Zeitenspiegel Reportagen

Vater spurt

Erschienen in "natur", Nr. 1/2015

Von Autorin Uschi Entenmann

In seiner Jugend schnallte er die Seehundfelle unter die Skier und stieg stundenlang den Berg hinauf. Dann kam die Zeit der bequemen Skilifte. Und heute? Zu laut. Zu viele Raser! Der Vater von Autorin Uschi Entenmann, inzwischen 80 Jahre alt, möchte deshalb umsteigen. Von der Piste auf die Loipe. Die Stille und die Natur genießen.

Als sich hinter Füssen die ersten schneebedeckten Gipfel auftürmen, erzählt mein Vater die Geschichte noch einmal, wie er als junger Bursch fünf Kilometer in die Kreisstadt zu einer kleinen Holzfabrik gewandert ist, in der es ein Schreiner drauf hatte, stabile Skier aus zwei Meter langen Latten zu zimmern. Als Entgelt nahm er ein großes Stück Speck und eine Flasche Schnaps. “War ja Gold wert in den Jahren nach dem Krieg.”

Der Schreiner nahm es, und fortan zog mein Vater im Endersbacher Skiverein fast jedes Winterwochenende mit Freunden hinauf zur Schwäbischen Alb oder in den Schwarzwald. Um besser Fuß zu fassen, schnallten sie beim Aufstieg, der oft drei, vier Stunden dauerte, Seehundfelle unter die Skier. “Und oben angekommen, machten wir Vesper und köpften eine Flasche Trollinger.” Beflügelt bretterte die Bande danach in einer Viertelstunde zu Tal. „Schön war das“, erinnert er sich, „und so viel anders wird’ s mit Langlauf auch nicht sein.“

Ja, das musste gesagt werden, damit klar wird, dass mit ihm ein alter Hase antritt und nicht etwa ein Anfänger, den man erst mal mit Langlaufski über eine topfebene Loipe schicken würde. Er hat ja auch recht, schließlich ist er erfahren, brachte mir und meinen drei Geschwistern das Skifahren bei, hat mit Geduld und Humor den Unterschied zwischen Berg- und Talski, Pflug und Parallelschwung nicht nur erklärt, sondern mit Elan vorgeführt. Geduld und Humor gehören noch heute zu den Tugenden, die ihn auch bei seinen acht Enkeln so beliebt machen.

Zugegeben, mit achtzig Jahren auf dem Buckel ist man nicht mehr so wendig wie damals, aber er hat sich gut gehalten, hat lange Jahre Handball gespielt und radelt noch heute jede Woche mit Freunden, oft bis zu vierzig Kilometer weit, immer mit mindestens einer Einkehr in einem der Gasthöfe zum Abschluss und dem einen und anderen Gläschen Trollinger. All das hält ihn nach wie vor fit, selbst wenn’s auf Alpinskiern den Hang runter geht, hält er mit.

Dennoch habe ich Bedenken. Vater hat es im Rücken. Zwei Wirbel hocken aufeinander und quetschen auf Nerven, schon zweimal wurde er operiert, aber gebessert hat sich nichts. Um sich vom Stuhl zu erheben, muss er sich manchmal mit den Händen vom Tisch hochstemmen, und nur wenn er sein Fahrrad in Schräglage hält, kommt er in den Sattel. Die Frage ist: Was, wenn er bei einem der ersten Langlaufversuche aus der Loipe kippt und nicht mehr ohne Hilfe auf die Beine käme. Gewiss kein Unglück, aber sicher unangenehm und schmerzhaft für ihn.

Dass man auch als erfahrene Abfahrtsläuferin beim Langlauf zunächst ein paar Mal auf den Hintern fällt, habe ich im vergangenen Jahr erlebt. Es hat mich nicht gehindert, weiterzumachen. Nichts zieht mich mehr zum Alpinskifahren. Zu laut, zu viele Raser, zu wenig Muskelgruppen, die beansprucht werden. Auf meinen teuren Skiern rauscht inzwischen unsere siebzehnjährige Tochter Alexandra talwärts.

Offenbar hat sich Vater ein wenig von meiner Begeisterung anstecken lassen, sonst wäre er wohl nicht mitgekommen. Allein die Aussicht auf eine verzauberte Winterlandschaft hat ihn gelockt. Vielleicht dachte er, mit 80 ist es an der Zeit, die Abfahrtpisten den Jungen zu überlassen. Aber es passt auch zu ihm, dass er sich trotz seines Alters entschlossen hat, eine neue Herausforderung anzunehmen.

Neu für ihn sind schon die Stiefel, die wir nach unserer Ankunft im tief verschneiten Südtiroler Langlaufzentrum Rein anprobieren. Bedächtig wiegt er sie in seinen Händen, knetet das hochwertige Kunstleder und brummt anerkennend. Als Schuhmacher mit Meisterbrief weiß er, was Qualität bedeutet. Diese Stiefel sind weich und biegsam, das Gegenteil der schweren und harten Kunststoffkloben, in die man sich vor der Abfahrt zwängen muss. Eine der Höhepunkte dieses Alpinsports ist es, wenn man sie am Abend abstreifen darf, darin sind wir uns einig. Ähnlich beeindruckt zeigt er sich, als er die Langlaufskier schultert. Das Paar wiegt nur zwei Kilogramm, Carvingskier mit Stahlkanten das Vierfache.

