Zeitenspiegel Reportagen

Tanz mit dem Schutzengel

Erschienen in "Stuttgarter Zeitung", 27. März 2017

Von Autorin Isabel Stettin

Kann man tanzen, ohne die Musik zu hören? Ohne seine Partner zu sehen? In Esslingen stehen jetzt Tanzprofis und Menschen mit Behinderung zusammen auf der Bühne. Einblicke in ein ungewöhnliches Projekt.

Esslingen - Dienstagabend im Esslinger Kulturzentrum Dieselstraße. Mohammad Reza Golemohammad greift Helmut Glasers Arm, fährt seine Hand entlang bis zu den Fingerspitzen. „Streck sie aus. Genau so.“ Mit geduldigen Worten und sanften Berührungen erklärt er seinem Mittänzer, welche Schritte er gehen soll. Sein Körper bildet eine Einheit mit Glaser. Er steht hinter ihm, nur seine Arme sind noch zu sehen, sie umtanzen ihn wie eine züngelnde Flamme.

Szenenwechsel. Tock-tack-tock. Diana Weinhardt klopft mit dem Blindenstock auf den Boden der Bühne. Helmut Glaser antwortet. Dann schreiten sie los, die ­Blindenstöcke waagerecht in die Luft gestreckt, gehen sie aufeinander zu, treffen sich in der Mitte, tasten sich vorsichtig voran, bis ihre Stöcke aneinanderklackern und sich ­kreuzen. Weinhardt trippelt leichtfüßig, schwingt die Beine wie eine Flamenco-Tänzerin. Glaser stampft auf.

Seit gut einem halben Jahr studieren der Choreograf Grégory Darcy und fünf Tänzer mit Handicap eine Choreografie ein, begleitet von den Profitänzern Irena Trisic und Mohammad Reza Golemohammad. Bis zu zweimal pro Woche üben sie, mal getrennt, mal gemeinsam. Zunächst musste Darcy ausloten, wo die Grenzen der unerfahrenen Tänzer liegen, welche Schritte überhaupt möglich sind.

Er steht am Bühnenrand: „Wir sind alle stark in diesem Moment. Befreit euch!“ Die weißen Stöcke landen in der Ecke. Im Alltag sind sie unverzichtbar, auf der Bühne sollen sich Diana Weinhardt und Helmut Glaser aber davon lösen.

Glaser ist 74 Jahre alt, ein Kind der Kriegsgeneration. Als Baby bekam er eine Hirnhautentzündung, verlor sein Augenlicht fast vollständig, mit 18 Jahren schwand schließlich die letzte Sehkraft. Die äußere Welt ist für ihn schwarz. Einschränken lassen wollte er sich davon nicht. Er ist Physiotherapeut, Skifahrer, schwimmt im offenen Meer, segelt, fährt Hunderte Kilometer mit dem Tandem. „Durch das Tanzen will ich mein Körpergefühl verbessern“, sagt er. Die Orientierung auf der glatten Bühne ohne prägnante Punkte und Abweichungen ist seine größte Herausforderung. „Und es hat gedauert, bis ich die Stimmen aller Teilnehmer zuordnen konnte.“

Die Herausforderung für den 45-jährigen Choreografen aus Stetten: Er muss sich auf jeden Tänzer einstellen. In der Probe vergisst Darcy, dass Glaser blind ist. Immer wieder rutscht ihm ein „schau mal“ heraus.

„Tanz mit der Schönheit“ nennt er sein Projekt. Er bringt Sehende und Nichtsehende, Hörende und Gehörlose, Menschen mit und ohne Handicap zusammen, Laien mit Profis. Tanzen ist für Darcy ein verbindendes Element: Jeder kann sich einfach einklinken, die Bewegung wird zur Sprache. „Durch Kunst können wir sehen, was für ein Mensch da auf der Bühne steht. Da ist diese Vibration“, sagt Darcy. „Das möchte ich zeigen.“

Angela Ehrlich hat die Gruppe mit ihrem Lebensgefährten Darcy zusammengestellt. Sie kontaktierte Blindenverbände, die Diakonie, den Verein für Körperbehinderte Esslingen, eine Schule für Hörbehinderte in Nürtingen. Die Tänzer haben sich freiwillig gemeldet, aus Neugier. Oder wie Helmut Glaser und Diana Weinhardt, weil sie eigentlich vermutet hatten, es ginge dabei um Paartanz. „Am Anfang dachte ich: Was macht denn der da mit uns?“ Diana Weinhardt muss lachen.

