Zeitenspiegel Reportagen

Romas Geheimnis

Von Autor Philipp Maußhardt

Im Süden Litauens erstreckt sich die Dzukija mit ihren ausgedehnten Kiefer- und Birkenwäldern. Der Wald ernährt seine Bewohner seit Jahrhunderten.

Pünktlich um acht hält der Zug am Ende der Welt. Endstation, bitte alle aussteigen. Der morgendliche Herbstnebel liegt dick und schwer über dem hölzerne Bahnhofsgebäude von Marcin … wie bitte? Marcinkonys. Größtes Dorf im Bezirk Varena und umgeben vom größten Wald Litauens. In welche Richtung man vom Bahnsteig auch schaut: Wald, Wald, Wald und Wald. Durch den Nebel leuchten nur ein paar niedrige Gebäude von jenseits der Bahnschienen herüber: Bauernkaten, blau, rot oder gelb gestrichen.

So lange ist das noch gar nicht her, da verlief hier eine der wichtigsten Verkehrsadern Europas. Die 1864 von deutschen Ingenieuren geplante Eisenbahnstrecke verband die Metropolen Warschau und Sankt Petersburg. Russische Adelige, polnische Gutsherren, jüdische Händler, litauische Bauern, sie alle fuhren im Zugabteil auch am Bahnhof von Marcinkonys vorüber und schauten hinaus auf die kleine Siedlung inmitten einer Lichtung, die die eintönige Sicht auf den eintönigen Wald der Dzukija für kurze Zeit unterbrach.

Heute ist die Bahnstrecke gleich hinter Marcinkonys still gelegt. Gras und junge Birken wachsen zwischen Schotter und rostigen Schienen. Die politischen Verwicklungen zwischen der Europäischen Union und der weißrussischen Halbdemokratie haben die nur wenige Kilometer südwestlich von Marcinkonys verlaufende Staastsgrenze undurchlässig gemacht. Seither ist Marcinkonys ein Sackbahnhof.

Merkwürdig menschenleer ist der staubige Bahnhofsvorplatz an diesem Spätsommermorgen. Als ob hier niemand wohne. Keine Menschenseele zu sehen, nur ein paar Dorfhunde laufen über die Straße. Genau genommen über die beiden Straßen, mehr gibt es nicht. Der Rest sind Sandwege, die rechts und links davon abzweigen und vorbei an kleinen Gärten zu den Höfen führen.

Renata war als einziger Fahrgast aus dem Zug gestiegen und nun läuft die 23jährige Studentin die zwei Kilometer zu Fuß zu ihrem Büro in der Verwaltung des Dzukija-Nationalparks. „Sind wohl alle wieder im Wald“, sagt sie, als sie die menschenleere Siedlung durchquert. Es ist Pilzzeit. Jeder, der auch nur kriechen kann, ist jetzt mit einem Korb im Wald, um Steinpilze, Pfifferlinge oder Grünlinge einzusammeln, die über Nacht gewachsen sind. In den Wäldern um Marcinkonys kann man die Pilze mit der Sense ernten. Sie gehen nicht „Pilze suchen“, sagen die Bewohner der Waldregion: „Wir gehen Pilze finden.“ Bis zu einhundert Kilo Pilze wachsen hier auf jedem Hektar Wald im Jahr. Und der Wald um Marcinkonys erstreckt sich auf fast 50 000 Hektar. Wie ein Berg aus 5 000 Tonnen Pilzen aussieht, hat sich noch kein Mensch vorgestellt, weil es die menschlichen Vorstellungskräfte übersteigt.

