Zeitenspiegel Reportagen

Schatzsuche am Kattegat

Erschienen auf "focus.de", 25. Mai 2013

Von Autor Bernd Hauser

In einem abgelegenen Dorf in Dänemark taucht ein 90-jähriger Deutscher auf. Als junger Soldat habe er dort geholfen, einen riesigen Nazi-Schatz zu vergraben. Manch einer vermutet dort jetzt sogar das legendäre Bernsteinzimmer – andere wollen die Geschichte lieber vergessen.

Hildo Rasmussen stapft in seinen Holzpantinen durchs Unterholz, zwei Rehe springen erschreckt davon. Dann steht der 71-Jährige auf einer Anhöhe am Rande von Asaa: „Genau hier war ein Maschinengewehr-Nest. Die Bäume gab es noch nicht – die Deutschen hatten freie Schussbahn bis zur Küste.“ Nach dem Krieg habe er als Sechsjähriger in den Schützengräben gespielt, habe Patronen und ein Bajonett gefunden. Bis heute stecken Eisenpfähle im Boden. „Sie dienten dazu, Stacheldraht aufzuspannen und das Gebiet abzusperren“, erzählt Rasmussen: „Wenn der Schatz irgendwo liegt, dann hier.“

Asaa ist ein vergessener Flecken am nördlichen Rande Dänemarks. Die Jungen gehen zum Studieren und Arbeiten in die Städte. Die Alten trinken dünnen Kaffee in Katen, die sich vor dem wütenden Wind ducken. Die Landmaschinenfabrik hat schon lange dichtgemacht, die Textilfabrik sowieso, und gerade hat der 60-jährige Thorkild, der letzte von drei Dutzend selbständigen Fischern, seinen Kutter verkauft, weil sich in den Netzen kaum noch Plattfische und Dorsche fanden: Asaa ist ein Dorf ohne Zukunft.

Aber seit einer Woche keimen Hoffnung und Stolz. In seinem Haus einen Handgranatenwurf von dem einstigen MG-Nest entfernt, zeigt Gemeinderat Hildo Rasmussen lächelnd auf die Homepage der Stockholmer Zeitung „Expressen“: „Auch die Schweden berichten über uns!“ Als die landesweite dänische Zeitung „BT“ Wind davon bekommt, dass FOCUS vor Ort recherchiert, titelt sie: „Jetzt suchen auch die Deutschen den Nazi-Schatz.“ Und: „Das Goldfieber rast weiter.“

Schuld daran ist ein 90 Jahre alter Herr aus Wallerfangen im Saarland, der gerne Fliege und Kapitänsmütze trägt. „Politiken“, die wichtigste Zeitung in Kopenhagen, hat sein zerfurchtes Gesicht sogar auf der Titelseite gedruckt: Wilhelm Kraft sitzt in einem Holzhäuschen auf dem Campingplatz von Asaa, auf dem Tisch stehen welke Wiesenblumen und eine Tube Pferdesalbe. „Gegen die Gelenkschmerzen“, erklärt er in saarländischer Mundart. „Hüfte, Blase, Ohren, Augen – alles ist kaputt.“ Und trotzdem hat er die Strapaze einer langen Zugreise nach Norddänemark auf sich genommen: „Ich musste fünfmal umsteigen.“

Er fühle die lang versäumte Pflicht, die Dänen von dem ungeheuren Schatz zu unterrichten, den er als 21-Jähriger zu vergraben half: „In Asaa liegt das Bernsteinzimmer, Edelmetalle aus den Kirchen Russlands oder Gold der ermordeten Juden“, sagt er und sucht ein sieben Jahrzehnte altes Foto heraus. Es zeigt einen zarten Jungen mit welligem Haar, der „noch keine Erfahrung mit Frauen“ hatte: Wilhelm Kraft in Uniform.

Im Spätherbst 1944 seien er und vier Dutzend weitere deutsche Soldaten in der örtlichen Schule einquartiert gewesen. Jeden Tag seien sie zum Graben befehligt worden: „Mit Schaufeln, Spaten und Eimern gruben wir drei hintereinander liegende Gruben.“ Vier Meter breit, sechs Meter lang und vier Meter tief seien sie gewesen. „Alles war hoch geheim. Nicht einmal unser Oberleutnant wusste, wofür sie dienen sollten.“

Doch dann sah Wilhelm Kraft schwer bewachte Güterwaggons am örtlichen Bahnhof stehen. Die Tür eines Waggons war einen Spalt weit geöffnet. „Ich schlich hin und sah große Holzkisten“, erzählt er. „Aber als die Wachleute mich sahen, schoben sie die Tür sofort zu und sagten, ich möge verschwinden.“

Wilhelm Kraft glaubt, dass die Holzkisten in den Löchern vergraben wurden. Sicher kann er das nicht wissen, denn vor Abschluss der Grabarbeiten sei er aus Asaa abkommandiert worden. Aber allein aufgrund seiner voller Überzeugung vorgetragenen Theorie kam neben dem öffentlichen Rundfunk und privater Fernsehsender auch Sidsel Wåhlin zu Besuch, Archäologin im Museum der Region Vendsyssel.

„Wilhelm Kraft ist ein ernst zu nehmender, spannender Herr“, sagt die 39-Jährige. Problematisch ist nur, dass Wilhelm Kraft nicht mehr genau sagen kann, wo er gegraben hat. Er meint, es sei direkt an der flachen Küste gewesen. Die hatte vor 70 Jahren aber einen ganz anderen Verlauf – ein etwa 400 Meter breiter Streifen Flachwasser ist inzwischen zu Marschland geworden, eine Bucht wurde ausgebaggert und der Sand in Form einer Landzunge angehäuft, um Platz für Strandhäuschen zu schaffen.

