Zeitenspiegel Reportagen

Vom Dreisatz der Hausmannskost

Erschienen in "Hampp Verlag"

Von Autor Erdmann Wingert

Eine persönliche Geschichte des Sauerkrauts

Natürlich mussten wir uns die Füße schrubben, bevor wir ins Sauerkraut stiegen, aber das nützte nicht viel. Schließlich waren wir Kinder den Sommer über von früh bis spät barfuß gelaufen und standen im Herbst auf einer haselnussbraunen Sohle aus Hornhaut. Auf der konnte man sogar unbeschadet über Stoppelfelder rennen, nur porentief sauber bekam man sie auch mit Wurzelbürste und Kernseife nicht. Wozu auch? Dem Sauerkraut würden ein paar Krümel pommerscher Erde und Hautfitzelchen nicht schaden. Schädlich dagegen wären luftige, Fäulnis und Schimmel erzeugende Hohlräume zwischen den feinen Krautsträhnen gewesen, die seit frühem Morgen von den Weißkohlköpfen gehobelt und in ein Eichenfass geschichtet wurden. Auf jede Schicht kam eine Handvoll Salz und danach der Trampeltanz unserer Kinderfüße, die den Kohlfasern den Saft austrieben. Der matschte und quatschte unter den Sohlen, quoll und spritzte durch die Zehen, so lange bis die oberste Schicht den Fassrand erreicht hatte. Ein Leintuch deckte das gestampfte Kraut ab, darüber ein Holzdeckel mit einem kopfgroßen Feldstein beschwert, der nach einer Weile in einer Pfütze aus Kohlsaft und Salzlake stand. So luftdicht versiegelt musste das Kraut sechs Wochen in unserem Keller gären, der an das Gewölbe der Witwe Bolte erinnerte. Zumindest uns Kinder, die wir die Streiche von Max und Moritz so weit verinnerlicht hatten, dass wir die beiden bösen Buben auf dem Dach sahen, wie sie durch den Schornstein die knusprigen Hühnchen aus der Pfanne angelten, während tief unter ihnen die ahnungslose Frau Bolte ihre Portion Sauerkraut aus dem Fass gabelte, „wofür sie besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt.“