Renata ist eine der wenigen jungen Leute aus der Region, die englisch versteht und spricht. Für die Dorfbewohner der Dzukija gab es bis vor kurzem keinen Grund, eine fremde Sprache zu lernen. Dass Touristen hierher kommen, ist neu. Und die wenigen Fetzen russisch, die man früher benötigte, um Formulare auszufüllen oder einen Soldaten zu verstehen, waren schnell erlernt. Umso besser verstehen die Waldmenschen der Dzukija die Sprache der Natur: Sie regiert hier mit ihren weisen Gesetzen von Wachstum und Vergehen, bestimmt den Tages- und Jahreslauf und sorgt wie ein milder Regent dafür, dass keiner ihrer Untertanen an Hunger starb und sterben wird. Der Wald, seine Bäche, die Sümpfe ernähren alle: Sie schenken Beeren, Pilze, Fische, Wild und Honig, Holz, um zu bauen und zu heizen, Kräuter und Wurzeln um gesund zu bleiben, Rinde, um Körbe und Schuhe daraus zu flechten, Schilfgras, um die Dächer zu decken. Und die Natur bestraft jeden streng, der seinen Keller nicht rechtzeitig mit Nahrungsmitteln füllt, bevor der lange Winter kommt .

In Marcinkonys wohnen genau 858 Menschen. Renata öffnet das Gartentürchen zu Danutas Haus, das hinter einigen prall gefüllten Apfelbäumen hellblau hervor schimmert. Wie überall stehen die Türen in Marcinkonys offen, vor wem auch sollte man sich fürchten? „Hätte ich mir denken können, dass sie nicht da ist“, sagt Renata, die Danuta fragen wollte, ob sie heute Abend für eine kleine Gruppe angemeldeter französischer Touristen ihr berühmtes Pfifferlingsgericht kochen kann. Es gibt kein Restaurant im Dorf, darum hat die Parkverwaltung im Keller ihres Gebäudes einen Raum eingerichtet für den seltenen Einfall von hungrigen Gästen.

Danuta ist, wie sollte es anders sein, seit sechs Uhr früh im Wald unterwegs. Ihren alten VW-Golf hat sie auf einem Sandweg abgestellt und sich mit ihrem Korb gleich in die Büsche geschlagen. Der Wald in der Dzukija wirkt wie die Vorlage zur Bebilderung eines kitschigen Märchenbuchs: Moos- und Blaubeerenteppiche überziehen den Boden und die ersten Sonnenstrahlen des Tages werfen ein unwirkliches Licht durch die Kiefern- und Birkenzweige. Wachholder und Ginster wachsen zwischen den hohen Stämmen und silbern schimmern die Netze der Spinnen, die jede Nacht ihre Kunstwerke erneuern.

Danuta hat keine Zeit für die Schönheit. Starr ist ihr Blick auf den Boden gerichtet und kein noch so kleiner orangefarbener Tupfer im grünen Moos entgeht ihrem scharfen Auge: Pfifferlinge – cinturellas – sind in diesem Jahr besonders viele gewachsen, und so füllt sich ihr Korb bei jedem dritten Schritt mit einem weiteren Exemplar. „Ich kann keine Pilze mehr sehen, bis dahin stehen sie mir“, sagt Danuta und macht ein Bewegung mit dem Zeigfinger zum Hals. „Bis dahin!“ Danuta ist von robuster Gestalt. Den Korb dicht an ihren fülligen Körper gepresst rennt sie durch den Wald, als gelte es, die Pilze im Akkord aufzulesen. Neben dem Hilfsjob in der Küche der Parkverwaltung verdienen Danuta und ihr Mann ihr Geld mit dem Sammeln von Beeren und Pilzen. Für ein Kilo Blaubeeren zahlen die Aufkäufer in dieser Saison 9 Litas (rund zwei Euro), ein sensationeller Preis. Und die Moosbeeren aus den Sumpfgebieten sind noch besser bezahlt. „Ohne den Wald wären wir aufgeschmissen“, sagt sie, „das war unter den Sowjets so, das ist jetzt so und das wird immer so bleiben.“ So gesehen hat sich für die Bewohner nicht viel geändert: „Was soll sich schon geändert haben?“, fragt Danuta: „Wer früher nichts arbeiten wollte, will es heute auch noch nicht.“

Und doch hat sich etwas verändert in der Dzukija. Erst langsam, kaum merklich, sind vor Jahren die ersten jungen Leute fort gezogen. Erst schloss die Schule in Musteika, dann in Margionys. Die Totengräber auf den Waldfriedhöfen hatten viel zu tun während die Hebammen untätig herum saßen. Auf 14 Neugeborene in den Dörfern kamen in einem Jahr mehr als 100 Beerdigungen.