„Ich werde jetzt die Luftbilder der deutschen Luftwaffe von 1944 mit dem heutigen Küstenverlauf vergleichen“, erklärt die Archäologin. Zumindest ein wenig hilft die Aussage von Wilhelm Kraft, dass der Fußmarsch von der Schule bis zum Grabungsort „genau zwei Lieder lang“ gedauert habe. Außerdem beschrieb Kraft den Untergrund als sehr lehmig, was die Nähe des Strandes eher ausschließt.

Doch an einen Schatzfund glaubt Sidsel Wåhlin nicht: „Ich vermute, dass die Löcher für Bunkerbauten im Zusammenhang mit den Kleinst-U-Booten ausgehoben wurden.“ Vor der Küste testeten die Deutschen eine ihrer „Wunderwaffen“: Dutzende von Ein-Mann-Torpedo-Booten kamen per Eisenbahn nach Asaa. Wirklich finden könnte man aber wohl erst etwas, wenn man teure geophysikalische Erkundungsmethoden einsetzen würde. „Dafür hat unser Museum keine Mittel“, sagt Wåhlin. „Wir sind aber bereit, zu helfen und die Suche zu koordinieren, wenn ein Geldgeber für solche Methoden auf uns zukommt.“

Entgegen Wåhlins Vermutung bringt Niels Bo Poulsen, Chef des Militärhistorischen Instituts der dänischen Streitkräfte, gegenüber FOCUS eine andere Theorie auf: „Es könnte sein, dass Wilhelm Kraft dabei half, Depots für spätere Sabotageaktionen anzulegen.“ In solchen unterirdischen Lagern, so der Plan der Deutschen, sollten sich dänische Nazis nach einer befürchteten Landung der Alliierten mit Waffen und Sprengstoff versorgen können, um einen Partisanenkrieg zu führen.

Unwahrscheinlich ist diese Theorie nicht, wenn man weiß, wie braun der Landstrich war. Hobbyhistoriker Martin Skovgaard öffnet im kleinen Hafenmuseum von Asaa ein Fotoalbum. Auf einem Bild sieht man 60 Männer, Frauen und Kinder in Nazi-Uniformen. Über ihnen steht auf einer Tafel auf Dänisch: „Dänemark erwache!“ Aufgenommen ist das Bild 1941 im Nachbarort Agersted, einem besonders braunen Nest, wo ein beliebter Nazi-Tierarzt praktizierte und zur Wahl 1939 rund 90 Prozent für die DNSAP, das dänische Pendant der NSDAP, gestimmt haben sollen. Aber auch in Asaa hatte die Partei 19 Mitglieder. „Dieses Foto zeigen wir erst seit kurzem öffentlich – wir wollten die Gefühle der betroffenen Familien nicht verletzen“, erklärt der 81-Jährige.

So rührt der Besuch von Wilhelm Kraft auch an große Tabus. Natürlich gab es Liebschaften zwischen deutschen Soldaten und dänischen Frauen, sagt der 83-jährige Arne Hjelm, der sich mit Skovgaard ums Museum kümmert. „Manche hatten Glück, andere nicht.“ Will heißen: Sie wurden schwanger – und nach Kriegsende gedemütigt. „Es ist kein schönes Erlebnis, wie einer Frau der Kopf geschoren wird, wie das lange Haar auf der Straße liegt und die Anwesenden darauf spucken“, sagt Skovgaard.

Natürlich gebe es „Tyskerbørn“ („Deutschenkinder“) in Asaa. Wie viele? Skovgaard schweigt. Dann sagt er: „Auch meinen Kindern habe ich nicht alles erzählt. Jeder kennt jeden. Warum die Enkel damit belasten?“ Das Thema rührt an tiefe Scham – auch an die derer, die dabei waren, wenn Frauenhaar auf die Straße fiel.

Viel lieber reden die Einheimischen darüber, wie froh sie sind über die Aufmerksamkeit, die ihr Dorf plötzlich bekommt. Im Billardclub, in der Bäckerei, in der Rentner-Kaffeestube am Hafen: Alle Befragten erhoffen sich Chancen für den Tourismus, eine steigende Nachfrage für den Campingplatz und damit die Wiedereröffnung von Ladengeschäften und dem Restaurant. Weniger Einigkeit herrscht dagegen bei der Frage, ob Kraft tatsächlich half, einen Schatz zu vergraben.

„Die Menschen hier sind ein skeptischer Menschenschlag“, sagt Viggo Martinsen, ein alter Fischer, an beiden Handgelenken trägt er Armbänder aus Bernstein, „das hilft gegen Gicht.“ Dann wird seine Stimme raunend: „Ein alter Bauer, der unlängst gestorben sei, hat mir schon lange erzählt, wo die Deutschen etwas vergraben haben.“ Warum er den Schatz dann nicht hebe? „Im Fernsehen haben sie erzählt, dass die Nachfrage nach Metalldetektoren in der Region um 50 Prozent gestiegen ist“, sagt er. „Ich warte, bis sich der Rummel gelegt hat, dann hole ich mir das Bernsteinzimmer.“ Der alte Fischer lacht kehlig.

Geld interessiere ihn nicht. „Ich finde Bernstein einfach schön, als Kind habe ich ihn schon gesammelt. Bei starkem Ostwind werfen ihn die Wellen auf die Küste.“ Es gibt keinen Zweifel: In Asaa gibt es Schätze zu entdecken.