Als unser Skilehrer auftaucht, ahne ich, was Vater über den Burschen denkt. Der Mann ist wichtig für unser Vorhaben. An ihm liegt es, ob es eine einmalige Angelegenheit wird, dieses Wandern in der Loipe, oder eine Option für die zukünftigen Winter. Herbert, groß und drahtig, ist ein sympathischer, offener Typ, seit dreißig Jahren darin geübt, Menschen aller Altersklassen einfühlsam auf die Loipe zu bringen. „Vor drei Jahren hatte ich einen 83-Jährigen im Kurs“, erzählt er. „Den sah ich diesen Winter wieder mit den Skiern in der Loipe.“ Und jetzt entdeckt mein Vater auch die fünfzehn Kilometer lange Spur, die sich wie Bahngleise durch eine hochalpine Winterlandschaft schlängelt, vorbei an Wäldchen und dem zugefrorenen Reinbach, über verwunschene kleine Brücken und schneeglitzernde Felder. Weder Schlangestehen noch Jodelmusik vorm Lift. Nur das Knirschen des Schnees ist zu hören, als wir behutsam los gleiten. Und die Anweisungen von Herbert, der vorangeht.

„Erst mal ohne Stöcke, um in den Rhythmus zu kommen“, sagt er. Folgsam schwenkt Vater die Stöcke in Brusthöhe und schwankt sofort bedenklich, fängt sich aber wieder. Herbert weiß, dass man in solch heiklen Situationen mit Skiveteranen diplomatisch umgehen muss: „Man merkt, dass du an festen Halt in den Stiefeln gewöhnt bist”, sagt er. “Beim Langlauf wird’s am Anfang für jeden wackelig. Also leicht in die Knie gehen, sonst sitzt man auf dem Hintern.“

Nach fünf Minuten sehe ich meinem Vater an, dass er erleichtert ist. Auf dieser Tour wird er sich nicht blamieren, schon gar nicht zum rutschenden Clown werden. Auch dass Langlauf alles andere als ein Spaziergang für ältere Herrschaften sein kann, zeigen ihm Frauen und Männer in eng anliegenden Rennanzügen, die uns überholen.

Bevor wir Tempo machen, gilt es, den Diagonalschritt zu üben, die klassische Technik in der Loipe. Sie funktioniert ähnlich wie Nordic Walking, bei dem man abwechselnd ein Bein und den gegenüberliegenden Arm nach vorne bewegt. Das geht gut, so lange die Loipe eben ist oder leicht ansteigt. Wird sie steil, heißt es, in den Sprungschritt zu wechseln. Auch das gelingt Vater bald, der wechselseitige Beinabstoß scheint ihm keine große Mühe zu machen, geschickt unterstützt er das Gleiten mit den Stöcken. Offensichtlich eine leichte Übung für ihn, und die Schuppen, die unter die Skier gefräst sind, verhindern, dass man zurück rutscht: „Sobald wir den Ski belasten, greifen die Schuppen“, erklärt Herbert. “Spart Kraft und ist trotzdem gut für einen strammen Arsch.“

Das kümmert meinen Vater wenig. Doch oben angekommen, lehrt uns Herbert das Wichtigste überhaupt: Denn jetzt geht’ s bergab und nach fünfzig Metern führt die Loipe in eine scharfe Rechtskurve. „Da hilft nur, aus der Loipe raus und pflugen”, mahnt Herbert und beginnt zu erklären, wie wir mit den Skispitzen ein umgedrehtes V bilden müssten. “Dabei gehen wir leicht in die Knie und beugen den Oberk…“

Aber weiter kommt er nicht. “Pflugen konnt’ ich schon, als du noch nicht auf der Welt warst!“, sagt Vater, der jedoch gleich darauf merkt, dass die Langlaufskier anderen Gesetzen gehorchen, als die Alpinskier mit ihren Stahlkanten. Er wackelt heftig, als ihm ein Ski wegrutscht und fängt sich erst wieder, als ihn Herbert mit festem Griff um den Skistock stabilisiert. „Beug dich etwas vor und geh mehr in die Knie“, ruft er und sieh an: Mein Vater spurt. Auch als Herbert einen zweiten Versuch anordnet. Brav steigt er oben in die Loipenspur und – wupp – „Vorsicht!“, ruft Herbert grade noch rechtzeitig, denn schon rutschen Vaters Skier nach vorn.

„Immer mit den Stöcken abstützen, damit die Skier nicht abhauen und du nach hinten kippst. Zum Beispiel nach dem Naseputzen oder Fotografieren.“
„Und wie ist es beim Küssen?“, fragt mein verwegener Vater.
Herbert überlegt nicht lange. „Für einen Kuss soll man auch was riskieren.“
„Finde ich auch”, meint Vater. “Das wäre einen Sturz wert.“
Danach gleitet er munter und kontrolliert den Hang hinunter, wofür er ein Lob des Lehrers erntet: “So weit, wie du nach einer Stunde bist, das können andere erst nach zwei Jahren.“

Zum Abschluss des Tages lernt Vater Jakob kennen, den Besitzer des Skiverleihs, der vor vierzig Jahren das Langlaufzentrum gegründet hat. „Er war mit Abstand der beste“, sagt Herbert. “Beim Berglauf im Sommer und Skilanglauf im Winter.” Was ihn außerdem noch auszeichnet, ist der Schnaps, den er uns einschenkt: vierzig prozentiger Grappa, angesetzt mit Nüssen der Zirbelkiefer. Am stärksten beeindruckt zeigt sich Vater, als er erfährt, dass sich Jakob mit seinen 64 Jahren trotz Parkinson und vier Hüftoperationen immer noch täglich auf die Loipe wagt. Fragt man ihn, was seine Hüften ruiniert hat, sagt er, „Meine Seitensprünge.“

“Und immer noch schaut er den Frauen auf der Loipe hinterher“, ergänzt Herbert. Jakob präzisiert diese Information: „Nicht allen, nur den hübschen!“
Vater lächelt, „ich werde das weiter machen“, sagt er und hebt das Glas, neben ihm seine Tochter, die stolz auf ihn ist.