Zeitenspiegel Reportagen

Unter Zwang?

Erschienen in mare No. 132, Februar/März 2019

Von Autor Bernd Hauser

Die deutsche Wehrmacht hatte die Strände in Dänemark vermint – und sollte sie nach Kriegsende auch wieder räumen. Dabei starben 150 Soldaten, darunter viele Jugendliche. Der oscarnominierte dänische Spielfilm „Unter dem Sand“ wirft die Frage auf: Wer trägt die Schuld an den Toten?

Frühsommer 1945 an der dänischen Küste, die Sonne gleißt über den Wellen vor dem breiten weißen Strand. Eine sanfte Brise weht. Es ist Frieden! Hinter den Dünen arbeiten sechs Jungen, sie tragen Uniformen, doch mit ihren schlaksigen Körpern und Wangen ohne Bartschatten sehen sie nicht aus wie richtige Soldaten. Sie wuchten schwere Metallplatten auf einen Lastwagen: entschärfte Tellerminen. Sobald die Jungen mit ihrer Arbeit fertig sind, können die Menschen endlich wieder an den Strand. Plötzlich ein Knall, ein Feuerball: Beim Aufladen ist eine der Minen explodiert – und mit ihr die ganze Wagenladung. Von den sechs Jungen ist nichts mehr zu finden.

Wie kann eine Mine nach dem Entfernen des Zünders explodieren? Ein Fabrikationsfehler? Der 2017 mit dem Oscar für den besten ausländischen Film nominierte dänische Spielfilm „Unter dem Sand“ von 2015 gibt darauf keine Antwort. Regisseur Martin Zandvliet interessiert sich für eine andere Frage: Trägt Dänemark Mitschuld am Tod von deutschen Kriegsgefangenen, viele von ihnen gerade 16 oder 17 Jahre alt? „Wer alt genug ist, in den Krieg zu ziehen, kann danach auch aufräumen“, sagt ein dänischer Offizier in dem Film. Die minderjährigen Soldaten werden zur Eile angetrieben, müssen arbeiten, wenn sie krank sind, bekommen wenig zu essen. „Man hätte diese Jungen besser behandeln sollen“, sagte Zandvliet zur Premiere. „Das war nicht ihr Krieg, aber wir sind als Rächer aufgetreten.“

Solche Sätze treffen das dänische Selbstverständnis tief. Sind nicht die Angehörigen des dänischen Widerstands in der Jerusalemer Holocaustgedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet worden für die Rettung fast aller dänischen Juden, die nächtens mit Fischerbooten über den Öresund nach Schweden gebracht worden waren, eine Glanzleistung der Zivilcourage? Das Land hat die deutsche Besatzung und den Krieg mit Anstand überstanden: Diese Überzeugung wird in Dänemark kaum angezweifelt. „Doch eine unterdrückte Nation, die immer nur Gutes tun wollte und selbstverständlich zahlreiche Helden in der Widerstandsbewegung hatte: Das kann nicht die ganze Wahrheit sein“, erklärte Zandvliet. „Fünf Jahre deutsche Besatzung haben bei den Dänen verständlicherweise viel Hass aufgestaut.“

Auszubaden hatten ihn die jungen deutschen Soldaten nach der Kapitulation, meinte der Historiker Helge Hagemann Ende der 1990er-Jahre, dessen Buch „Under tvang“ („Unter Zwang“) Zandvliet inspirierte. Seine These: Laut Genfer Konvention dürfen Kriegsgefangene nicht zu gefährlichen Arbeiten herangezogen werden; der Tod von rund 150 Minenräumern sei demnach ein Kriegsverbrechen. Hagemann zitiert aus einem Protokoll Hauptmann Geuers, der die deutschen Minenräumer anführte: „Die Soldaten gehen nur noch unter Zwang und unter Zittern ins Minenfeld. Es ist unmöglich, ihnen Befehle zu erteilen, denn sie sagen sich: Ob wir bei der Minenräumung Augen, Hände oder Beine verlieren oder gar getötet werden oder ob wir von den Engländern erschossen werden, ist uns gleichgültig.“

