Zeitenspiegel Reportagen

Wantchoucou traut sich

Erschienen in "WOZ", 05.05.2011

Von Fotograf Sascha MontagAutorin

Seit Jahren verfrachtet der Kreis Wittenberg Asylbewerber in ein verdrecktes Heim mitten im Wald. Doch jetzt organisiert ein Bewohner Widerstand — mit Erfolg.

Sein rechter großer Zeh schaut aus einem Loch in seinem Strumpf. Salomon Wantchoucou sitzt vor seinem vergilbten Computermonitor und tippt, wie so oft. Auf Tisch und Fensterbank stapeln sich Bücher: die Bibel, der Koran, „Der Hausanwalt“ und ein Schülerduden mit dem Titel „Politik und Gesellschaft“. Die Internetverbindung ist mal wieder schlecht. „Das liegt am Wind“, sagt er, „und an den hohen Bäumen überall.“ Doch der 38 Jahre alte Mann aus Benin hat Geduld. Schließlich geht es um seine Freiheit. In den vier Stockwerken des grauen Plattenbaus, in dem Wantchoucou vor seinem Computer sitzt, leben auch etwa 200 andere Asylbewerber. Es ist eine „Gemeinschaftsunterkunft“, zwei Kilometer hinter dem Dorf Möhlau in Sachsen-Anhalt, mitten in der Einöde. Die übrigen Gebäude auf dem Gelände stehen leer, ihre Türen sind mit Brettern vernagelt, die Scheiben eingeschlagen. Ein hoher Zaun umgibt das Grundstück, drum herum ist nichts als Wald. Im Hof hat jemand ein altes Wandrelief frei gekratzt: Es zeigt Sowjetsoldaten, ihr Blick stahlhart und grimmig. Vor der Wende war das Lager eine Kaserne der russischen Armee. Damals gab es hier Bars, Geschäfte, ein Kino. Heute pfeift der Wind durch die undichten Fenster. Ins Dorf ist es eine halbe Stunde zu Fuß, von da aus fährt nicht einmal alle Stunde ein Bus zur nächsten Stadt Gräfenhainichen. Wantchoucou hat vor fast zehn Jahren in Deutschland Asyl beantragt. Seitdem hat er keine Arbeitserlaubnis, keine eigene Wohnung. Er konnte weder sein Studium beenden, noch eine Familie gründen. Er ist bis heute nur geduldet, weiß nie, ob er vielleicht doch noch abgeschoben wird. In Benin, sagt der Politikaktivist, fürchte er um sein Leben. Vier Mal hat er bisher Asyl oder eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt. Mal dauerte es ein Jahr, manchmal zwei Jahre, bis eine Antwort kam – und immer lehnten die Behörden ab. Er könne ja auch ein Wirtschaftsflüchtling sein, unterstellte man ihm. Einen Pass konnte er nicht vorlegen: Er sei mit den Papieren eines Freundes geflohen, sagt er, weil er befürchtet habe, dass ihn die Beniner Grenzbeamten festnehmen würden. Schließlich gelang es ihm, eine Kopie seiner Geburtsurkunde aus seiner Heimatstadt zu beschaffen und sie der deutschen Ausländerbehörde vorzulegen. Das ist jetzt ein Jahr her. Eine Antwort hat er noch nicht erhalten. Wenn er einsam ist, schaltet Wantchoucou den Fernseher an und schaut französische Filme auf Arte. Hat er Heimweh, frittiert er Teigkugeln mit Zucker, Salz und Sardinen in viel Öl. So hat seine Freundin sie immer gemacht, damals. In der Ecke, in der er seine Lebensmittel aufbewahrt, stehen viele Pakete mit Mehl und viele Flaschen Sonnenblumenöl. In der Möhlauer Unterkunft wohnen eine Menge Menschen, die wie Wantchoucou darauf warten, dass die Ausländerbehörde über ihr Bleiberecht entscheidet. Sie dürfen in keine eigene Wohnung ziehen und nicht arbeiten. Viele bekommen kein Geld, sondern Gutscheine, mit denen sie nur in bestimmten Geschäften einkaufen dürfen. Keiner hat ein Bankkonto, nur wenige einen in Deutschland gültigen Führerschein. Die Isolation der Bewohner bleibt nicht ohne Folgen. Ein Mann verlässt schon seit einiger Zeit sein Zimmer nicht mehr. Zwei andere haben sich das Leben genommen. Die anderen ertragen das Warten, irgendwie. Manche fünf, andere zehn oder 15 Jahre lang. Aber Wantchoucou will das nicht. Er will nicht akzeptieren, dass Menschen in Deutschland so hausen müssen: „Wenn die Leute nicht schon traumatisiert sind, dann werden sie es spätestens hier. Jemanden 15 Jahre in ein Lager zu sperren, ist unmenschlich. Irgendwann geht hier jeder kaputt.