Die Dzukija stirbt langsam aus. Nicht einmal einen Pfarrer hat die katholische Kirche hier belassen, und so wollen auch nur wenige junge Menschen in dieser gottverlassenen Gegend bleiben. Sie ziehen fort in die Städte, nach Druskininkai, nach Kaunas oder Vilnius. Mit ihnen verschwindet das Wissen vom Wald und seinen Schätzen. „Wo meine Kinder sind?“ Ona Mazgeliene hält schon die Frage für überflüssig weil leicht zu beantworten: „In der Stadt natürlich“, sagt die alte Bäuerin aus Kapiniskes, einem Dorf, das aus nicht mehr als zwei Dutzend Häusern besteht. Auf den Wiesen des Weilers grasen vereinzelt Kühe, mal wiehert ein Pferd auf der Weide. Kindergeschrei hört man hier nicht mehr. „Wir sind die Letzten, und wenn ich ehrlich bin, ich kann es auch verstehen.“ Im Schuppen jenseits des Hofes sitzt ihr Mann Tomas, sortiert und putzt die Pilze, die er am Morgen aus dem Wald getragen hat. „Wie geht es Ihnen?“, fragt der alte Bauer in gebrochenem Deutsch. Sprachfetzen aus seiner Zeit als Zwangsarbeiter in Deutschland. Es war die einzige „Reise“ in seinem Leben, die ihn außerhalb des Waldes führte.

Fast 80 Dörfer und Weiler, oft nicht größer als fünf Häuser, verteilen sich über die Dzukija. Sie war schon früher die am dünnsten besiedelte Gegend Litauens. Heute ist sie es mit großem Abstand. Drei Einwohner auf einen Quadratkilometer hat man bei der letzten Volkszählung noch angetroffen, Tendenz weiter fallend. Während sich Tomas durch den Besuch nicht aus der Ruhe bringen lässt und weiter die Pilze sortiert, kocht Ona in der Küche eine Sauerampfersuppe für den Abend. Alle Zutaten dazu stammen aus dem kleinen Garten oder dem nahen Wald. Den Sauerrahm dazu liefert die Kuh im Stall. Im fahrbaren Laden, der dreimal in der Woche durch Kapiniskes fährt, kaufen sie nur Zucker, Salz, Mehl und manchmal Wurst.

Selbst gutes Zureden hilft auf dem unfruchtbaren Boden nichts: Die Kartoffeln werden in dem sandigen, nährstoffarmen Boden einfach nicht viel größer als Taubeneier. Für Schweinefutter gut genug. Bis zu 30 Meter mächtig sind die eiszeitlichen Sanddünen, auf denen die Bewohner nur mit viel Mühe ein wenig Gemüse für den Eigenverbrauch erzeugen. Große Felder findet man hier keine. Getreide wächst anderswo, jenseits der Wälder in den fruchtbaren Ebenen von Alytus. Nur der anspruchslose Buchweizen holte sich in den sumpfigen Senken der Dzukija gerade noch genügend Nahrung aus dem Boden und diente, bis die Sowjets kamen, den Bauern als Grundlage für ihr Brot. Sie verboten die privaten Mühlen und das Brot kam ab sofort aus der Fabrik.