Mit dem Bericht will Geuer eine bessere Lebensmittelversorgung für seine Leute erreichen. Es ist also möglich, dass er die Situation überzeichnete. Aber irgendjemand musste die Arbeit erledigen, und ein zeitgenössischer Dokumentarfilm, von der dänischen Regierung nach der deutschen Kapitulation in Auftrag gegeben, lässt keinen Zweifel, von wem. „Wir brauchen nicht länger Bomben und den Terror der Deutschen zu fürchten“, sagt der Sprecher. „Aber eine bösartige und todbringende Sache ist uns geblieben.“ Man sieht ein kleines Mädchen durch die Dünen hüpfen, gefolgt von einem schnellen Schnitt auf eine Explosion. Dann Minenräumer bei der Arbeit und der Sarkasmus des Sprechers: „Eineinhalb Millionen Landminen haben die Deutschen vergraben. Jetzt erhalten sie die Erlaubnis, sie wieder auszugraben.“

Wieder eine Detonation, ein blutjunger Leutnant mit Augenklappe schaut erschrocken. Krankenwagen rasen, in einem Lazarett sieht man junge Kerle mit Arm- und Beinstümpfen, ein älterer Soldat blickt bedauernd und zuckt mit den Schultern: Die Opfer sind unvermeidlich, und sie sind selbst verschuldet, soll das heißen.

Die Minenfelder in Dänemark waren Teil des „Atlantikwalls“, mit dem Nazideutschland eine alliierte Invasion in Europa verhindern wollte. Entlang den Küsten von Frankreich bis Norwegen errichteten lokale Arbeitskräfte und Zwangsarbeiter rund 12 000 Bunker und Geschützstände. Pioniere verlegten rund 6,5 Millionen Minen, fast ein Viertel davon in Dänemark. Alle Mühe und Heimtücke waren vergeblich: Die Alliierten landeten in Frankreich, die Deutschen in Dänemark kapitulierten am 5. Mai 1945. Ein Zug von 110 000 Besatzern machte sich auf Richtung Süden in die britische Internierung auf der Halbinsel Eiderstedt. Nur die Pioniereinheiten, also die minenkundigen Soldaten, mussten in Dänemark bleiben, so verlangten es die Briten. Den Aufnäher mit dem Hakenkreuz unter dem Reichsadler schnitten die Soldaten im „Minenkommando Dänemark“ von ihren Uniformen. Wenn ein Soldat bei einem Unfall versehrt wurde, bekam er zuverlässig das „Verwundetenabzeichen“ verliehen und eine Urkunde, die mit Stempel und Frakturschrift „in Anerkennung des tapferen Einsatzes“ die Verleihung des Ordens bezeugte: Das „Dritte Reich“ lag in Schutt und Asche, aber die Wehrmacht funktionierte auf Geheiß der Sieger weiter.

Der Spielfilm „Unter dem Sand“ sei irreführend, sagt John V. Jensen, Historiker und Museumsinspekteur in Varde. Für das Tirpitz-Museum, einen spektakulären, halb unterirdischen Neubau bei einem deutschen Artilleriebunker, bereitet er derzeit eine Ausstellung über die Minenräumung vor. „Bei historischen Filmen gibt es einen Kontrakt zwischen Regisseur und Zuschauer: nämlich dass die geschichtlichen Zusammenhänge wahrhaftig sein müssen“, sagt Jensen. Der Film respektiere diesen Vertrag nicht. Denn darin ist es ein dänischer Feldwebel, der die deutschen Jungen unbarmherzig in die Minenfelder schickt. „Nur durch diesen Kniff wird die Minenräumung zu so einem kontroversen Thema“, urteilt Jensen. „Dabei hatten die Dänen keine Befehlsgewalt.“ Sie kontrollierten lediglich die Arbeiten, die von den deutschen Offizieren eigenverantwortlich im Auftrag der Briten organisiert wurden.