Freuden des Landlebens! Nicht die einzige in dieser entlegenen Försterei am Rand eines Buchenwalds, der sich fast bis ans Ufer der Recknitz erstreckte, dem Grenzfluss zwischen Pommern und Mecklenburg. Paradiesischer Frieden schien in dieser dünn besiedelten Region zu herrschen, obgleich es Krieg war und die Ostfront immer näher rückte. Aber die Bomben fielen weit weg: über Berlin, Hamburg, Rostock und Stettin, wir erfuhren es durch den krächzenden Volksempfänger im Wohnzimmer, nur am Rande berührt, denn die Not, die in den Städten herrschte, war bei uns nicht zuhause. Im Gegenteil, neben dem Sauerkrautfass im Keller lagerte noch ein Fässchen voll Sirup, eigenhändig aus den Zuckerrüben unseres Ackers eingekocht, außerdem gab es noch die Räucherkammer unterm Dach, in der Würste und Schinken hingen, in der Küche stand der Tontopf mit der Honigernte aus dem Bienenschlag, daneben der Sahnetopf unter der Milchzentrifuge, jeden Morgen sammelten wir ein Dutzend Eier aus den Nestern unsres Hühnervolks und einmal pro Woche duftete es durchs ganze Haus, wenn Brot gebacken wurde. Doch unter all diesen kulinarischen Gaben aus Stall und Acker gehörte Sauerkraut zu den favorisierten Köstlichkeiten unserer Küche, vor allem für den Förster, einen hagestolzen und jähzornigen Alten mit spiegelnder Glatze, dessen strenge Züge nur dann Milde zeigten, wenn er sich eine Portion Sauerkraut auf seinen Teller häufen konnte. Mit Ausnahme von Pudding und anderen Süßspeisen klatschte er sein geliebtes Kraut auf so gut wie jedes Gericht, roh wie es aus dem Fass kam. Ähnlich hielten wir es alle, nahmen in Kauf, dass unser naturbelassenes Kraut so sauer war, dass es Lamellen in die Mundhöhle dellte. Verfeinerungen durch exotische Zugaben wie Wein, Lorbeer oder Wacholderbeeren galten als welsche Unart, waren auch weitgehend unbekannt. Denn norddeutsche, speziell pommersche Hausmannkost hatte lediglich drei Bedingungen zu erfüllen, um allgemeines Gefallen zu finden: Was auf den Teller kam, musste zum ersten viel, zum zweiten heiß und zum dritten weich durchgekocht sein. Bis auf Ausnahmen gilt dieser Dreisatz der Hausmannskost noch immer in weiten Teilen der norddeutschen Tiefebene, womit sich ein gewisses Kochkunstgefälle zwischen Nord und Süd andeutet. Während sich das Volk im Norden „meist von Kartoffeln, von dürrem Obst, von Weißkraut, Rüben und Pferdebohnen ernährte“, wie eine historische Quelle berichtet, entwickelten sich im Süden, vor allem in sonnigen Regionen, in denen Wein angebaut und damit der Geschmack für Nuancen gefördert wird, verfeinerte Varianten. Vielleicht hätte unser Förster ja noch Zutaten wie Zwiebeln und Äpfeln hingenommen, aber einen Auflauf aus Schichten von Sauerkraut, Leberwurst und Kartoffelbrei wie er noch heute im Raum Heilbronn im Verein mit Schupfnudeln serviert wird, hätte er vom Tisch gefegt. Ebenso die elsässische Spezialität Choucroute de poisson, die sein Kraut mit Fisch garniert und mit Riesling gesättigt hätte, zu schweigen von der hessischen Sitte, Sauerkraut in Apfelsaft zu garen. Doch trotz aller landesüblichen Spielarten herrscht seit je die Überzeugung, dass Sauerkraut – neben der urdeutschen Bratwurst und dem nicht minder deutschen Eisbein – das „deutscheste“ aller Genüsse zwischen Alpenrand und Ostseeküste sei. Einheimische Dichter und Denker der unterschiedlichsten Provenienz haben es als das Nationalgericht gerühmt, unter ihnen der schwäbische Balladendichter Ludwig Uhland, der die patriotischen Verse schmiedete: „Auch unser edles Sauerkraut, wir sollen’s nicht vergessen; ein Deutscher hat’s zuerst gebaut, drum ist’s ein deutsches Essen.“ Ins gleiche Horn stieß der eher links von Uhland angesiedelte Heinrich Heine, der in seinem Preislied sogar unsere Urahnen ins Spiel bringt: „Der Tisch war gedeckt, hier fand ich ganz die altgermanische Küche, sei mir gegrüßt mein Sauerkraut, holdselig sein deine Gerüche.“ Sogar für einen so kritisch revolutionären Geist wie den Literaten Ludwig Börne stand fest, dass die Deutschen das Sauerkraut erfunden haben und es „lieben und pflegen mit aller Zärtlichkeit“, womit sich der Kreis zu Wilhelm Busch schließt, dessen unsterbliche Verse die Witwe Bolte mit ihrem aufgewärmten Sauerkraut weltberühmt gemacht hat. Neben Begriffen wie Kindergarten, Rucksack oder Schäferhund gehört seitdem auch Sauerkraut zum Wortschatz der englischen Sprache. In der verkürzten Form Krauts diente es amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg als Schimpfwort für die Feinde vom Volk der Sauerkrautfresser.

