Aber die hielten sich zurück, wollen keinen Kontakt. Sie wollen sich den Raum nehmen. Treten gemeinsam auf – und wer sich wehrt, kriegt auch mal einen drauf.“ Ya?aro?lu und ein paar Anwohner schrieben an den Senat. „Man tat das ab als unsere persönliche Empfindung.“ Ein paar Zeitungsartikel später habe man sie beschwört: „‘keine politische Gewalt‘ – als wenn es darum ginge. Wir fühlen uns verarscht.“ Dann kam „Köln“, die „Silvesternacht“, das grosse Empören über antanzende Banden. „Für uns war das nur ein Déja-Vue“, sagt Ya?aro?lu und steckt sich eine Zigarette an. Die Leute am Kotti rauchen mehr als anderswo. Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann von den Grünen bemüht sich derweil um Deeskalation. Die „Berliner Zeitung“ zitiert sie mit den Worten: „Der Kotti war ja noch nie ein Ponyhof.“ Die gestiegenen Kriminalitätszahlen hätten auch mit den erhöhten Polizeieinsätzen zu tun, da schlicht mehr erfasst wird, was vorher schon gegeben war. „Trotzdem, die Gewalt hat eine neue Dimension erreicht. Wir haben dort ein Problem.“

Ya?aro?lu ist ein Linker, der vor 30 Jahren vor dem türkischen Militärregime floh. Es gebe genügend Polizei, sagt er. „Nur nicht hier.“ Bürgermeister Michael Müller (SPD), Innensenator Frank Henkel (CDU), kein hochrangiger Politiker habe sich hier blicken lassen. „Es wurden nur die mit Migrantenhintergrund hingeschickt. Das Desinteresse am Kotti ist strukturell.“ Vielleicht, murmelt er, habe das mit den blutrechtlichen Gewohnheiten der Deutschen zu tun. „Wir sollten mal eine Demo auf dem Kotti abhalten, mit unseren deutschen Pässen um den Hals gehängt – damit man sieht, dass auch wir Bürger sind.“ Die Verantwortung für den Kotti schieben sich SPD, CDU und Grüne jedenfalls gegenseitig zu; es ist der typische Berliner Schlendrian zwischen den Bezirken und dem Land Berlin, wo jeder sein Revier absteckt und Versäumnisse erstmal beim anderen sucht. Am Kotti scheiden sich die Geister. Für manchen deutschen Linken ist Ya?aro?lu ein Rechtspopulist, weil er fordert, über die Kriminalität von Migranten offener zu reden. Der fühlt sich in eine Ecke gedrängt, in der er sich nicht sieht.

Ein paar Stunden auf dem Platz erzählen auch eine andere Geschichte als die von Gewalt und Kriminalität. Da hockt im „Tadim Döner“ der Blaumann neben dem Dreiteiler und preist das Kalbsfleisch, welches tatsächlich welches ist. Oben, auf der Dachterrasse der „Xara-Beach“-Lounge wandert der Schlauch der Wasserpfeife. Unten am Strassengitter begrüssen sich Erasmusstudenten aus Italien und Spanien zu einem Schluck Craft Beer aus der Flasche, Europas akademische Jugend hat den Kotti längst zu ihrem Pausenhof erklärt. Und irgendwo ein, zwei Banden. Sie sind nur ein Teilchen im Mosaik. Sie sind da, aber das Gesamtbild des Kottis ist bunt, lebendig, offen und tolerant. Dieses Gemälde ist so anders als in der US-Fernsehserie „Homeland“, die hier am Kotti islamistische Gotteskrieger Bomben legen lässt. Oder anders als das Zerrbild, welches konservative Politiker entwerfen, wenn sie von der „No-Go-Area“ reden: Da ist eine junge Frau, die gemütlich ihren Kinderwagen schiebt, zwei Omis in Kopftüchern auf der Sitzbank – und ein Zettel an den Ampelpfahl geklebt: „Schlüsselbund mit Eiffelturmanhänger gefunden“, darunter eine Telefonnummer. No go sieht anders aus. Rechtsfreie Räume entstehen immer zuerst im Kopf.

Gegen Abend huschen zwei Ratten entlang des Betons. Urinduft liegt in der Luft. Es gibt Gegenden in Berlin, da stehen mehr Mülleimer. Da wird mehr gefegt. Der Kotti trabt in die Nacht. An einer U-Bahntreppe sitzt ein Alter und verkauft Glückskekse auf einer umgedrehten Holzkiste. „Kreuzberger Nächte sind lang, Kreuzberger Nächte sind lang“, singt er den Gassenhauer aus den Siebzigern, „erst fang sie ganz langsam an, aber dann, aber dann.“ Plötzlich Bewegung vor einem Hauseingang in der Adalbertstrasse: Die junge Frau von der Bande verlässt den Flur, begleitet von zwei Polizisten. Die heben ihre Zeigefinger, die Frau grüßt ironisch mit Kusshand zurück und verschwindet in den Katakomben. Die Polizisten steigen in einen Wagen und fahren weg. Es ist kurz vor 19 Uhr. In den folgenden Stunden scheint die junge Frau im schwarzen Top und den langen Haaren überall.

Irgendwelche junge Touristen mit sorglos umschnallten Rucksäcken gibt es immer, denen sie hinterher läuft, sie umgarnt, umtanzt, ein Handgriff hier und da. Mal allein, mal mit Hilfe zweier aus ihrer Bande, mal zu sechst. Wie es scheint, immer ohne Erfolg. Vielleicht liegt es auch am Joint, der kreist und nie auszugehen scheint.

Erst um kurz nach elf fährt wieder ein Mannschaftswagen der Polizei vor. Fünf Minuten vergehen, dann steigen fünf Beamte aus, spazieren zur U-Bahntreppe, halten dort einen jungen Mann fest, durchsuchen ihn. Der hat nur eine fingerlange Haschplatte bei sich. Sie führen ihn ab zum Wagen und fahren davon. Der ganze Einsatz dauert wenige Augenblicke.

Am Kotti herrscht ein entspannter Viervierteltakt. Ins Stolpern kommt keiner, selbst ein junger Glatzkopf in Latzhose mit offener Wodkaflasche in der Hand torkelt sicher. Dieser Platz bräuchte ein paar helfende Hände, das schon. Ein paar ständig präsente Kontaktbereichsbeamte der Polizei, mehr Stadtreinigung, öffentliche Toiletten, mehr Sozialarbeiter, viele Ya?aro?lus. Eine Mietpreisbremse.

Kurz vor Mitternacht steigt ein älterer Mann in zerschlissenen Hosen behände auf die Telefonzelle. Er brüllt: „Ihr Bastardmissgeburten! Töten, ihr alle!“ Unter ihm zieht unbeeindruckt Jungvolk gen „Monarch“, dort läuft gerade ein Poetry Slam. Junge Väter eilen zum Supermarkt für den Wocheneinkauf. Der Mann setzt sich, lässt die Beine baumeln und verstummt.