Metalldetektoren konnten nicht alle Minen sicher aufspüren, bei manchen befand sich der Sprengstoff in schuhschachtelgroßen Holzkästen. Die Soldaten benutzten „Sucheisen“, zwei Meter lange Stecken, an denen eine angespitzte Stahlstange angebracht war. Eine aufwendige Arbeit: In einer Stunde schaffte ein Soldat lediglich fünf bis sechs Quadratmeter. Schneller zu arbeiten war keine Option. Nach erledigter Arbeit mussten die Soldaten die geräumten Felder abschreiten. Das ist auch im Dokumentarfilm der dänischen Regierung von 1945 zu sehen. „Sie wissen es genau“, sagt der Sprecher, „schlampige Arbeit kommt sie teuer zu stehen.“ Das deutsche Minenkommando meldete den Briten täglich bis zu 28 000 geräumte Minen. Zunächst wurden 1000 Pioniere eingesetzt, dann weitere Soldaten aus der Internierung in Eiderstedt geholt.

Sie gruben laut einem Abschlussbericht der dänischen Behörden 1 389 281 Minen aus dem Sand. 149 Soldaten starben bei Unglücken, 332 wurden verwundet. Von den 1700 Soldaten, die in den Minenfeldern arbeiteten, kam also jeder vierte Soldat ums Leben oder zu Schaden. „Die notwendige Zahl an Prothesen, Glasaugen usw. konnte nicht beschafft werden für die unvorhergesehene hohe Zahl an Verletzten“, notiert der dänische Bericht. „Es gab Schwierigkeiten mit den Bestattungen der getöteten Deutschen. Nicht überall gab es Verständnis dafür, dass diese für Dänemark so wichtige Arbeit so schnell wie möglich abgeschlossen werden sollte.“

Man könnte sagen: Nun schluckten die Deutschen einige Tropfen ihrer eigenen bitteren Medizin. In Russland hatten Wehrmachtssoldaten Juden und Zivilisten, die sie als Partisanen verdächtigten, an lange Stricke gebunden und in feindliche Minenfelder gezwungen, ein Todesurteil. Sie sprachen zynisch von „Minensuchgerät 42“, das der „eigenen Truppe viel Blut erspart“. Aber auch wenn man solche Verbrechen vor Augen hat, machen die Gräber von Hans Görmann und Werner Orgas traurig, denn sie trugen keine Verantwortung für die Untaten ihrer älteren Landsleute. Am 19. Juni 1945 starben die beiden 16-Jährigen in einer Minenexplosion bei Ringkøbing. „Sie hatten wohl einen Stolperdraht übersehen“, sagte Folke Petersson, der bei der Einheit von Görmann und Orgas als Kontrolleur dabei war, in einer dänischen TV-Dokumentation. „Man stellt sich vor, dass es eine hochgefährliche Arbeit war. Das war sie eigentlich nicht, wenn man ruhig und methodisch zu Werke ging. Es gab viele andere, die das auch so sahen wie ich: dass es viel zu schnell gehen musste.“

Major Holland, der britische Verantwortliche für die Minenräumung, rechnete damit, „dass die Arbeiten ein halbes Jahr dauern“, schrieb die Tageszeitung „Politiken“ am 13. Juni 1945. „Aber Major Holland hofft, dass es schneller geht“, schrieb die Zeitung. „Er wolle die Arbeiten beschleunigen, weil es ihn persönlich irritiere, Deutsche hier im Land zu sehen.“ Die Briten gaben den Deutschen unrealistische Tagesziele an zu räumenden Minen vor. Wären Opfer vermeidbar gewesen, wenn die Minenräumer langsamer gearbeitet hätten? „Man wollte im Herbst fertig werden“, erklärt Historiker Jensen. „Die Winterstürme hätten die Minen im Sand verlagern können, dann wäre die Räumung im nächsten Jahr noch gefährlicher geworden.“ Insgesamt müsse man die Situation aus dem damaligen Zeitgeist begreifen. „Es ging nicht um Rache. Aber es gab damals keinen Dänen, der das Vorgehen nicht gerechtfertigt gefunden hätte.“ – „Aber musste man derart junge Soldaten einsetzen?“ – „Wen die Deutschen mit der Arbeit betrauten, darauf hatten die Dänen keinen Einfluss.“ – „Sind also letztlich die deutschen Offiziere schuldig, weil sie nicht um mehr Zeit oder um mehr Verstärkung baten?“ – „Sie führten einfach die Befehle der Briten aus. Was für Opferzahlen es in diesem Krieg gab! Niemand hob deshalb auch nur eine Augenbraue.“