Dabei fressen sie es begeistert selbst, seitdem deutsche Auswanderer ihr Kraut schon vor dreihundert Jahren in die Neue Welt eingeschleppt hatten. Überliefert ist, dass der Volksmund eine Straße des deutschen Viertels von New York als „Sauerkraut-Boulevard“ bezeichnete, und noch heute gehört Hot Dog mit Sauerkraut zu den beliebten Gerichten vieler Fast Food Restaurants der Metropole. Als Rezept gegen Heimweh hat es sich seit je bewährt. Über Liselotte von der Pfalz, die es im 17. Jahrhundert nach Versailles, an den Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV., verschlagen hatte, wird berichtet, dass sie sich immer wieder „Mett- und Knackwürste, geräucherte Gänse und auch Sauerkraut von ihren deutschen Verwandten schicken ließ.“

Doch trotz allem deutschen Krautpatriotismus ist längst erwiesen, dass schon die alten Griechen und Römer gesäuerten Kohl genossen, ebenso die Chinesen. Als pikante Note des „deutschesten“ aller Gemüse trägt die Tatsache bei, dass es nomadisierende Mongolenstämme waren, die das chinesische Suan cai nach Europa brachten. Die Juden übernahmen es als koschere Speise und mit ihnen bürgerte es sich vor allem in Osteuropa ein. Die christliche Seefahrt sorgte schließlich für seine weltweite Verbreitung, nachdem der britische Schiffsarzt James Lind im 18. Jahrhundert entdeckt hatte, dass sein hoher Gehalt an Vitamin C der Skorbut vorbeugt. Diese Seuche, die mit Zahnfleischbluten beginnt und totalem Muskelschwund endet, war zuvor die häufigste Todesursache der Seeleute, die sich auf ihren oft monatelangen Fahrten nur von Pökelfleisch und Schiffszwieback ernährten. Sauerkraut aus den Fässern der Kombüsen verhinderte fortan Katastrophen wie die auf dem Segler von Vasco da Gama, der auf einer seiner Entdeckungsreise zwei Drittel seiner 160 Mann starken Crew durch Skorbut verlor. Es waren nicht nur Seeleute, die von der segensreichen Wirkung des Sauerkrauts profitierten. Gemüse durch Säuregärung zu konservieren gehörte seit undenklichen Zeiten zur Vorratshaltung aller Haushalte, die ja irgendwie über den Winter kommen mussten. Kein Problem mehr in Zeiten der Tiefkühltruhen und Flugfrachter, die uns zu jeder Jahreszeit alles Nötige, aber auch Überflüssige bescheren. Dennoch –oder vielleicht auch deshalb – deutet sich ein Trend in deutschen Küchen an, der sich wieder dem Bodenständigen zukehrt, den Delikatessen, die Region und Saison hergeben. Was läge da näher als das gute alte Sauerkraut, das nirgendwo höher geschätzt wird und besser gedeiht als in deutschen Landen! Frage ist nur, in welchem? Fest steht, dass Kohl zu den sogenannten Starkzehrern zählt, die nur auf besten Böden was hergeben. In Schwaben schwört man auf das Filderkraut, das den fetten Lössböden bei Stuttgart entstammt: Seine unvergleichliche Qualität beruhe auf einer speziellen, Kohlsorte, dem kegelförmigen Spitzkohl mit seinen zarten Blättern, der dezenter und feiner schmecke als ordinärer Weißkohl. Dagegen protestieren die Dithmarscher, auf deren nährstoffreichen Marschböden hinter den Deichen jedes Jahr achtzig Millionen Kohlköpfe fallen, mehr als in jeder anderen Region Europas. Unvergleichlich rund und herzhaft sei der Geschmack ihres Kohls, der in der permanent feuchten Nordseebrise und in den überlangen Sonnentagen des hohen Nordens aufwächst.

Wem die Krone der Kohlhierachie gebührt, bleibt Geschmackssache. Die ruht unberührt von Vernunft oft nur in Erinnerungen – an einen bestimmten Geruch, einen Klang oder eine Geste. Zum Beispiel wie sich die Miene eines grimmigen Alten verklärt, wenn er sein Sauerkraut isst. Roh aus dem Fass, von Kinderfüßen gestampft.