Die Tanzschritte waren ungewohnt, die verschiedenen Formationen und Figuren sowie die Abfolge wollten sich nicht einprägen. „Wir untereinander brauchen viel Einfühlungsvermögen, damit es funktioniert. Alle.“ Immer wieder geht es dabei um die Frage: Wie können wir uns gegenseitig Hilfestellungen geben und aufeinander abstimmen? „Das war viel Experimentieren.“ Diana ist fast vollständig blind, zudem hörgeschädigt, ihr Gleichgewichtssinn dadurch eingeschränkt. „Vor allem die Ballettelemente fielen mir schwer.“

Konzentriert liest Nicole Tannenbaum von den Lippen die Anweisungen ihrer Mittänzer. Die junge Frau hat ihre Locken zusammengebunden, trägt eine weite Hose. Sie liebt Hip-Hop, obwohl sie die Musik nicht hören kann. Doch wenn der Percussionist Hans Fickelscher neben ihr trommelt, spürt sie, wie die Bühne vibriert, das gleißende Scheinwerferlicht gibt den Rhythmus vor. Zaghaft legt sie los, wird dann schneller, ihre Hüften schwingen, sie dreht sich, die Arme lässig vor dem Körper.

Darcy formt seine Worte überdeutlich und schaut Nicole Tannenbaum dabei tief in die Augen: „Nimm dir den Raum. Lass dir Zeit. Die Bühne ist für dich.“ Wenn sie ihr Solo tanzt, erkennt ein ahnungsloser Zuschauer nicht mehr, dass sie taub ist. Sie bewegt sich im Takt. „Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Wenn sie ihr in den Magen fährt. Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist. Wenn der Boden unter den Füßen bebt.“ Darcy will kein klassisches Inklusionsprojekt

Der Tanz macht die Musik, das ist das Konzept. Die Musiker stimmen alle Stücke auf die Tänzer ab, nicht umgekehrt. Nach Gefühl entwickeln sie ihre Begleitung und nehmen die Tänzer buchstäblich an die Hand. Zart lässt Nina Haarer die Saiten der Harfe anklingen. Dann legt sie das Instrument weg, nimmt ihre Shakuhachi, eine japanische Bambusflöte.

Mal ist es ein Gong, mal ein Trommelschlag, ein Aussetzen der Musik, der einen Rhythmuswechsel oder Einsatz signalisiert. Eine unverzichtbare Orientierung für die Tänzer. Das Bühnenbild ist reduziert, schwarz dominiert, wenige bunte Lichter. Auch sie geben den Rhythmus vor.

Darcys Projekt richtet sich an Teilnehmer, die sonst schwer den Zugang zu Tanz finden. Ihm geht es um mehr. Er will kein klassisches Inklusionsprojekt, „bei dem die Tänzer mit Behinderung nur auf der Bühne stehen“. Er hat hohe Ansprüche: an seine Tänzer, ihre Performance, die Symbolkraft seiner Choreografie.

Im Takt stampfen die Tänzer auf, umfassen sich, legen einander die Arme um die Schulter, tanzen im Halbkreis. Sie bilden Paare, stellen sich in eine Reihe, fassen sich an den Händen, schwingen wie ein Pendel.

Grégory Darcy will Fragen aufwerfen, die Antworten muss sich jeder Zuschauer selbst geben. Was und wer ist schön? Warum wird eine Behinderung meist nur als Defekt wahrgenommen, nie die Bereicherung gesehen? Wie sieht er aus, der perfekte Körper? Lassen sich die Sinne täuschen? „Jeder Schritt soll Sinn ergeben.“ Denn Vorstellung von Schönheit, sagt Grégory Darcy, ist oft eindimensional. Grégory Darcy hat sein Konzept mehrmals umgeworfen, geblieben sind seine klaren Vorstellungen, was er mit dem Stück ausdrücken will: Er spricht von einer göttlichen Stimmung, lässt auf der Bühne Botticellis Venus zur Welt kommen. Er zeigt ein Bild, erklärt den blinden Tänzern, was darauf zu sehen ist. Am Ende, so seine Idee, sollen die Tänzer es dann nachstellen.