“ Als er 2008 aus einem anderen Heim nach Möhlau gebracht wurde, habe er sofort das Leid der Menschen gesehen, sagt Wantchoucou, „ihre Blicke sprachen Bände.“ Wantchoucou hat eine kräftige Stimme. Er gestikuliert ausschweifend mit seinen großen Händen, bewegt sich unruhig auf seinem Stuhl hin und her, während er spricht. Wenn ihm ein Wort auf Englisch nicht gleich einfällt, sagt er es in Deutsch oder in seiner Muttersprache Französisch. Hauptsache, die Botschaft erreicht sein Gegenüber. Er streckt den Arm nach oben, wenn er von Politikern und Beamten spricht. Und streckt die flache Hand in Richtung Boden, wenn die Rede von den Asylbewerbern ist. Als er im September 2001 nach Deutschland kam, steckte in seiner linken Schulter noch die Kugel, die ihn beinahe getötet hatte. Seit seinem 18. Lebensjahr war Wantchoucou in seinem Heimatland Benin politisch aktiv und prangerte die Korruption des Diktators Mathieu Kérékou an. Er trat der Oppositionspartei „Renaissance du Benin“ bei, veröffentlichte Artikel im Internet. „Für Prestigeprojekte gibt die Regierung ein Vermögen aus, aber auf dem Land verhungern die Menschen“, schrieb Wantchoucou. „Sie haben kein Essen und kein Geld für Medizin.“ Der Schuss fiel im Frühjahr während einer Demonstration. Er weiß nicht, wer auf ihn gezielt hat, ist sich aber sicher, dass der Geheimdienst hinter dem Anschlag steckt. Sie würden wieder versuchen, ihn zu töten, davon ist er überzeugt. Kaum hatte er das nötige Geld zusammen, floh er. In Marokko versteckte er sich auf einem Frachter, harrte zwei Wochen lang neben dem Maschinenraum aus. In Deutschland kämpft Wantchoucou weiter – diesmal gegen die Unterbringung in Möhlau. Er steckt seine Mitbewohner mit seinem Gerechtigkeitssinn an, will ihnen zeigen, wie man sich wehrt. Einige Wochen, nachdem er im Lager angekommen ist, klopft er an die Türen der Nachbarn. „Wollt ihr das wirklich länger hinnehmen?“, fragt er sie. „Wollt ihr nicht gegen diese Zustände protestieren?“ Im Herbst 2008 besucht er ein Treffen der „Karawane“, einem Hilfsnetzwerk, dass sich für die Rechte von Flüchtlingen einsetzt. Niemand dort weiß, wie es in Möhlau aussieht. Er schafft es aber, dass erstmals unabhängige Beobachter in das Heim kommen, um sich ein Bild zu machen. Mit anderen Bewohnern gründet er die „Flüchtlingsinitiative Möhlau“, die Nachrichten und Protestbriefe im Internet veröffentlicht. Doch außer Wantchoucou traut sich bis heute kaum jemand zuzugeben, dass er dazu gehört. Zu groß ist die Angst, auf dem Polizeirevier vorgeladen zu werden, zu oft machen Gerüchte die Runde, Anträge würden absichtlich verschleppt oder abgelehnt. Im November 2009 organisiert Wantchoucou eine Demonstration. 200 Leute, darunter viele der Bewohner, versammeln sich vor dem Landratsamt in Wittenberg. Endlich finden die Zustände im Lager ihren Weg in die Öffentlichkeit. Nicht nur nach außen ist die Demonstration ein Signal, sondern auch für die Bewohner selbst. „ Es war schön zu sehen, wie die Bewohner, die so lange unterdrückt waren, auf einmal für ihre Rechte einstanden“, sagt Wantchoucou heute. Die Asylbewerber fordern, das Heim zu schließen und sie in Wittenberg unterzubringen. „Wir brauchen ein vernünftiges Umfeld für unsere Kinder“, sagt eine Mutter, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, „hier ist es einsam und dunkel, und wir fürchten uns vor den Wildschweinen“ – „Wir fordern unsere Freiheit, damit wir uns integrieren können“, sagt die 14 Jahre alte Kurdin Susan Ali. Ihr Deutsch ist perfekt, ihre Schulnoten sind gut, aber deutsche Freunde hat sie keine. „Es ist ja auch eigentlich nicht vorgesehen, dass diese Menschen hier sind“, sagt Anke Tiemann, zuständig für den „Fachdienst Ordnung“ des verantwortlichen Landkreises Wittenberg, „sie haben keinen geregelten Aufenthaltsstatus. Weder haben sie ein Bleiberecht, noch dürfen sie in ihre Heimat zurückgebracht werden.