Die britischen Sieger trieben die deutschen Verlierer zur Eile an, die Dänen hatten kein Interesse, das Tempo zu bremsen, weil die Kommunen die Soldaten versorgen mussten. Und die Deutschen widersetzten sich nicht. Sie sahen es nach Jahren des Kadavergehorsams offenbar als ganz gewöhnlich an, dass das Leben junger Leute aufs Spiel gesetzt wird. Vielleicht ist die Frage nach der Schuld am Tod der Jungen, die „Unter dem Sand“ aufwirft, letztlich müßig. Auf den Plakaten zu dem Film „Platoon“ von Oliver Stone, eine Genreikone, stand der Satz: „Das erste Opfer des Krieges ist die Unschuld.“

Eines der schwersten Unglücke gab es am 24. Juli 1945. Bei Hirtshals starben sieben Deutsche, als ein Feld mit 480 miteinander verbundenen Minen explodierte. Die Ursache blieb unklar. „Der dänische Kontrolleur hatte sich glücklicherweise verspätet und kam nicht zu Schaden“, schrieb die Tageszeitung „Jyllands-Posten“. Dieser Kontrolleur heißt Knud Christensen, heute ist er 93 Jahre alt. Damals war er wenige Wochen zuvor aus dem Konzentrationslager Dachau befreit worden. Er hatte als 19-jähriges Mitglied des Widerstands eine heimliche Zeitung produziert, er versteckte Waffen und war an Sabotageaktionen beteiligt. Nach der Prügel im Gestapo-Keller von Ålborg kam er nach Dachau. „Herr Christensen, haben Sie die deutschen Soldaten nach ihrer Rückkehr aus Dachau gehasst?“ – „Nein, wir freundeten uns an. Auch im Widerstand machten wir einen Unterschied zwischen Gestapo, SS und gewöhnlichen Soldaten.“ – „Arbeiteten die Minenräumer unter Zeitdruck?“ – „Diesen Eindruck hatte ich in Hirtshals nicht. Sie nahmen sich die Zeit, die sie brauchten.“ – „Wie war die Stimmung?“ – „Alle sprachen sich mit Vornamen an. Der Anführer, ein Feldwebel, nannte sich Jack, vielleicht ein Spitzname für Jakob. Meiner Erinnerung nach hatten sie sich freiwillig gemeldet.“ – „Warum sollten sie das tun?“ – „Weil die Verpflegung für die Minenräumer besser war als in den englischen Lagern.“ Sie bekamen Geld von der Kommune, damit konnten sie einkaufen. In Hirtshals hatten laut dem Artikel in „Jyllands-Posten“ 30 Minenräumer die Arbeit begonnen, Ende Juli waren noch zwölf übrig. Ende September 1945 waren die Arbeiten in ganz Dänemark abgeschlossen.

Ein Dreivierteljahr später bekam Christensen einen Brief aus Deutschland. Die Versorgungslage in Euskirchen sei schlecht, schrieb Jack, der Feldwebel. Christensen schickte ihm ein Lebensmittelpaket. Darauf kam ein Foto zurück: Jack mit Frau, Söhnchen und einer Tochter im Garten. Auf der Rückseite in Schönschrift: „Juni 1946. Zum Andenken an deinen Freund Jack.“