In einem Regal neben dem mächtigen Holzofen hat Ona Mazgeliene Gläser voll mit Gurken gestapelt, auch eingelegte Kürbisse und Marmeladen aus Preiselbeeren. In Steintöpfen gärt Sauerkraut. Vom nahen Sumpfgebiet der Cepkelju stammen die leuchtend roten Moosbeeren in einem Eimer, die ohne Konservierungsmittel den ganzen Winter über halten und für ausreichend Vitamin C sorgen. „An Weihnachten kommen meine fünf Kinder und es wird Kisijelus geben“, sagt Ona: ein Getränk aus Moosbeeren, Zucker, Wasser und Kartoffelstärke. Dazu reicht sie süßes Pilzgebäck.

Mohnmilch, eingemachte Grünlinge, Honiglikör, Tee aus Blaubeerblättern und Bohnenhülsen – die Rezepte aus der Dzukija stehen in keinem Kochbuch und werden mit den Alten untergehen.

Wer nach Romas Norkunas sucht, muss nur immer nach oben schauen. Irgendwann wird man einen Mann in fünf Meter Höhe an einem Baum schaffen sehen, wie er vorsichtig mit einem Nagel den Verschluss zu einem Bienenstock öffnet. Warum Bienenkästen bauen, wo die fleißigen Tiere doch auch in ausgehöhlten Bäumen ihren Honig produzieren? Die Pflege von Wildbienen-Völkern hat in der Dzukija eine lange Tradition und Ramos ist einer der wenigen, der sie noch beherrscht. Er hält seine Bienenvölker in ausgehöhlten Kieferbaumstämmen. Dazu sticht er in noch gesunde alte Kiefern große Schlitze, in denen sich anschließend Bienen ansiedeln. Die Hohlräume verschließt er sorgsam mit einem Holz. Bevor Romas die Verschlüsse öffnet, um die vollen Waben zu ernten, bläst er mit einem Blasebalg Rauch in die Ritzen. Das beruhigt die Bienen. Den Rauch erzeugt er mit getrockneten Baumpilzen, die er über Nacht in Wasser und Asche eingelegt und anschließend getrocknet hatte. Mithilfe eines Feuersteins, den man in der Gegend häufig im Boden findet, schlägt er Funken und bläst sachte, bis der präparierte Baumpilz zu glimmen beginnt .

Romas ist rätselhafter Mann. Vor mehr als zehn Jahren tauchte der hagere Fremde hier auf und kaufte in Musteika, einem Nachbardorf von Marcinkonys, ein vom Verfall bedrohtes, verlassenes Bauernhaus. Er sprach nicht viel, aber in kurzer Zeit lernte er von den alten Dorfbewohnern alle Fertigkeiten des Waldes: Wie man mit Schilf ein Dach deckt, wie man Feuersteinen den Herd entfacht, wie man Bäume fällt allein mit der Axt. Nie sah man Ramos in einem Auto fahren, nie ein elektrisches Gerät verwenden. Alles wollte er mit seinen eigenen Händen vollbringen, und das Misstrauen der Waldbewohner wich allmählich großem Respekt. Heute ist Romas einer der Letzten, der wilde Bienen kultiviert, aus Birkenrinde Schuhe flicht oder Apfelspeck in einem Strumpf aus grobem Leinen herstellt.

Am fünften Tag hat Romas dann doch noch ein paar Sätze gesprochen und sein Geheimnis gelüftet. Er sprach leise und schnell und in gutem Englisch. Philosophie habe er studiert in Vilnius und als Austauschstudent ein Jahr lang in San Franzisko gelebt. Der Lärm, die Hektik, diese Masse von Menschen, die entfremdet von der Natur wie Rädchen einer Maschine funktionierten. Es hat ihm nicht gefallen. „Ich habe in Amerika überhaupt nichts gesehen, was mir gefallen hätte.“ Nach seiner Rückkehr aus den USA wollte er weit weg von allem, was man Zivilisation nennt. An einen Ort, am Ende der Welt. In Musteika fand er schließlich, was er suchte.