Der Choreograf erzählt Geschichten. „Ihr seid wie Mutter und Tochter“, weist er Diana Weinhardt und Irena Trisic an. Sanft sollen sie sich in den Armen wiegen. „Ihr seid seine Schutzengel“, sagt Darcy zu den Profis. Sie tanzen um Julius Könekamp, einen aufgeweckten 20-Jährigen, derbe schwarze Stiefel an den Füßen. Seine Haare fallen ihm immer wieder ins Gesicht. Er breitet die Arme zu Flügeln aus und rennt – gestützt von den Tänzern – lachend über die Bühne. Er improvisiert, die Profis richten sich nach seinem Tempo.

„Schüchtern und scheu“ hat Mohammad Reza Golemohammad anfangs die Bewegungen der Laien empfunden. „Aber mit der Zeit ist die Bühne wie ein Zuhause für sie geworden. Sie können sich richtig ausdrücken, das ist für mich ein schönes Ergebnis.“ Sie lernten wieder, überrascht zu werden auf der Bühne, sagen die Profitänzer. Sie haben damit experimentiert, wie es für sie wäre, blind zu sein, sich vorgestellt, was es bedeutet, keine Musik zu hören, um sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen. Für die Profis geht es nicht nur darum, im Scheinwerferlicht zu glänzen. Sie wollen ihre Mittänzer glänzen lassen, dienen dabei das Auffangnetz, als doppelter Boden. Das Projekt bedeutet für sie auch, auf den anderen aufzupassen.

„Wie eine Explosion und Fusion“, sagt Darcy. „Sie drehen sich wie Elektron und Neutron umeinander, werden magnetisch angezogen und abgestoßen.“ Die Tänzer sind Moleküle, alle mit unterschiedlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, die sich annähern, zueinanderfinden, wieder abstoßen, zusammenwachsen und etwas Neues entstehen lassen.

Durch seine Worte schimmert hervor, dass Darcy nicht immer Tänzer war. Der gebürtige Franzose hat Luft- und Raumfahrtechnik studiert, bei Airbus und der Nasa in Houston als Ingenieur gearbeitet, bevor er Tanz, bildende Kunst und Film in Berlin und Paris studierte. Für den Film „Tanz mit der Dunkelheit“ hat er Kinder zum Holocaust befragt. In seinem letzten Tanz- und Dokumentations-Projekt „Menschen“ erzählten Flüchtlinge ihre Geschichte – mit Worten und tanzend. Dolmetscher für Hörgeschädigte

Darcy zieht Parallelen zu seinen Vorgängerprojekten: Immer wieder geht es dabei um das Fremde, Andersartige. „Derjenige ist anders als ich. Es interessiert mich, das zu analysieren.“ Vor der Zusammenarbeit war er den Umgang mit Menschen mit Handicap kaum gewöhnt. Berührungsängste zu überwinden, mehr wahrzunehmen als einen ersten Eindruck, das will er mit der Zusammenarbeit erreichen.

„Wir wollen nicht nur Schönheit zeigen. Wir wollten zeigen, was für eine Bereicherung das sein könnte für unsere Gesellschaft“, sagt Grégory Dracy. „Menschen mit einer Behinderung sehen unsere Welt, sie fühlen unsere Welt anders. Das gibt für uns eine neue Perspektive.“

Mit seiner Performance will er auch Menschen erreichen, die normalerweise nicht ins Theater gehen, „weil sie das nicht greifen und nicht erleben können“. Ein Dolmetscher für Hörgeschädigte beschreibt während der Performance in Gebärdensprache die Musik. Für blinde Zuschauer gibt es Kopfhörer, sie sollen live hören können, was auf der Bühne passiert.