“ Bernd Mesovic vom FörderVerein Pro Asyl hält solch Argumente für bürokratische Vorwände. „Der Fehler liegt im System“, sagt er. „In erster Linie zählt nicht, dass die Leute vernünftig untergebracht sind, sondern dass sich das Ganze finanziell lohnt.“ Denn das Asylbewerberheim gehört weder dem Bundesland Sachsen-Anhalt, noch dem zuständigen Landkreis Wittenberg, sondern einer privaten Betreibergesellschaft, der Zeitzer „KVW Beherbergungsbetriebe GmbH“, die noch zwei weitere Heime betreibt. 7,18 Euro erhält das Unternehmen vom Landkreis pro Bewohner und Tag. Das ist im Bundesvergleich wenig. Es kann sich nur lohnen, wenn die Firma die Ausgaben gering hält, etwa in dem sie statt zentral gelegener Wohnungen eine Baracke im Wald zur Verfügung stellt. Der Betreiber ist verpflichtet, Sozialarbeiter zu beschäftigen, die rund um die Uhr erreichbar sind, und selbstverständlich sollte er für ein gefahrenfreies Umfeld sorgen. „Wir versuchen Mängel, so gut es geht, jeden Tag abzubauen“, sagt Marcel Wiesemann, Geschäftsführer der KVW, „wie man das auch in einem ganz normalen Mietshaus macht.“ Doch ein normales Haus sieht anders aus: In Möhlau macht sich Schimmel in Fluren und Badezimmern breit, Kakerlaken krabbeln über den Boden. Kinder spielen auf dem Hof vor den leeren Bauten zwischen Glasscherben und Müll. Wiesemann hat dafür seine eigene Erklärung: „Den Bewohnern scheint es schwer zu fallen, es sich an diesem Ort schön zu machen.“ Doch selbst wenn dort alles blitzsauber aussähe, das Heim bleibt isoliert. Weder können die Bewohner Integrationskurse besuchen, noch gibt es in der Nähe eine psychosoziale Beratungsstelle für Opfer von Krieg und Verfolgung, von einem Sportverein ganz zu schweigen. Im Winter ist der Schulbus wochenlang ausgefallen, weil sich niemand gekümmert hat, die Wohnheimszufahrt zu räumen. Doch der Protest der Bewohner hat etwas bewegt im Landkreis: Das Heim wurde zum Politikum. Die Kreistags-Grünen solidarisierten sich mit den Asylbewerbern, und etliche Organisationen setzen Möhlau inzwischen regelmäßig auf ihre Tagesordnung. Zweimal pro Woche soll nun eine Mitarbeiterin der Arbeiterwohlfahrt in das Lager kommen, um Deutsch zu unterrichten. Einigen Familien wurde in den vergangenen Monaten das Aufenthaltsrecht gewährt, sie durften in richtige Wohnungen ziehen. Einige bekommen keine Gutscheine mehr, sondern Bargeld, um für ihren täglichen Bedarf zu sorgen. Es gibt Gerüchte, dass die Gutscheine nun im ganzen Kreis abgeschafft werden sollen. Ende 2010 beschloss der Landkreis, eine Alternative zu suchen, und schrieb den Unterbringungsvertrag neu aus. Allerdings soll die neue Unterkunft nicht wesentlich teurer werden als die alte. Zustand, Lage des Heims und gute Betreuung stehen dagegen weiter hinten auf der Prioritätenliste. Nur zwei Unternehmen haben dem Landtag neue Angebote gemacht – noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. So viel aber ist durchgesickert: Einer der Anbieter soll der derzeitige Betreiber selbst sein. Er soll angeboten haben, zentral gelegene Wohnungen für 100 Bewohner und eine Gemeinschaftsunterkunft für noch einmal so viele Menschen zur Verfügung stellen zu können. Am Donnerstag, den 3. März, will der Wittenberger Bauausschuss darüber entscheiden, ob eines der beiden Unternehmen den Zuschlag bekommt. Oder er wird beschließen: zu teuer, die Asylbewerber bleiben im Wald. „Wenn das passiert, machen wir richtig Lärm“, sagt Salomon Wantchoucou. „Ich würde das auch tun, wenn ich selbst meine Aufenthaltsgenehmigung hätte.“ Er mache das schließlich nicht nur für sich, „sondern für das Land, in dem ich lebe.“